Protocol of the Session on May 12, 2009

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Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 36. Sitzung im 13. Tagungsabschnitt des Niedersächsischen Landtages der 16. Wahlperiode.

Den Beginn unserer heutigen Plenarsitzung bildet eine Feierstunde zum 60-jährigen Bestehen des Grundgesetzes.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Sehr geehrter Herr Präsident des Staatsgerichtshofs Professor Ipsen! Sehr geehrter Herr Präsident des Landesrechnungshofs Höptner! Sehr geehrter Herr Professor Schneider! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, aber auch sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! In elf Tagen wird unsere Verfassung, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 60 Jahre alt. Ich bin der Überzeugung, das ist auch für uns in Niedersachsen Anlass, die beste Verfassung der deutschen Geschichte zu feiern, im Übrigen einer Verfassung, die auch international vielfach zum Vorbild für junge und neue Demokratien geworden ist. Es entspricht einem guten Brauch meiner Amtsvorgänger, dieses gesamtstaatliche Jubiläum auch hier im Niedersächsischen Landtag mit einer Feierstunde zu begleiten. Besonders begrüßen möchte ich dazu Herrn Professor Hans-Peter Schneider. Er hat die Vorgeschichte unseres Grundgesetzes wohl am gründlichsten erforscht. Er ist bereit, uns daraus heute etwas vorzutragen, und will dabei besonders darauf eingehen, welche Beiträge zur Verfassungsentstehung von Niedersachsen aus geleistet worden sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei diesem Jubiläum denkt man unwillkürlich auch an einen 60. Geburtstag. Der Versuchung, einige Bezüge zu diesem im Menschen- und Berufsleben wichtigen Datum herzustellen, möchte ich hier aber widerstehen. Das gilt auch für den Hinweis, dass das Grundgesetz nun schon seit mehr als 18 Jahren für ganz Deutschland gilt.

Das Bild vom Geburtstag scheint mir aber deshalb passend zu sein, weil es die Lebendigkeit unseres Grundgesetzes ausdrückt. Dass es sich dabei um eine lebendige Verfassung handelt, lässt schon der Blick auf die mittlerweile 54 beschlossenen Grundgesetzänderungen vermuten. Viele Stationen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland lassen sich darin wiederfinden, angefangen von der Gründung der Bundeswehr über die Notstandsverfassung bis hin zur Finanzverfassung.

Einige inzwischen deutlich verlängerte Grundrechtsartikel spiegeln neuartige Gefährdungslagen wider. Die Meilensteine der deutschen Wiedervereinigung und des europäischen Einigungsprozesses haben den Grundgesetztext ebenso mitgeprägt wie die noch andauernde Diskussion um die Aufgaben- und Finanzverteilung in unserem föderalen Staatswesen.

Die Lebendigkeit der Verfassung zeigt sich auch darin, wie oft verfassungsrechtliche Überlegungen die politische Diskussion mitbestimmen. Für unsere Bürgerinnen und Bürger prägen die Grundrechte das alltägliche Rechtsleben; gerade diesen Teil der Verfassung hat das Bundesverfassungsgericht kräftig entfaltet und hebt ihn fortgesetzt neu ins Bewusstsein. Seine verfassungsrechtliche Prüfungskompetenz behauptet das Bundesverfassungsgericht auch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber. Dabei bildet die Menschenwürde in Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes den entscheidenden Maßstab:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Wie bewährt sich diese elementare Garantie in Zeiten, in denen nicht nur der einzelne Mensch vor staatlichen Eingriffen geschützt werden muss, in denen vielmehr auch die Gemeinschaft aller Staatsbürger, ja der Staat selbst, Schutz vor neuartigen Bedrohungslagen sucht? Dieses Spannungsverhältnis ist nur schwer aufzulösen: Einerseits muss der Staat selbst die Würde jedes Menschen achten und darf sie nicht antasten. Andererseits muss er sie aber auch vor Verletzungen durch andere schützen. Dies scheint manchmal nur möglich zu sein, indem die Würde Einzelner beeinträchtigt wird.

