Protocol of the Session on December 15, 2004

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Ich möchte Ihnen sagen, es gab eine Zeit, in der das der Fall war: das war die Zeit der einklassigen Volksschule, das war die Zeit der einklassigen Schulen auf dem Land, in den Dörfern. Da war es häufig so - in den kleinen Dörfern -, dass bis zu vier Klassen, teilweise sogar acht Klassen, zusammen in einem Raum saßen.

Das Erstaunliche ist, dass mir, als diese Debatte über PISA vor zwei Jahren begann, ein ehemaliger Professor der Universität eine Studie von 1957 über die einklassige Volksschule zugeschickt hat. Die Studie war hochgradig interessant. Diese Studie hat zum Ergebnis gehabt, dass diese einklassigen Volksschulen ausgesprochen erfolgreich waren.

Man hat sich dann die Frage gestellt, wie es funktionieren kann, dass eine Schule besonders erfolgreich ist, in der vier Klassen mit ganz unterschiedlichen Begabungen zusammensitzen. Das Ergebnis war, dass das daran liegt, dass der Lehrer mit unterschiedlichen Aufgaben in die Klasse kommt, weil sich jeder Schüler an seinem Leistungsstand orientieren kann und - was am spannendsten ist - dass diese Schule zwangsläufig dazu führt, dass jeder Schüler von Anfang an dazu erzogen wird, selbstständig zu arbeiten. Der Lehrer ist der Moderator, er geht herum, verteilt Aufgaben. Die Schüler müssen von Anfang an selbstständig arbeiten. Dieser Zwang zum selbstständigen Arbeiten ist das Geheimnis von Klassen in einer Gemeinschaftsschule, in der jeder Schüler individuell gefördert werden muss. Die Gemeinschaftsschule zwingt zur individuellen Förderung. Das ist das Ergebnis der Analyse, das ist das Ergebnis von Finnland, das ist das Ergebnis der Detailanalysen der deutschen Auswertung von PISA 2000.

Ich glaube, wenn man sich das klarmacht, dass die Gemeinschaftsschule nicht Einheitsschule bedeutet, sondern dass sie Schule in der Vielfalt bedeutet, die individuelle Förderung jedes Schülers nach seinen

Fähigkeiten und nicht das Aussortieren von Schülern, die einem nicht passen und die nicht mitkommen. Wenn man sich das bewusst macht, dann begreift man, was es bedeutet, unser Schulsystem zu ändern.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Beratung. Der Berichtsantrag Drucksache 15/3857 hat durch die mündliche Berichterstattung der Landesregierung seine Erledigung gefunden. - Das Haus teilt meine Meinung.

Bezüglich des Antrages Drucksache 15/3849 habe ich keinen Antrag gehört. Wir stimmen in der Sache ab. Wer dem Antrag der Fraktion der CDU, Drucksache 15/3849, Bildungsqualität im gegliederten Schulwesen verbessern, zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW gegen die Stimmen von CDU und FDP abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf:

Entlassung der Ministerin für Justiz, Frauen, Jugend und Familie Antrag der Fraktionen von FDP und CDU Drucksache 15/3853

Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile Herrn Abgeordneten Dr. Wadephul das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Engelbert Arno Danielsen in den Vormittagsstunden des 26. Oktober 2004 in den silbergrauen Mercedes mit dem Ziel Süden stieg, war er guten Mutes. Der 45-jährige Eutiner, der früher Landschaftsgärtner gewesen war, war lange arbeitslos und suchte dringend eine neue Beschäftigung. Als sich ihm nun diese Chance bot, einen Job bei Mercedes in Sindelfingen zu bekommen, griff er zu. Er lebte allein, brauchte daher nur seine Wohnung zu kündigen und einzusteigen.

Engelbert Arno Danielsen dachte, jetzt könne er ein neues Leben beginnen. Tatsächlich sollte er nur wenige Stunden danach tot sein - ermordet von Christian Bogner, der erst am Morgen aus der JVA LübeckLauerhof entflohen war. Beide sahen sich frappierend ähnlich. Das war der Grund, warum Danielsen sterben musste. Danielsen war sozusagen nur das letzte Glied in Bogners perfidem Plan, auszubrechen und

(Dr. Johann Wadephul)

sodann unter neuer Identität - der Danielsens - weiterzuleben.

Es war wohl nicht das erste Mal, dass Bogner einen solchen Plan hegte. Schon vor dem Landgericht Bückeburg hatte er sich wegen Mordvorwurfs zu verantworten, wonach er 1995 die Identität eines früheren Mitschülers angenommen haben sollte, mit dem er auch dort nach seiner damaligen Flucht aus einer Justizvollzugsanstalt Kontakt gesucht und gefunden hatte.

