Protocol of the Session on December 15, 2004

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Die Frage lautet also heute nicht, ob die Ministerin oder andere hier im Raum politische Verantwortung für das tragen, was im Strafvollzug geschieht. Das tun sie. Die Frage ist vielmehr, ob die Ministerin dieser Verantwortung vor und nach der Flucht des Häftlings gerecht geworden ist. Deswegen habe ich mich mit den von mir gestellten Fragen gründlich beschäftigt.

Erstens. Hat die Ministerin nach der Flucht alles Nötige zur Aufklärung der Vorfälle und zur Vermeidung von Wiederholungen getan? Mein Ergebnis aufgrund der umfangreichen Berichte der Ministerin an den Landtag lautet: Ja, das hat sie. Sie hat sofort Untersuchungen ohne Rücksicht auf Personen eingeleitet. Sie hat dazu auf jeder Ebene Dritte, Unbeteiligte für die Untersuchungen herangezogen, um jede Art von möglicher Rücksichtnahme auf Personen auszuschalten. Sie hat - in engster Abstimmung mit der Staats

(Karl-Martin Hentschel)

anwaltschaft - die Öffentlichkeit und das Parlament ständig und ausführlich informiert.

(Zuruf der Abgeordneten Roswitha Strauß [CDU])

Ich möchte hier deutlich sagen: Es ist ihre Pflicht, die Öffentlichkeitsarbeit mit der Staatsanwaltschaft abzustimmen, solange noch nicht alle Verfahren abgeschlossen sind.

Zweitens. Ich habe auch gefragt: Ist vor dem Ausbruch in den vergangenen fünf Jahren irgendetwas getan worden, was diesen Ausbruch erleichtert hat? Gibt es in Schleswig-Holstein im Vollzug irgendwelche Besonderheiten gegenüber anderen Bundesländern, die den Ausbruch erleichtert haben? Gab es Hinweise von Fachleuten oder gar Vorschläge von Abgeordneten der Opposition, die nicht beachtet worden sind? All dies ist nicht der Fall.

(Zuruf von der FDP: Das ist albern!)

Der Ministerin und - ich sage das hier deutlich - auch meiner Fraktion und meiner Partei war klar, dass wir mit der Übernahme des Justizministeriums durch Anne Lütkes eine große Verantwortung für die Sicherheit im Lande übernehmen.

(Zuruf des Abgeordneten Werner Kalinka [CDU])

Jeder, der die Vollzugsanstalten besucht hat, weiß: Das ist kein einfacher Job, den die Vollzugsbeamten dort in teilweise über 100 Jahre alten Vollzugsanstalten zu leisten haben. Kein Politiker schmückt sich öffentlich damit, Geld für Gefängnisse einzuwerben. Trotzdem haben die Ministerin und die grüne Fraktion ein Investitions- und Modernisierungsprogramm von 57 Millionen € durchgesetzt, um die 100 Jahre alten Vollzugsanstalten zu modernisieren. Seit vier Jahren sind wir dabei, den Vollzug Schritt für Schritt zu modernisieren. Die Investitionen dienen sowohl der Verbesserung der Resozialisierungsmöglichkeiten als auch insbesondere der Verbesserung der Sicherheit. Dazu gehört auch der Ausbau der Sicherheitsabteilung für besonders gefährliche Verbrecher in Lübeck.

Auch bezüglich der Personalpolitik, bezüglich der Erlasse und Anweisungen gegenüber dem Vollzug, gibt es an keiner einzigen Stelle einen Hinweis darauf, dass Maßnahmen ergriffen wurden, die die Sicherheit verringert haben. Es gab vor dem 26. Oktober weder vonseiten des Eingabenausschusses noch vonseiten der Opposition oder von anderer Seite Kritik an den getroffenen Maßnahmen.

Allein die Personalstärke war mehrfach Anlass zur Diskussion. Gerade dazu stelle ich aber fest, dass Ministerin Lütkes und meine Fraktion sich erfolgreich dafür eingesetzt haben, dass in den vergangenen fünf Jahren die Zahl der Vollzugsbeamten bei gleicher Gefangenenzahl um 5 % verbessert wurde. Schleswig-Holstein hat von allen Bundesländern die drittbeste Personalausstattung in den Haftanstalten. Lübeck liegt dabei an der Spitze.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Ich fasse zusammen: Ministerin Lütkes hat in den vergangenen Jahren alles getan, um die Sicherheit in den Justizvollzugsanstalten zu gewährleisten.