Aktuelle Diskussionen auch auf verfassungspolitischer Ebene zeigen diesen grundlegenden Konflikt um die Grenzen unserer Rechtsordnung. Das Bundesverfassungsgericht hält hier unbeirrt daran

fest, dass auch ein guter Zweck nicht jedes eingesetzte Mittel heiligt. Der Schutz der Menschenwürde und des Lebens der einen Person darf nicht durch die Verletzung des Lebens und der Menschenwürde einer anderen Person erreicht werden. Letztlich kann sich nur ein Staat, der diese Grenze für sich anerkennt, als Rechtsstaat behaupten und die Achtung seiner Bürger beanspruchen.

Bereits seit einigen Jahren nimmt nicht nur hier in Niedersachsen, sondern bundesweit das Bewusstsein dafür zu, dass auch unsere Haushalts- und Finanzwirtschaft noch stärker vom Grundsatz der Nachhaltigkeit bestimmt werden muss. Diese Einsicht spiegelt sich in dem jetzt erzielten Kompromiss der zweiten Föderalismusreform wider. Die Einführung neuer Verschuldungsregeln erinnert aber auch an die Fassung eines guten Vorsatzes. Die haushaltswirtschaftliche Arbeit dafür steht erst noch bevor, und sie wird durch die jüngste Wirtschaftsentwicklung sicherlich nicht leichter.

Zu guter Letzt wäre auch über die Nachhaltigkeit der zahlreichen Verfassungsänderungen nachzudenken, die das Grundgesetz in den 60 Jahren seines Bestehens erlebt hat. Der letzte größere Schritt ist die erste Stufe der Föderalismusreform gewesen. Die längere Diskussion um die Stärkung der Bundesländer im föderalistischen System hat dort zu einigen Kompetenzverlagerungen auf die Länder geführt, aber sie nicht wirklich stärken können, weil die finanziellen Grundlagen des Föderalismus dabei ausgespart worden sind. Unsere ersten praktischen Erfahrungen mit den neu gewonnenen Kompetenzen lassen schon die Frage aufkommen, nach welchen Gesichtspunkten sich der Bund eigentlich dieser Sachgebiete entledigt hat. Die dadurch auf die Landtage zukommenden umfangreichen Gesetzgebungsaufgaben erfordern auch ein Nachdenken über nachhaltige Gesetzgebungsstrukturen - hier im Landtag, aber eben auch bei der Landesregierung, die ja die wesentlichen Vorarbeiten für die Gesetzgebung zu erarbeiten und abzustimmen hat.

Aktuell ist die Frage gestellt worden, ob unser Grundgesetz eine „richtige Verfassung“ ist und ob es die dafür nötige Legitimation bekommen hat. Auch dabei hilft das Bild von der lebendigen Verfassung weiter: Eine Verfassung „lebt“ nicht nur von dem einmaligen Inkraftsetzungsakt, sondern von ihrer ständigen Beachtung und Anwendung und nicht zuletzt von der anhaltenden, wenn auch oft stillschweigenden Zustimmung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Mein Eindruck ist, dass wir mit

dem Grundgesetz eine solche lebendige und zukunftsfeste Verfassung haben.

Demokratie mit Rechten und Pflichten ist auch in unserer Zeit nichts „Selbstverständliches“. Sie muss von den Bürgern gelebt werden. Demokratie fordert die Achtung des Mehrheitswillens - darf sich aber nicht darauf beschränken. Winston Churchill hat einmal davon gesprochen, dass die Demokratie vielleicht nicht die ideale Staatsform sei, dass sie aber unter allen Staatsformen noch immer die Beste sei.

Auch wir Niedersachsen sind aufgerufen, das Grundgesetz neben unserer Verfassung auch in Zukunft als Garant und Grundlage unserer bestehenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu achten und gegen Anfeindungen zu verteidigen. Und gerade wir Niedersachsen wollen auch nicht vergessen, dass das Grundgesetz eine wesentliche Grundlage war, unserer über Jahrzehnte geteilten Nation wieder zur Einheit, zur Wiedervereinigung zu verhelfen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und bitte nun den Herrn Ministerpräsidenten um seinen Redebeitrag.

(Beifall)

Sehr geehrte Herren Präsidenten Dinkla, Professor Ipsen und Höptner! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Sehr verehrte Damen und Herren! Tatsächlich ist heute ganz gewiss ein Tag der Dankbarkeit, aber auch der Verantwortung gegenüber all den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes. Das gilt sowohl für die Legislative als auch für die Exekutive, vor allem aber für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.

