Protocol of the Session on November 13, 2008

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Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 21. Sitzung im 8. Tagungsabschnitt des Niedersächsischen Landtages der 16. Wahlperiode.

Zunächst stelle ich die Beschlussfähigkeit fest.

Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden und erachten die Sitzung nicht für unterbrochen, wenn ich die Rede zum Thema „90 Jahre Frauenwahlrecht“ vom Rednerpult aus halten werde. Ich frage, ob ich deswegen eventuell einen Geschäftsordnungsantrag zu erwarten habe. - Das ist nicht der Fall. Herzlichen Dank.

(Vizepräsidentin Astrid Vockert begibt sich zum Redepult)

Rede von Vizepräsidentin Vockert zum Thema „90 Jahre Frauenwahlrecht“

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Sehr geehrte Frauen Ministerinnen! Meine Herren Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 90 Jahren sind Frauen in Deutschland wahlberechtigt. Dabei stellt sich mir die Frage: Ist der 90. Geburtstag des Frauenwahlrechts in Deutschland ein historisches, ein weit zurückliegendes und möglicherweise ein nicht mehr so bedeutungsvolles Ereignis, zumal die Erinnerungskultur an dieses Erinnerungsdatum leider eine untergeordnete Rolle einnimmt, wie es vorgestern Professorin Lemke deutlich sagte? - Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, beantworte ich die Frage deutlich mit einem Nein!

Wenn heute, zurückschauend auf damals, von Durchbruch, von großer Errungenschaft und von einem politischen Meilenstein gesprochen wird, dann geht doch ganz schnell ein zentraler Gedanke verloren: Dass Frauen überhaupt erst seit 90 Jahren das Wahlrecht ausüben dürfen, zeigt den eigentlichen Missstand. Auch 90 Jahre danach sollte betont werden: Das Recht der Frauen, zu wählen, ist nicht etwas Zusätzliches oder gar ein Zugeständnis. Es ist ein selbstverständliches Recht innerhalb der demokratischen Grundordnung, das viel zu lange verwehrt wurde.

(Beifall)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, bis zum Stimmrecht für Frauen war es ein langer und zum Teil auch ein sehr steiniger Weg. Als erster und wichtiger Schritt für den Kampf der Frauen um politische Teilhabe muss das Jahr 1908 erwähnt werden. Das neue Vereinsrecht gab den Frauen die Möglichkeit, in politischen Parteien Mitglied zu werden, und damit war der Weg für die Frauen in die Politik geebnet. Und, meine Damen und Herren, auch das ist erst 100 Jahre her.

Am 12. November 1918 war es endlich so weit. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs gab die Weimarer Nationalversammlung den Frauen erstmals das aktive und passive Wahlrecht. Dort hieß es:

„Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen und direkten allgemeinen Wahlrecht für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“

Diese Regelung wurde in ähnlichem Wortlaut zum Artikel in der Weimarer Reichsverfassung.

Am 19. Januar 1919 fand in Weimar die Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung statt. 300 Frauen kandidierten. 37 Frauen - insgesamt gab es 423 Abgeordnete - wurden schließlich gewählt. Dass dieses neue Recht gerade auch die Zeitgenossinnen als ein richtungweisendes Signal bewerteten, wurde an der einfach fantastischen Wahlbeteiligung deutlich.

Als zum ersten Mal eine Frau - es war Marie Juchacz - in einem deutschen Parlament sprach, sorgte dies nachweislich des Stenografischen Protokolls auf den Plenarbänken für „Heiterkeit“. Ich frage mich, was die 39 Jahre alte Marie Juchacz, eine überzeugte Sozialdemokratin, damals wohl gefühlt hat, als sie am Redepult stand, und was die Männer der Nationalversammlung wohl tatsächlich gedacht haben. Die Kernaussage von Frau Juchacz lautete wie folgt:

„Ich möchte hier festhalten, … dass wir deutsche Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“

In dieser Aussage, liebe Kolleginnen und Kollegen, steckt mit Sicherheit eine starke Portion von

weiblichem Stolz. Aber zum anderen traf Marie Juchacz den Nagel auf den Kopf; denn es wurde schlicht Unrecht beseitigt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine weitere Aussage von Frau Juchacz, gut zehn Jahre später im Reichstag, will ich hier auch zitieren:

„Das Frauenwahlrecht ist eine Folge gegenüber der früher völlig veränderten sozialen Lage der Frauen. Wer zweifelt heute daran, dass die Frauen in der Industrie, in Handel und Verkehr, als Staatsbeamte und Angestellte, in freien, künstlerischen und wissenschaftlichen Berufen eine wichtige Rolle spielen?“

Nach meinem Dafürhalten hat diese Aussage auch Jahrzehnte danach nichts, aber auch gar nichts an Brisanz und an Aktualität verloren. Fest steht doch, dass die Gleichberechtigung von Frauen und ihre volle Teilhabe an Politik und Gesellschaft Schritt für Schritt von unseren Vorstreiterinnen gemeinsam mit einigen Vorstreitern errungen oder abgerungen werden musste. Fest steht genauso - so sehe ich es -, dass wir das Ziel immer noch nicht erreicht haben. Darauf komme ich gleich noch einmal zurück.