(Zurufe von der CDU)

Man kann mit Blick auf die Investitionsmaßnahmen und die Personalverstärkung sogar sagen, sie hat mehr als ihre Vorgänger in die Sicherheit im Vollzug investiert. Sie hat nach dem Vorfall alle nötigen Maßnahmen ergriffen, um die Sicherheit zu gewährleisten, um die Vorfälle aufzuklären und um die Öffentlichkeit zu informieren. Dies alles wurde im Ausschuss so berichtet. Was die Opposition ihr nun in Ermangelung von Fehlern vorwirft, ist schon erstaunlich:

(Frauke Tengler [CDU]: Das ist unglaub- lich!)

Erstens. Die Ministerin hätte ohne Absprache mit der Staatsanwaltschaft weitergehende Hinweise und Warnungen über den Täter öffentlich machen sollen.

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kubicki?

Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu.

Ich will mir nicht ausmalen, wie Sie von der Opposition hier im Landtag reagiert hätten, wenn die Ministerin ohne Absprache mit der Staatsanwaltschaft tatsächlich öffentliche Warnungen und Informationen abgegeben hätte, wenn es infolge solcher Warnungen zu weiteren gewalttätigen Aktionen gekommen wäre. Ich will mir nicht ausmalen, wie Sie reagiert hätten!

(Zurufe von CDU und FDP)

Zweitens. Die Opposition sagt, die Ministerin hätte sich in der Vergangenheit persönlich in Entscheidungen der Amtsleiter über Einzelregelungen für Gefangene einmischen sollen. Ich stelle nach Studium der

(Karl-Martin Hentschel)

Dokumente fest: Dies widerspricht nicht nur der Praxis in allen anderen Bundesländern,

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Das ist schlichter Unsinn!)

die Fachöffentlichkeit hält dies sogar für sicherheitsgefährdend, denn die Sicherheitsrelevanz von Entscheidungen kann vor Ort immer besser beurteilt werden als im Ministerium. Nur bei Freigängen von Verbrechern außerhalb der Anstalt ist es richtig und deshalb Praxis, dass das Ministerium die letzte Entscheidung hat.

In Verantwortung für die Sicherheit in den Justizvollzugsanstalten hat Anne Lütkes veranlasst, dass die bisherigen Systeme der Aufsicht auf den Prüfstand unabhängiger Experten gestellt werden. Ich erinnere daran, dass dies bundesweit geltende Systeme sind. Mit diesem Schritt handelt Anne Lütkes verantwortungsvoll, um mögliche Schwachstellen vorsorglich zu mindern. Notwendig ist die sachliche Aufklärung anstelle von Symbolpolitik.

In der Sitzung des Innen- und Rechtsausschusses am vergangenen Mittwoch wurde offensichtlich, dass die Opposition nichts in der Hand hat.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Völliger Unsinn! Dann machen wir das gleich hier!)

Sie haben alle Ihre Pfeile verschossen. Ihre Forderung nach einem Untersuchungsausschuss in der nächsten Legislaturperiode ist nur als die Bestätigung dieser Tatsache zu werten. Sie ist ein weiterer Versuch, das Thema am Köcheln zu halten. Mit der Rücktrittsforderung haben Sie den Bogen überspannt. Eine Rücktrittsforderung gegen eine amtierende Ministerin zu stellen, ohne etwas in der Hand zu haben, ist schäbig.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Bogen, der überspannt wird, bricht. Ich bin deshalb sicher, dass dieser Versuch, eine Tragödie auf zynische Weise politisch zu instrumentalisieren, nach hinten losgehen wird. Schleswig-Holstein ist nach 1988 ein Land mit einer offenen und fairen politischen Kultur geworden. Darauf sind die Menschen im Land stolz.

(Veronika Kolb [FDP]: Sprechen Sie mit ih- nen!)

Wer diesen Weg verlässt und versucht, mit Schmutz zu werfen, der muss aufpassen, dass ihm nicht eine frische Nordseebrise den Schmutz auf den eigenen Anzug bläst. Ich erinnere an die Pressekonferenz des Kandidaten vom Freitag, der von der Sache nicht viel wusste, sich aber entsprechend äußerte.

(Zurufe von der CDU)

Anne Lütkes hat ihr Ministerium in den vergangenen fünf Jahren in einer Weise geführt, die ihr im Land breite Anerkennung verschafft hat.

(Frauke Tengler [CDU]: Brillant!)

Hier im Parlament wurde ihre Politik oft von allen Fraktionen getragen und insbesondere von den Fachsprechern der Fraktionen in zahlreichen Debatten unterstützt. Sie hat in dieser kritischen Situation konsequent und entschlossen gehandelt. Damit ist sie ihrer politischen Verantwortung im besten Sinne dieses Begriffs gerecht geworden. Im Namen meiner Fraktion bedanke ich mich für die geleistete Arbeit. Wir werden den Antrag ablehnen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Für den SSW im Schleswig-Holsteinischen Landtag erteile ich Frau Abgeordneter Silke Hinrichsen das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch nach vielen Ausschusssitzungen und nach mehrmaligem Nachlesen der beiden Berichte des Justizministeriums sind die Fakten des Falls Bogner unglaublich. Am 26. Oktober ist der Gefangene Bogner aus der Justizvollzugsanstalt Lübeck in einer spektakulären Flucht ausgebrochen. Der Gefangene wurde nach seinem Ausbruch durch die Behörden als nicht ungefährlich eingeschätzt. Auch wenn der Anstaltsleiter während der dazu abgehaltenen Pressekonferenz andere Angaben gemacht hat, so haben die Behörden auch danach gehandelt.

Während dieser Flucht hat Herr Bogner nach eigenem Geständnis gleich am Tag nach dem Ausbruch einen Menschen getötet, um eine neue Identität annehmen zu können. Bei der Vorbereitung dieser Tat ist der Bruder des Beschuldigten verdächtig, geholfen zu haben. Dennoch wurde Bogner nach wenigen Tagen Flucht Anfang November wieder gefasst. So lauten die nüchternen Fakten.

Unglaublich sind dabei die Umstände der Flucht, denn die Flucht gelang, weil Sicherungsmaßnahmen nicht durchgeführt wurden. Die Schlosserei, in der Bogner arbeitete, war gerade umgebaut worden und die Sicherung dieses Komplexes einschließlich des Außenlagers war sicherheitstechnisch nicht in Ordnung. Womöglich ist die Schlosserei ohne einen Sicherheitscheck eröffnet worden. Der Alarm wurde

(Silke Hinrichsen)

nicht direkt nach Entdecken des Gabelstaplers, den der Häftling zur Flucht verwendete, gegeben, sondern erst einige Minuten später. Ein Beamter, der den Flüchtigen bei der Flucht im Außenbereich sah, hat nicht schnell genug reagiert. Daher wurde die so genannte Nacheile nicht vorgenommen.

Am schlimmsten wiegt aber nach meiner Einschätzung, dass die Vollzugsplanung nach heutigem Kenntnisstand mangelhaft war. Diese ist nicht im Hinblick auf die tatsächlich vorhandenen Unterlagen über Vorstrafen und auch nicht im Hinblick auf weitere Erkenntnisse über den Häftling vorgenommen worden.

Die Öffentlichkeit fragt sich zu Recht, wie ein Straftäter wie Herr Bogner, der in seiner langen Straftäterkarriere bereits siebenmal ausgebrochen ist, zuletzt allerdings Mitte der 90er-Jahre, und während eines offenen Vollzugs zwischen 2000 und 2001 Banküberfälle begehen konnte, dennoch in der Schlosserei der JVA Lübeck ohne besondere zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen arbeiten konnte. Schließlich wurde Bogner im April 2003 rechtskräftig zu zehneinhalb Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Er wurde also in der Schlosserei eingesetzt, obwohl laut Vollzugsplanung die Gefahr bestand, dass er fliehen könnte.

Dennoch musste eine unglaubliche Verkettung von Zufällen und menschlichem Verhalten zusammenkommen, um die Flucht am 26. Oktober 2004 zu ermöglichen. Wie soll man es sonst nennen, wenn dem Häftling am 25. Oktober ein Ablehnungsbeschluss auf seinen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens vom Landgericht Hannover zugestellt wurde, ohne dass die Anstaltsleitung hierüber informiert worden war? Auch wenn das Landgericht formal richtig handelte, so wäre es die in SchleswigHolstein übliche Praxis gewesen, die Anstaltsleitung zu informieren, weil spätestens dieser Beschluss dem Gefangenen Bogner die Ausweglosigkeit seiner Situation klar gemacht hat.