Das Grundgesetz hat in den letzten 60 Jahren eine historisch beispiellose Epoche der Freiheit, des Friedens und des Wohlstandes ermöglicht. Ohne dieses unser Grundgesetz vom 23. Mai 1949 wären die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Erfolge der vergangenen 60 Jahre gewiss nicht möglich gewesen. Vor allem das ist ein Grund, an diesem Tag dankbar zu sein; denn das Grundgesetz ist eine demokratische Erfolgsgeschichte.

Die Verfassung, die am 8. Mai 1949 verabschiedet und am 23. Mai 1949 verkündet wurde, beanspruchte von Anfang an Geltung für alle Deutschen. Dieser Anspruch war aber leider lange nicht erfüllbar. Spätestens mit der Gründung der DDR

am 7. Oktober des Jahres 1949 ging mitten in unserem Land, mitten in Europa, der Eiserne Vorhang nieder, und Niedersachsen hatte über rund vier Jahrzehnte den längsten Teil der innerdeutschen Grenze. So gehört es eben auch zur glücklichen Fügung der Geschichte, dass das Grundgesetz nun seit fast 20 Jahren für das ganze, das wiedervereinigte Deutschland gilt. Der heutige Tag ist eben auch Auftakt für eine Serie von Jubiläumsfeiern: „20 Jahre Mauerfall“ im November und „20 Jahre Wiedervereinigung“ im nächsten Jahr.

Wir Deutschen hatten und haben einen recht langen Weg zu dieser Demokratie zurückgelegt. Die Paulskirchenverfassung von 1848 war zwar die erste demokratisch beschlossene Verfassung mit verbrieften Grundrechten in Deutschland, sie trat allerdings niemals in Kraft. Die Weimarer Verfassung von 1919 legte den Grundstein für ein demokratisches republikanisches System. Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, ist erstmals in ihr verankert worden. Ihr war aber nur ein sehr kurzer Erfolg beschieden. Das Grundgesetz von 1949 ist deshalb auch als ein wehrhaftes Grundgesetz formuliert. Es entstand unter dem Eindruck der Katastrophe des Nationalsozialismus, der furchtbaren Verbrechen des Krieges und des Holocausts. Viele der Mütter und der Väter des Grundgesetzes hatten den verbrecherischen Furor des Naziregimes am eigenen Leib erlebt: Repression, Berufsverbot, Exil, Verfolgung, Gefangenschaft. Sie hatten auch erlebt, wie es zur Katastrophe der Machtergreifung gekommen war: durch das Scheitern der ersten parlamentarischen Demokratie auf deutschem Boden.

Besonders erfreulich ist, dass das Grundgesetz der Gegenentwurf ist zu einem radikalen, zu einem extremistischen Regime und dessen Parolen „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“. Im Grundgesetz rangiert der Einzelne vor dem Staat. Der Staat ist um des Menschen willen - nur um des Menschen willen! - da, nicht umgekehrt. Wir dürfen heute feststellen, dass sich das Grundgesetz in den vergangenen 60 Jahren bei aller notwendigen und kritischen Debatte über einzelne Artikel glänzend bewährt hat.

Die freiheitlichen, die demokratischen, die republikanischen Prinzipien unserer Verfassung haben zu einem festen, verbindenden gesellschaftlichen Konsens geführt. Das Grundgesetz hat uns Deutschen eine neue, eine gemeinsame Identität verliehen und unser Zusammenleben, im Übrigen auch mit unseren Nachbarn und anderen Völkern, positiv geprägt.

Das Staatswesen funktioniert. Das lässt aber Diskussionen über Dinge, die uns nicht angemessen oder richtig oder gut geregelt erscheinen, ausdrücklich zu. Das Grundgesetz - darauf hat auch der Präsident des Parlaments hingewiesen - ist Veränderungen seit Jahrzehnten zugänglich. Wir erleben eine Debatte, ob es eine gesamtdeutsche Verfassung ist, von allen gewollt, für alle gedacht. Ich finde es erfreulich, dass eine aktuelle Umfrage belegt: Die Deutschen in West und Ost sind mit ihrer Verfassung sehr zufrieden. Auch zwei Drittel aller Ostdeutschen sind stolz auf das Grundgesetz. West- wie Ostdeutsche halten die Bundesrepublik für eine Erfolgsgeschichte. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, wie sie das Grundgesetz garantiert, haben breite Unterstützung im Osten wie im Westen Deutschlands. Mit 86 % sind es sogar mehr Ost- als Westdeutsche, die sagen, sie liebten ihr Land. 89 % aller Deutschen meinen, es lohne sich, unsere demokratische Verfassung, unser bewährtes Grundgesetz zu verteidigen. Das sind doch wirklich Mut machende Befunde.