An dieser Stelle möchte ich aber anmerken, dass die Nationalsozialisten gleich nach der Machtübernahme ihre Ideologie auch im Wahlrecht umgesetzt haben, indem sie das passive Wahlrecht für Frauen aufhoben. Frauen sollten in erster Linie Mütter sein und in Erfüllung der nationalsozialistischen Lehre für Nachwuchs sorgen. Demzufolge durften und konnten Frauen erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Parlamente gewählt werden.

Der Weg der Gleichbehandlung bis zur Verankerung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 mit dem Gleichheitssatz in Artikel 3 war ebenfalls ungemein steinig. Rita Süssmuth schrieb zum Thema „75 Jahre Frauenwahlrecht“:

„Die Männer haben alles andere als eifrig auf den neuen Artikel 3 des Grundgesetzes gewartet. Den haben aktive Frauen durchgesetzt!“

Ja, meine Damen und Herren, und so waren an der Ausarbeitung des Grundgesetzes vier Frauen maßgeblich beteiligt. Es waren Helene Wessel vom Zentrum, später SPD, Dr. Elisabeth Selbert von der SPD, Frieda Nadig von der SPD und

Dr. Helene Weber von der CDU. Der schlichte Satz des Artikels 3 des Grundgesetzes von 1949 lautete:

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.

Er machte den Weg frei für eine umfassende Gleichberechtigung, und erst dieser Grundgesetzartikel ermöglichte es, entgegenstehendes Recht anzupassen. Doch auch dieser Prozess der Umsetzung zog sich Jahrzehnte hin, und nach meinem Dafürhalten ist er immer noch nicht abgeschlossen.

Im Jahr 1958 tritt das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Kraft. 1958. Ich war zu dem Zeitpunkt zwei Jahre alt. Überlegen Sie einmal! Erst jetzt wurde das Alleinentscheidungsrecht des Mannes in Ehe- und Familienangelegenheiten gestrichen. Ich überlege mir, welche Auswirkungen das für meine Mutter hatte. Überlegen Sie das einmal in Bezug auf Ihr Persönlichkeitsbild! Das ist erst 50 Jahre her.

Zum Anteil der Frauen in den Parlamenten ist Folgendes festzuhalten:

Nach der ersten Bundestagswahl 1949 saßen 31 Frauen neben 378 Männern im Bundestag. Das waren gerade einmal 6,8 %. Im Bundestag kletterte der Frauenanteil im Jahre 1987 auf 15,4 %. Heute sitzen 197 Frauen neben 415 Männern auf den Bänken im Reichstagsgebäude; dies entspricht 31,6 %.

Die Repräsentanz der Frauen in den Länderparlamenten hatte gleiche Entwicklungsstadien wie im Deutschen Bundestag. In den ersten Wahlperioden des Niedersächsischen Landtages lag der Anteil der Frauen im Parlament zwischen 4 und 6 %. Erst ab der 11. Wahlperiode - die 11. Wahlperiode sagt einigen sicherlich nicht viel -, erst ab 1986 wurde die Schallmauer der Zehnprozenthürde durchbrochen. Heute teilen sich 47 Frauen mit 105 Männern die Plenarbänke. Für mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind das noch immer magere 30,9 %.

Was war bzw. ist mit weiteren Positionen für Frauen? - Im Jahre 1961 wird Elisabeth Schwarzhaupt von der CDU als erste Frau Ministerin in ein Bundeskabinett. Sie übernimmt die Führungsverantwortung für das Gesundheitswesen. Als erste Frau innerhalb der Niedersächsischen Landesregierung ist Maria Meyer-Sevenich von der SPD zu nennen, die 1965 das Ministerium für Bundesangelegenheiten, für Vertriebene und Flüchtlinge leitete. 1972

schaffte Annemarie Renger von der SPD mit Sicherheit einen historischen politischen Sprung, als sie zur ersten Bundestagspräsidenten gewählt wurde.

So will ich aber noch einige weitere Funktionen, die zu der klassischen Männerdomäne gehörten, benennen: 1982 wird Monika Wulf-Mathies Chefin der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr. 1992 wird Maria Jepsen in Hamburg zur Bischöfin der Nordelbischen Kirche gewählt. Und - auch das ist erst 15 Jahre her - da wurde Heide Simonis von der SPD in Kiel die erste Ministerpräsidentin eines Bundeslandes.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Und die Letzte zugleich!)

- Herr Jüttner, ich hoffe nicht, dass Sie mit Ihrem Zwischenruf recht haben werden.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Auch ich glaube es nicht!)

- Danke.