Es war auch nicht das erste Mal, dass Bogner ausbrach - es war das achte Mal, dass Bogner ausbrach -, und es war auch nicht das erste Mal, dass der gelernte Schlosser Bogner seine Flucht in einer Schlosserei vorbereitete. Nein, auch seine vorherige Flucht aus der Justizvollzugsanstalt Lingen hatte er in einer Schlosserei vorbereitet. Damals baute er sich eine Leiter, diesmal ein spektakuläres Klettergerüst, das er auf einem Gabelstapler montierte.

Das Bemerkenswerte an diesen Umständen ist: All das war den Justizbehörden unseres Landes bekannt. Fassungslos haben wir die Berichte des Ministeriums gelesen und gehört, uns die Örtlichkeiten angesehen. Wir fragen: Wie konnte es geschehen, dass ein derart vorbelasteter Bogner überhaupt wieder in einer Schlosserei eingesetzt wurde? Wie konnte es geschehen, dass man ihn in der Werkhalle der Schlosserei ungestört sein kompliziertes Ausbruchsgestänge zusammenschweißen ließ? Wie konnte es geschehen, dass er sich darüber hinaus offensichtlich ungestört in dem anschließenden Außenlager - wie Sie es nennen, Frau Ministerin - bewegen konnte?

Tatsächlich ist dieses Außenlager eine große Scheune gewesen, in der er unbeobachtet seine Materialien lagern konnte. Von den großen Ausmaßen dieser Scheune beziehungsweise dieses Schuppens kann man sich heute nur noch eine ungefähre Vorstellung machen, denn das Ministerium hat ihn wohlweislich schnell abreißen lassen.

Wie konnte es geschehen, dass niemandem auffiel, dass Bogner an diesem Morgen gar keine Anstaltskleidung anhatte, sondern normales Zivil trug? Wie konnte es geschehen, dass er den Plan gemeinsam mit seinem Bruder während ausgiebiger Besuche ausheckte und besprach? Wie kann es sein, dass diese neuralgische Stelle, an der der Ausbruch geschah, nicht ständig durch Videokameras überwacht wurde? Wie konnte es geschehen, dass in der Anstalt nicht sofort alles wie am Schnürchen klappte, als man den Ausbruch bemerkte? - Ein Wärter drinnen drückte nicht sofort den Alarmknopf, ein Wärter draußen sah zu, wie Bogner flüchtete, und eilte nicht nach.

Fehler, Versäumnisse, Schlampereien! Vielleicht lag es sogar - wie es die Frau Ministerpräsidentin dieser Tage vermutete - am System. Wir werden das zu untersuchen haben.

Ich halte an dieser Stelle fest: Diese Fehler allein, der Ausbruch allein haben uns nicht motiviert, Sie, Frau Ministerin, zum Rücktritt aufzufordern oder Sie, Frau Ministerpräsidentin, Frau Justizministerin Lütkes zu entlassen. Da gehen die Grünen und die Sozialdemokraten in Hamburg schon anders vor. Dort ist überhaupt nichts passiert. Dort hat es auch Fehler gegeben - einen nicht immer besetzten Wachturm -, aber niemand ist entflohen.

Was ist das überhaupt für ein politisches Maß? Was ist das überhaupt für eine politische Glaubwürdigkeit, in Hamburg als SPD und Grüne die Entlassung des Justizministers zu fordern, hier aber nicht zu handeln, meine sehr verehrten Damen und Herren?

(Beifall bei CDU und FDP)

Und was tat die Justizministerin vor der Flucht, also in den zurückliegenden fast fünf Jahren, um eine derartige Kette von Fehlern, Pannen und Versäumnissen zu verhindern? - Wir wissen es nicht.

Sofort danach jedenfalls verfiel sie in den Aktionismus, den wir - insbesondere die Mitstreiter im Innen- und Rechtsausschuss - kennen; ich erinnere an ihren kürzlich an den Tag gelegten Aktionismus nach der Beschaffungsaffäre bei der Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig. Das Motto lautet stets: Meine unfähigen Mitarbeiter haben Schuld!

Es gibt eine Grundregel, die wir bei dieser Justizministerin immer dann feststellen können, wenn es Schwierigkeiten gibt: Sie selbst, ihr unmittelbarer Bereich, war nie zuständig, konnte nie von den Missständen wissen. Ihr Handeln entspricht frei dem Motto: Mein Name ist Lütkes, ich weiß von nichts! - Doch dieses Mal, Frau Ministerin, kommen Sie mit dieser Ausrede nicht durch.

