Ich komme zu meinem Schlusssatz, Herr Präsident. - Nur so können wir die individuellen Förderung aller Fähigkeiten und die optimale Entwicklung aller Kinder gewährleisten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer großen Regionalzeitung hieß es vor ein paar Tagen unter der Überschrift „PISA und der Weihnachtsmann“: Der PISA-Schock macht Brettspiele zum Renner im Weihnachtsgeschäft. - Diese an sich positive Nachricht hat einen negativen Beigeschmack, denn aus einer im Zusammenhang mit PISA erarbeiteten OECD-Studie geht hervor - so ist es in der Zeitung nachzulesen -, dass gerade einmal 10 % der Kinder davon berichten konnten, dass ihre Eltern mit ihnen spielten. Nicht in erster Linie aus Gründen mangelnder Zeit - heißt es weiter -, sondern weil Eltern handfeste Kommunikationsprobleme mit ihrem Nachwuchs haben.
So viel, liebe Kolleginnen und Kollegen, vorweg, um anzudeuten, wie groß die Baustelle Schule mittlerweile geworden ist.
Es ist erfreulich, wenn auch kein Grund für Luftsprünge, dass sich die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler laut PISA II leicht verbessert haben, wenn auch signifikant nur in den naturwissenschaftlichen und mathematischen Fachgebieten. Diese Verbesserungen sind zum Teil auf die Initiativen seit PISA I zurückzuführen. Zu nennen sind - die Ministerin hat es bereits getan - stichwortartig die Einführung von Bildungsstandards, das integrative Sprachförderkonzept, der Schul-TÜV und Lehrpläne für schwache und starke Schülerinnen und Schüler. Dies alles sind auch unserer Meinung nach Schritte in die richtige Richtung. Aus Sicht des SSW sollte aber weiterhin vor Testeritis gewarnt werden. Wir können uns nicht aus unseren Bildungsproblemen heraustesten. Tests können lediglich den vorhandenen Bildungsstandard belegen, Tests führen nicht zu einer besseren Schule. So viel auch noch einmal zum CDUAntrag.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass in keinem anderen OECD-Land die PISA-Debatte so emotional geführt wird wie in der Bundesrepublik. Daran hat sich seit 2000 nichts geändert. Das liegt zum einen natürlich an den immer noch mittelmäßigen Ergebnissen der PISA-Studie, zum anderen hängt es aber auch damit zusammen, dass schulpolitische Debatten eher selten unter der Überschrift Schule, sondern eher unter der
Überschrift Politik geführt werden, soll heißen, würden die Schule und die Weiterentwicklung von Schule im Mittelpunkt der Debatte stehen, wäre es auch möglich, politische Beschlüsse im Konsens zu fassen. Es mag sein, dass es darüber hinaus sogar möglich wäre, eine Debatte ohne Tunnelblick zu führen. Stattdessen wird immer noch versucht, das Ergebnis auch der zweiten PISA-Studie allein als die Folge von inhaltlichen Mängeln unseres Schulwesens hinzustellen. Der OECD-Experte Schleicher betont, dass man die notwendigen Reformen zwar nicht auf die Frage der Schulstruktur reduzieren kann, dass die Probleme aber auch nicht allein mit einer Binnenoptimierung im deutschen Bildungssystem gelöst werden können. Schon 2000 sagte er:
„Nie zuvor hat Bildung denen, die gut qualifiziert sind, derartig viele Chancen eröffnet. Die Kehrseite ist aber, dass unzureichende Bildungsinvestitionen sinkende Lebensqualität bedeuten, sowohl für den Einzelnen als auch für Nationen. Mangelnde Bildung wird zudem die Möglichkeiten junger Menschen, sich in unserer Gesellschaft zu engagieren, zunehmend begrenzen.“
Daran hat sich bis heute nichts geändert, denn auch die neue PISA-Studie dokumentiert schwarz auf weiß, dass der schulische Erfolg von Kindern und Jugendlichen in kaum einem anderen OECD-Land so sehr durch das soziale Erbe bestimmt ist wie in Deutschland. Wenn es um Bildungsinvestitionen geht, dann müssen wir uns natürlich mit allen Faktoren, die Schule betreffen, auseinander setzen. Wir müssen uns - ich habe es mehrfach gesagt und ich bleibe dabei - in solchen Diskussionen auch damit beschäftigen, wie wir Ressourcen umverteilen können, wie wir Ressourcen freischaufeln können. Wir können uns aus dieser Bildungsmisere nicht heraussparen. Wir müssen neu investieren und wir müssen umschichten. Dazu gehört natürlich auch die Frage nach der Struktur unseres Bildungswesens.