Meine Damen und Herren, ein herausragendes Ereignis aus der Geschichte des Frauenwahlrechts ist ganz sicher die Wahl von Angela Merkel im Jahre 2005 zur Bundeskanzlerin. Ich bin mir ganz sicher, dass die Herren Abgeordneten bei der Einführung des Frauenwahlrechts im Jahre 1918 dies für völlig unmöglich erachtet hätten. Für die Frauen im Parlament wäre dies damals eine absolute Utopie gewesen. Heute ist es für uns - um es mit den Worten von Marie Juchacz zu sagen - eine Selbstverständlichkeit. Eine Frau, Angela Merkel, leitet seit 2005 die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland. Klar! Selbstverständlich!

Schauen wir uns aber andere Bereiche und Gremien unserer Landespolitik an, dann müssen wir feststellen, dass in unglaublich vielen Bereichen noch eine traditionell männliche Ausrichtung stattfindet. Die Fraktionsführungen werden überwiegend von Männern dominiert. Im Bereich der Ausschuss- bzw. Kommissionsvorsitze übernehmen Frauen zwar politische Führungsverantwortung. Aber auch hier kann nicht von gleichberechtigter politischer Teilhabe gesprochen werden.

Meine Damen und Herren, „90 Jahre Frauenwahlrecht“ ist untrennbar mit dem Kampf der Frauen für mehr Gleichberechtigung und Chancengleichheit verbunden. Um ihre politische Gleichberechtigung, wie sie sich heute darstellt, zu erreichen, haben die Frauen Mut, Ausdauer und Fantasie gebraucht.

Festzustellen ist, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten unendlich viel getan hat.

Den Fortschritt, aber zugleich auch die gesellschaftspolitische Notwendigkeit im Bereich der formalen Gleichberechtigung von Frauen verdeutlicht ein Zitat von Jutta Limbach, der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes, aus dem Jahre 1994. Sie sagte:

„Im Gegensatz zu meiner Urgroßmutter darf ich wählen. Im Gegensatz zu meiner Großmutter durfte ich die Universität besuchen. Im Gegensatz zu meiner Mutter habe ich das Recht, erwerbstätig zu sein. Im Gegensatz zu mir hat meine Tochter das Recht, ihren Mädchennamen zu behalten, wenn sie heiratet.“

Schließlich hat der Verfassungsgeber im Jahre 1994 reagiert und den Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes um folgenden Satz ergänzt:

„Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wurde dem Gesetzgeber unmissverständlich ein Auftrag erteilt. Auch hier sehe ich - ich hoffe, Sie alle teilen meine Einschätzung - heute noch erheblichen Handlungsbedarf. Ich denke da an Stichworte wie „Frauen in Führungspositionen“; denn noch immer gelingt es Frauen nur selten, in Spitzenpositionen, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft „einzubrechen“. Ich denke an die Verdienstmöglichkeiten; denn Frauen haben zum Teil noch immer bei gleicher Arbeit geringere Einkommen als ihre männlichen Kollegen. Ich denke auch an die nach wie vor gegebene große Schwierigkeit bei dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wenngleich hier einiges getan wird, gerade aktuell.

Abschließend bleibt festzuhalten: In den vergangenen Jahrzehnten haben Frauen in der Politik erkennbar aufgeholt. Insbesondere in Parteien, Parlamenten und Regierungen konnten sie ihren Anteil gegenüber 1918 sowie ihre Akzeptanz spürbar steigern. Verantwortlich dafür sind zum einen sozialstrukturelle Veränderungen. Zum anderen - dies halte ich für ausgesprochen wichtig - ist aber auch ein Bewusstseinswandel, ein Wille zum Umdenken gegeben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade dieses gesamtgesellschaftliche Umdenken und damit verbunden ein neues Handeln - das, nur das kann Impulse setzen. Vor nur wenigen Jahren wäre es doch undenkbar gewesen, dass Männer Elternteilzeit beantragen und die Frauen voll „ihren Mann“ in ihrem Beruf stehen.

Fest steht, dass wir alle viel aus der Vergangenheit lernen können. Und wenn sich „Mann bzw. Frau“ mit den Zitaten und Aussagen verdienter weiblicher Abgeordneter beschäftigen und auseinandersetzen, können wir erkennen, wie zukunftsweisend bereits vor Jahrzehnten gedacht wurde. Viele Themen sind heute genauso aktuell wie früher. Ich habe einige Beispiele genannt. Seien wir ehrlich: Eine zukunftsorientierte, eine in die Zukunft ausgerichtete Politik wird nicht umhinkommen, noch bestehende Ungleichgewichte auszutarieren und für die tatsächlich gleichberechtigte Teilhabe einzutreten. Dabei, meine Damen und Herren, müssen wir alle an einem Strang ziehen: die Frauen miteinander, gemeinsam mit den Männern, und dann auch noch alle in die gleiche Richtung!