Wir erleben Debatten um das Haushalten mit dem aktuell zur Verfügung stehenden Geld. In den nächsten Wochen steht ein Beschluss über eine Änderung des Grundgesetzes in der zweiten Stufe der Föderalismusreform an, bei der die Finanzverfassung im Mittelpunkt steht, die Begrenzung, die Verhinderung von Neuverschuldung in der Zukunft. Ich meine, das Ziel ist richtig. Wir werden auch hierüber weiter zu sprechen und zu streiten haben. Aber der Weg ist gewiss, wie es der Präsident des Deutschen Bundestages gesagt hat, wenig ästhetisch. Uns sind allerdings auch immer komplexere Sachverhalte anvertraut. Trotzdem täte es gut, man würde auf die allgemeinverständlichen und klaren Formulierungen der Verfassungsmütter und -väter häufiger zurückgreifen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Oder: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Das sind Sätze, die an Klarheit und Verständlichkeit nicht zu überbieten sind. Diese Klarheit und Verständlichkeit sollten auch häufiger in Zukunft bei Änderungen des Grundgesetzes ganz gewiss maßgebend sein.

Wir diskutieren auch in Deutschland über die Sinnhaftigkeit von 16 Ländern in dieser unterschiedlichen Ausgestaltung und Größe. Ich finde, es ist unstreitig, dass die derzeitige Struktur unserer 16 Bundesländer, die enorme Unterschiede bei Einwohnerzahl und Größe aufweisen, nicht die optimale ist. Gerade kleine Bundesländer fürchten aber Neugliederungen. Wir als Niedersachsen können gewissermaßen Mut machen, weil wir aus

einer Neugliederung hervorgegangen sind. Aufbauend auf den gewachsenen Traditionen der Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe wurde ein Bundesland geschaffen, das heute eine gemeinsame Identität erreicht hat und bei seiner Flächengröße und Einwohnerstärke eben auch Voraussetzungen für eine effiziente Staatsverwaltung hat. Es sollte aus meiner Sicht zukünftig zumindest erleichtert werden, zu freiwilligen Länderneugliederungen zu kommen.

Wir diskutieren hier im Landtag in beeindruckender Intensität über die Erweiterung unserer Verfassung, die sich am Grundgesetz orientiert, die Rechte von Kindern stärker in den Blick zu nehmen. Es ist doch ermutigend, wenn jetzt ein Antrag der Fraktionen der SPD, CDU, FDP und Grünen vorliegt, mit dem die spezifischen Rechte der Kinder als bewusste Ergänzung zu den Artikeln 1 bis 6 des Grundgesetzes festgeschrieben werden soll, um eben gewaltfreie Erziehung und das Recht darauf für Kinder zu sichern und den Erziehungsberechtigten angemessene staatliche Unterstützung zu sichern. So nehmen auch eigenstaatliche Bundesländer Aufgaben und Verantwortung für unsere Verfassung wahr, weil die Freiheitsrechte und die sozialen Schutzrechte in den Bundesländern ausgebaut werden, um auf diese Weise auch einen Impuls für das Grundgesetz zu liefern - in einem gewissermaßen positiv verstandenen Wettbewerb der Bundesländer.

Am Ende eines solchen Prozesses kann durchaus stehen, dass auf dieser Basis auch Neuformulierungen für das Grundgesetz selbst geliefert werden. Die aktuellen Debatten sind jedenfalls Beleg für eine lebendige Demokratie und ein großes Maß politischer Gemeinsamkeiten.