Richtig ist natürlich, dass grundlegende Reformen im Bildungswesen mindestens zehn Jahre benötigen, um bei 15-Jährigen anzukommen, dass Strukturänderungen nicht allein per Knopfdruck umgesetzt werden können. Daher begrüßt der SSW, dass SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN endlich erkannt haben, dass wir keinen echten Paradigmenwechsel in der Schuldebatte bekommen, wenn die Schulstrukturfrage weiterhin tabuisiert wird. Wir bleiben aber dabei, dass es möglich gewesen wäre, schon jetzt die
Weichen zu stellen. Die Einführung einer sechsjährigen Grundschule wäre ein richtiger Schritt gewesen.
Interessant ist - ich füge das in Klammern hinzu -, dass es in dem von so vielen gelobten Finnland laut Rainer Domisch, deutscher Auslandslehrer in Finnland und Gastredner auf einer Tagung der GEW in Berlin, lediglich von 1972 bis 1977 gedauert hat, bis dort das integrative Schulsystem umgesetzt war. Hinzu kommt - auch das sagt er -, dass diese Änderung in einer wirtschaftlich schlechten Zeit in Angriff genommen wurde. Mit anderen Worten, von Finnland lernen heißt auch zu begreifen, dass Strukturänderungen keinen Wert an sich haben. Sie sind notwendig, weil Ziele, auch Bildungsziele, nur zu erreichen sind, wenn alle Faktoren einbezogen werden. Ich will nicht wieder das blöde Bild vom Kopf benutzen, aber das ist es, worum es geht.
Das heißt, angesichts der wachsenden Anforderungen in der Berufsbildung und bei der Lebensgestaltung in einer sehr komplexen Welt sollte es uns nicht gleichgültig sein, dass Jahr für Jahr so viele Jugendliche mit schlechten Chancen in ihr Erwerbsleben starten, ohne Beruf, ohne Job, ohne eigenes Einkommen. Dass dies alles insbesondere eine Schulart trifft und betrifft, nämlich die Hauptschule, das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Skandal.
Der SSW will bekanntlich eine ungeteilte Schule nach skandinavischem Vorbild, in der die Kinder von der ersten bis zur neunten beziehungsweise zehnten Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Wir wollen - ich wiederhole das gern -, dass der Unterricht differenziert, statt dass die Schüler schon nach der vierten Klasse sortiert werden. Eine ungeteilte Schule ist nicht ohne weiteres eine gute Schule, sie ist aber ein starkes Fundament für die inhaltliche Weiterentwicklung von Schule. Wenn nicht die Schulart oder der Schulart bezogene Unterricht in den Mittelpunkt gestellt wird, sondern allein die Belange der einzelnen Schülerinnen und Schüler, wird dies auch zu einem Perspektivenwechsel in der Bildungspolitik führen. Dann wird die Devise nicht mehr lauten, dieses Kind oder dieser Jugendliche passt nicht in diese Klasse, sie wird vielmehr lauten: Was kann ich für diesen Schüler oder diese Schülerin tun, damit er oder sie die erforderlichen Kompetenzen erwirbt? Es kann doch nicht so argumentiert werden, heute im 21. Jahrhundert, dass wir sagen, wir haben drei Schularten. Die Hauptschule, das ist die Schule für den Handwerker, die Realschule, das ist die Schule für den Bankkaufmann, und das Gymnasium, das ist
Welche erforderlichen Kompetenzen können wir den Kindern mit auf den Weg geben? Das ist die zentrale Frage auch in der PISA-Diskussion nördlich der Grenze.
Lieber Kollege Klug, ich hoffe, Sie nehmen mir ab, dass ich diejenige in diesem Saal bin, die sich am besten im dänischen Schulsystem auskennt.
- Das glaube ich nicht, lieber Kollege, denn im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich sogar die Sprache und kann sie auch lesen.
Natürlich ist man nicht mit den von dänischen Schülerinnen und Schülern erzielten Ergebnissen zufrieden. Dass sie gern zur Schule gehen und hinsichtlich ihrer sozialen Kompetenz in der OECD-Studie einen zweiten Platz belegt haben, ist parteiübergreifend positiv zur Kenntnis genommen worden. Aus einer anderen Studie weiß man zum Beispiel auch, dass 80 % der Eltern mit der Schule ihrer Kinder sehr zufrieden sind. Man weiß aus einer Analyse aus dem Sommer dieses Jahres, als die dänische Lehrergewerkschaft Topmanager gefragt hat, wie sie mit den Leistungen der Schülerinnen und Schüler zufrieden waren: drei von vier haben gesagt, sie seien mit den schulischen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen zufrieden. Ich finde, das ist bemerkenswert. Bemerkenswert ist die Unterstützung und bemerkenswert ist, dass auch die Wirtschaft hinter diesem Schulsystem steht. Keiner will nördlich der Grenze das gegliederte Schulsystem wieder einführen, das man im Laufe der 60er-Jahre abgeschafft hat.
Im Mittelpunkt der Debatte dort steht somit die Frage, wie die zielgenaue Forderung von schulischen Leistungen mit dem übergeordneten Ziel von Schule - so steht es auch in der Präambel des Schulgesetzes zu lesen -, nämlich dem Erlernen demokratischer Beteiligungsrechte, in Einklang zu bringen ist.
Die dänischen Schüler sind laut OECD auch die Schüler, die am besten wissen, wie Demokratie gelebt werden kann. Ich verrate daher auch kein Geheimnis. wenn ich zum Schluss noch einmal ganz kurz hervorhebe, dass der SSW aus all diesen Gründen den vorliegenden CDU-Antrag nicht unterstützen kann. Den
ersten Punkt könnten wir noch mit tragen. Aber wir sind nicht für eine Zementierung des gegliederten Schulwesens zu haben. Ich kann Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU, nur zurufen: Passen Sie auf, dass Sie in Ihrem bildungspolitischen Beton nicht stecken bleiben!
Nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung erteile ich Herrn Abgeordneten Wagner das Wort zu einem Kurzbeitrag.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe dieser Debatte sehr aufmerksam gelauscht. Sie macht irgendwo ein bisschen wütend und deswegen habe ich mich noch einmal zu Wort gemeldet. Frau Kultusministerin, niemand in meiner Partei hätte Ihnen nach dem Ergebnis der PISA-Studie einen Vorwurf gemacht, weil auch wir wissen, dass man innerhalb von ein paar Jahren keine wesentlichen Änderungen herbeiführen kann. Wütend macht aber die Konsequenz, die Sie aus dieser PISA-Studie ziehen.
(Karl-Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann haben Sie Ihre eigene Pressemitteilung nicht gelesen! Da staune ich aber!)
- Bleiben Sie einmal ganz ruhig, Herr Kollege, und lassen Sie mich bitte ausreden! - Das einzige, was Ihnen dazu einfällt, ist eine Änderung des Schulsystems. Das Schulsystem soll an allen Dingen schuld sein. Was Sie nicht tun und was ich von der Regierungskoalition nicht gehört habe, ist, über die Inhalte zu diskutieren. Kann es vielleicht auch an den Lehrplänen liegen? Kann es vielleicht auch an der Lehrerversorgung liegen? Dazu habe ich hier nichts gehört.
Ich begreife eines nicht, Frau Erdsiek-Rave, und das haben Sie mir auch nicht erklären können: In jeder Klasse gibt es logischerweise gute und schlechte Schülerinnen und Schüler. Ein guter Schüler auf dem Gymnasium sagt sich: Wir müssen uns immer nach dem schlechtesten richten. Herr Hay, Sie haben gerade gesagt: Wir wollen uns nicht nach dem langsamsten richten. Ich möchte einmal wissen, wie Sie sich das bei einer Schule vorstellen, bei der nicht nur das Gymnasiumniveau und das Realschulniveau, sondern auch das Hauptschulniveau vertreten ist. Wie wollen
Sie da einen vernünftigen Unterricht machen? Die Spannbreite ist doch viel größer. Mir ist einfach nicht klar, wie Sie das machen wollen. Sprechen Sie doch einmal mit Schülerinnen und Schülern von Gymnasien, ob Sie zehn Jahre mit Schülern auf Hauptschulniveau unterrichtet werden wollen, aber genauso auch umgekehrt.
Frau Birk, ich bin genauso davon überzeugt, dass diejenigen mit einem Hauptschulniveau, die vielleicht Handwerker werden wollen, sicherlich kein Interesse daran haben, zehn Jahre lang zusammen mit Schülern auf Gymnasialniveau unterrichtet zu werden.
Ich möchte Sie herzlich bitten, Frau Kultusministerin, die letzten zwei Monate zu nutzen, nicht nur über Schulsysteme nachzudenken, sondern auch darüber, vielleicht einmal Lehrpläne zu verändern. Vielleicht würde uns dies helfen, bei der nächsten PISA-Studie einen erheblich besseren Platz zu bekommen.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte am Anfang kurz einen Satz zu Herrn Wagner sagen. Das Problem, Herr Wagner, ist nicht, dass es Menschen mit angeborenem Gymnasialniveau oder Hauptschulniveau oder Realschulniveau gibt. Vielmehr müssen Schüler in unterschiedlichem Maße gefördert werden, um ihre Leistungen in der Schule erbringen zu können. Diese müssen im Ergebnis nicht unbedingt gleich sein, aber die Schüler müssen die Chance haben, sich zu entwickeln. Dafür müssen wir in den Schulen mehr tun.
Wenn sich der ganze Wahlkampfnebel verflüchtigt hat, so legitim und berechtigt er auch ist, wird man die Punkte betrachten können, die für die weitere Entwicklung wichtig sind. Es wird immer so getan, als ob die Systemdebatte im Mittelpunkt steht. Das tut sie natürlich nicht. Auch bei uns steht sie nicht im Mittelpunkt. Wir formulieren Qualitätsansprüche an Schule. Wir stellen fest, dass ein System, das bereits neun- und zehnjährige Kinder auseinander sortiert, diese Ansprüche nicht erfüllen kann. Für die weitere Entwicklung werden wir das Gegenteil von Einheit brauchen. Wir brauchen Kreativität. Ich will ein Bei
spiel nennen. Ich muss nicht alles von heute auf morgen per Knopfdruck integrativ machen. Ich kann in kooperativen Schulsystemen erreichen, dass Kinder einen gemeinsamen Schulort haben, auch wenn sie in unterschiedlichen Schulen sind, und zwar in einzelnen Fächern gemeinsam, die da nicht differenzieren, wie Sport, Musik und Kultur. Hier kann man Kinder gemeinsam länger miteinander lernen lassen und positive Effekte des gemeinsamen Lernens erzielen. Ich habe die Hoffnung und die Gewissheit, dass aus der Praxis der Schule heraus ein pädagogisches Zusammenwachsen entstehen wird. Dies ist nicht etwas, was Politik einfach nur vorschreibt. Es ist ein Prozess, der sich gestalten lässt. Dies ist mehr als ein einfaches Ja oder Nein in der Strukturdebatte.