(Beifall bei CDU und FDP)

Denn erstens sagt einem schon der normale Menschenverstand, dass diese Logik absurd ist. Wenn ein Justizministerium vom Strafvollzug im Lande nichts wissen muss - ja, nichts wissen kann -, dann gilt im Umkehrschluss: Ein solches Ministerium brauchen wir gar nicht.

Im Übrigen haben Sie uns selbst im Ausschuss eines Besseren belehrt. In Ihrem ausführlichen Vermerk vom 24. November 2004 haben Sie ausdrücklich geschildert, was alles geschehen ist und welche Überwachungstätigkeiten stattfinden: Es gebe einen

(Dr. Johann Wadephul)

engen fachlichen Austausch zwischen den Anstalten und der Aufsichtsbehörde, zahlreiche Anstaltsbesuche vor Ort fänden statt. Regelmäßige Sicherheits- und Baubesprechungen hätten stattgefunden.

Wer das liest und hört und trotzdem zur Kenntnis nimmt, dass Sie eigentlich die personifizierte Uninformiertheit in Sachen Strafvollzug sind, der fragt sich: In welcher Welt leben Sie eigentlich, Frau Lütkes? Wem möchten Sie das eigentlich ernsthaft erzählen?

(Beifall bei CDU und FDP)

Wie passt dazu, dass wir bei unserem Besuch am 28. Oktober 2004 - also zwei Tage nach dem Ausbruch - einen großen Zettel, der von allen Abteilungsleitern unterzeichnet war, vorgefunden haben, auf dem sinngemäß stand: Sehr verehrte Häftlinge, jetzt ist aber Schluss mit den Plastiktüten und den Taschen; diese dürft ihr jetzt nicht mehr aus der Zelle an euren Arbeitsplatz mitnehmen. - Wer das zur Kenntnis nimmt und merkt, dass Sie jetzt erst handeln, der kommt zu der klaren Erkenntnis: Eine Fach- und Rechtsaufsicht durch das Justizministerium hat es in Lübeck nicht gegeben und das ist Ihre politische Verantwortung, die Sie zu tragen haben, Frau Ministerin.

(Beifall bei CDU und FDP)

Sie wussten von der personellen Unterbesetzung, Frau Ministerin. Sie wussten, dass Alarmübungen nicht regelmäßig durchgeführt worden sind; darauf sind Sie übrigens auch durch das Parlament hingewiesen worden.

Es gibt eine Verwaltungsvorschrift zu § 151 Strafvollzugsgesetz, in der in § 1 Abs. 1 Folgendes eindeutig steht: Das Ministerium hat die Anstalt aufzusuchen und gründlich zu prüfen. - Sie haben an dieser Stelle versagt.

(Beifall bei CDU und FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Umgang mit der Wahrheit und der Frage, wann eigentlich vor der Gefährlichkeit dieses Straftäters gewarnt worden ist. Sie behaupten - zuletzt sogar noch im „Schleswig-Holstein Magazin“ -, Ihre Staatssekretärin - sie ist immerhin auch Volljuristin und Richterin - habe es „laut“ gesagt. Laut hat die Staatssekretärin in der Pressekonferenz eigentlich nur gesagt, dass der Mann in der Anstalt nicht aufgefallen sei. Mit keinem Wort ist ausdrücklich vor der Gefährlichkeit dieses Täters gewarnt worden und insofern haben Sie die Öffentlichkeit und den Ausschuss nicht richtig informiert. Allein das ist ein Grund zurückzutreten oder die Ministerin zu entlassen, meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Beifall bei CDU und FDP)

Sie wollen jetzt Ihre Arbeit machen.

(Monika Schwalm [CDU]: Erst jetzt?)

Dazu kann ich nur sagen: Das hätten Sie vorher machen sollen. Woher nehmen Sie eigentlich das Recht, Herrn Brandewiede und fünf andere Mitarbeiter zu suspendieren? - Die würden auch gern ihre Arbeit machen. Sie kleben an Ihrem Stuhl. Sie schauen auf Ihre Pensionsberechtigung ab Februar und wollen einfach weitermachen. Das ist politisch nicht glaubwürdig, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei CDU und FDP)

Und die Spitze der ganzen Angelegenheit ist Ihr Interview in den „Kieler Nachrichten“ vom gestrigen Tage. In diesem Interview lesen wir, wir - die CDU - könnten Wasser auf die Mühlen der NPD gießen.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Unglaublich!)

Sie, Anne Lütkes, sagt wörtlich:

„Da muss eine demokratische Partei sehr vorsichtig sein, um nicht in den Verdacht zu geraten, sich in die Nähe solcher Auffassungen zu begeben.“

(Wolfgang Kubicki [FDP]: So etwas ist schändlich!)