Wir diskutieren Änderungen des Wahlrechts, um Bürgerinnen und Bürgern mehr Einfluss zu geben, welche Kandidaten auf den Wahllisten ein Mandat erhalten. Wir diskutieren über demokratische Transparenz und Verantwortlichkeit. Nach wie vor kann uns nicht befriedigen, dass nur noch Spezialisten wissen, wo die Zuständigkeit liegt: bei der EU in Brüssel, beim Deutschen Bundestag, bei den Gemeinden oder bei den Ländern. Die Folgekosten politischer Entscheidungen sind schwer zu durchschauen, wie und von wem sie aufzubringen und zu finanzieren sind.

Ich glaube, wir sollten uns insgesamt bei einem solchen Feiertag, in einem solchen Feiermonat klar machen, dass wir viel intensiver als bisher unterstellen müssen, dass nicht alle im Land so be

geistert sind wie wir vom Parlamentarismus, von der parlamentarischen Demokratie und von Politik, und dass wir uns deswegen stets fragen müssen: Sind die Dinge, die wir hier besprechen, für jedermann verständlich? Wie geht es den Besucherinnen und Besuchern, die zu uns kommen, um uns bei den Debatten zuzuhören? Werden wir in den häufig lautstarken Diskussionen dem Wählerauftrag gerecht? Wirkt unser Parlament geradezu ansteckend, in dieses Parlament gelangen zu wollen, zuschauen zu wollen, wiederkommen zu wollen, mitmachen zu wollen?

Ich bin insgesamt dankbar dafür, dass wir hier im Niedersächsischen Landtag einen Weg des konstruktiven Debattenstils gefunden haben. Wir Parlamentarier haben uns alle dem Ringen um den besten Weg, um die besten Lösungen für unser Land verschrieben. Wir haben Freude an der politischen und argumentativen Auseinandersetzung statt an der Verunglimpfung. Das sollten wir so beibehalten und ausbauen, weil es, glaube ich, eine Anforderung vieler Bürgerinnen und Bürger an unsere Arbeit hier zwischen Regierung und Parlament und im Parlament tatsächlich ist.

Nun sind wir natürlich gespannt auf unseren Festredner, Herrn Professor Dr. Hans-Peter Schneider, weil er Direktor des Deutschen Föderalismusinstituts ist, das hier in Hannover an der Leibniz Universität beheimatet ist. Wir sind natürlich deswegen gespannt, weil wir bei Ihnen mit Sicherheit erfahren werden, was wir so in der Form über den Beitrag der Niedersachsen zu diesem Grundgesetz nicht gewusst haben. Wir freuen uns auf Ihren Vortrag, auch wenn, wie ich dem Programm entnommen habe, das Finale von Ludwig van Beethoven bereits vorher gespielt wird, um dann dem Festvortrag die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ich glaube, dass der Konsens in der Bevölkerung über unser Grundgesetz, die Zufriedenheit in dem Grundgesetz etwas sehr Ermutigendes sind und dass wir dafür dankbar sein sollten in Verantwortung vor denen, die dieses Grundgesetz derart gestaltet, formuliert und beschlossen haben.

Vielen Dank.

(Beifall)

(Musik von Ludwig van Beethoven: Streichquartett op. 18 Nr. 2 Finale)

Professor Dr. Dr. Hans-Peter Schneider, Direktor des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung e. V.:

Sehr verehrter Herr Landtagspräsident! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Sehr geehrter Herr Präsident des Staatsgerichtshofs, lieber Herr Kollege Ipsen! Sehr geehrter Herr Präsident des Landesrechnungshofs, Herr Höptner! Sehr geehrte Mitglieder des Hohen Hauses! Sehr geehrte Ministerinnen und Minister! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland wird 60 Jahre alt. Doch ihre Verfassung, das Grundgesetz, dessen Jubiläum wird heute in diesem Hohen Hause feiern, hat zwar Geburtstag, aber keine Geburtsstunde. Denn es ist in mehreren Phasen und Etappen entstanden und hat nicht nur die berühmten Mütter und Väter, von denen schon die Rede war, sondern auch Adoptiveltern in Gestalt der Besatzungsmächte und vor allem Paten, die das Heranwachsen ihres Zöglings permanent begleitet haben: die Ministerpräsidenten der damaligen elf Länder.

Den Anstoß gab eine Initiative der drei westlichen Militärgouverneure. Sie überreichten den Ministerpräsidenten am 1. Juli 1948 die sogenannten Frankfurter Dokumente mit der Aufforderung, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen und sie mit der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung föderalistischen Typs zu beauftragen.

Obwohl sich einige von ihnen, darunter auch Hinrich-Wilhelm Kopf, gegen die Gründung eines „Weststaats“ ausgesprochen hatten, zögerten die Ministerpräsidenten nicht lange, nahmen auf der sogenannten Rittersturzkonferenz in Koblenz die Zügel in die Hand und setzten einen aus hohen Beamten bestehenden Verfassungskonvent ein, der in, sage und schreibe, nur 14 Tagen, nämlich vom 10. bis zum 23. August 1948, eine Art Regierungsvorlage erstellte, die als „Herrenchiemseer Entwurf“, benannt nach der Herreninsel im Chiemsee, wo der Konvent tagte, den zeitgleich von den Landesparlamenten gewählten Mitgliedern eines sogenannten Parlamentarischen Rates als Arbeitsgrundlage dienen sollte. Niedersachsen war im Verfassungskonvent durch Dr. Justus Danckwerts, Ministerialrat in der Niedersächsischen Staatskanzlei, und seinen Mitarbeiter Dr. Ulrich Jäger vertreten.

Die Hauptphase der Verfassunggebung begann mit der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 im Bonner Museum König - unter anderen war übrigens auch

Celle als Tagungsort vorgeschlagen worden; man überlege, was dann daraus geworden wäre - und endete nach achteinhalb Monaten am 8. Mai 1949 auf der 10. Sitzung des Plenums mit der Verabschiedung des Grundgesetzes in den Räumen der Pädagogischen Akademie, die später Jahrzehnte lang Sitz des Deutschen Bundestages war.

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren von den Landesparlamenten nach Fraktionsproporz gewählt worden. Der Niedersächsische Landtag entsandte für die CDU Heinrich Rönneburg, später ersetzt durch Dr. Werner Hofmeister, und Ernst Wirmer, für die SPD Dr. Georg Diederichs, Dr. Heinrich Greve und Dr. Elisabeth Selbert, die zugewählt worden war, obwohl sie hessische Abgeordnete gewesen ist. Hessen hatte aber sein Kontingent bereits erschöpft, und Schumacher hatte sich damals dafür eingesetzt, dass der Niedersächsische Landtag Frau Dr. Selbert aus Hessen wählt, was er auch tat. Schließlich entsandte Niedersachsen für die SPD noch Hans Wunderlich und für die damals noch existierende und in Niedersachsen besonders starke Deutsche Partei, die DP, Wilhelm Heile und Dr. Hans-Christoph Seebohm sowie für die FDP Dr. Hermann Rudolf Schäfer. Wie ich später noch zeigen werde, war dies für einzelne Streitfragen im Parlamentarischen Rat eine geradezu ideale Besetzung, weil insoweit beim Austausch der Argumente für oder gegen bestimmte Positionen die Niedersachsen gleichsam unter sich waren, d. h. die gesamte politische Bandbreite des Parlamentarischen Rates abbildeten. Anders ausgedrückt: Die Niedersachsen hätten das Grundgesetz eigentlich auch allein machen können.

Meist wird als letzter Akt im „Geburtsdrama“ der neuen Verfassung der 23. Mai 1949 genannt, an dem das Grundgesetz in Kraft getreten ist. Wichtiger noch als dieser Zeitpunkt und aus damaliger Sicht vermutlich sogar bedeutsamer als der Termin seiner Verabschiedung im Parlamentarischen Rat - 8. Mai - war jedoch ein anderes, weniger bekanntes Datum, das sich exakt heute zum 60. Mal jährt: der 12. Mai 1949. An diesem Tag versammelten sich nämlich die Ministerpräsidenten gemeinsam mit einer Delegation des Parlamentarischen Rates wiederum im Frankfurter IG-Farben-Haus, wo sie vor Jahresfrist bereits die Frankfurter Dokumente entgegengenommen hatten, um nunmehr für das vollendete Verfassungswerk den Segen der Besatzungsmächte zu empfangen.

Denn das zu schaffende Grundgesetz stand ja von vornherein unter alliiertem Genehmigungsvorbe

halt. Nach kurzer Begrüßung erklärte der britische General Robertson als Vorsitzender der Konferenz der Militärgouverneure - ich zitiere -: