Protocol of the Session on May 10, 2001

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Guten Morgen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die heutige Sitzung, bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen und Ihre Gespräche auf die Pause zu verlagern.

Auf der Tribüne begrüße ich zunächst Gäste des Immanuel-Kant-Gymnasiums Neumünster und der Marine-Offizier-Messe Lübeck.

(Beifall)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:

Situation von älteren Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein

Große Anfrage der Fraktion der CDU Drucksache 15/485

Antwort der Landesregierung Drucksache 15/895

Wird das Wort zur Begründung der Großen Anfrage gewünscht? - Das ist nicht der Fall.

Zur Beantwortung der Großen Anfrage erteile ich der Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz, Frau Moser, das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Anfrage befasst sich mit einer zurzeit noch relativ kleinen Personengruppe, den Menschen mit Behinderung, die in den Werkstätten für Behinderte altersbedingt nur noch teilzeitbeschäftigt beziehungsweise ganz aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. In den Werkstätten für Behinderte sind etwa 2 % Menschen über 60 Jahre beschäftigt. Zirka 140 Menschen, die älter als 60 Jahre alt sind, leben in den Wohnstätten.

Die Frage: „Was machen Menschen mit einer Behinderung im Ruhestand? Wie wollen sie wohnen? Wie wollen sie leben? Wie wollen sie ihre Freizeit verbringen?“, wird uns zunehmend beschäftigen, weil die Gruppe dieser Menschen immer größer wird. Das hat den sehr erfreulichen Hintergrund, dass auch die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung stetig zunimmt. Deshalb ist es gut, dass wir uns mit einem Problem beschäftigen, das zahlenmäßig noch klein ist, aber in Zukunft absehbar wichtiger und größer wird.

Die Landesregierung hat deshalb schon 1997 gemeinsam mit den örtlichen Sozialhilfeträgern und den Wohlfahrtsverbänden Empfehlungen erarbeitet, die die Wohnstätten anwenden sollen, wenn sie sich bemühen,

(Ministerin Heide Moser)

tagesstrukturierende und sonstige Angebote für ältere Bewohnerinnen und Bewohner zu entwickeln und weiterzuentwickeln. Diese gemeinsamen Empfehlungen sind zurzeit die Grundlage für die Arbeit der Wohnstätten.

Ich denke, wir müssen zu einer Weiterentwicklung kommen sowohl, was die Wohnstätten selbst angeht, als auch, was alternative Wohnangebote für ältere Menschen mit Behinderung angeht. Wenn ich sage: „wir“, meine ich damit die Einrichtungsträger, die Träger der örtlichen Sozialhilfe als die Zuständigen für die über 60-jährigen Menschen im Land und die Landesregierung. Diese Reihenfolge ist dabei bewusst gewählt, denn es geht nicht vorrangig um staatliche Vorgaben, sondern es geht um Entwicklungen vor Ort zusammen mit Einrichtungsträgern und Betroffenen. Insofern - das darf ich mir als Anmerkung erlauben fand ich die Diktion der Fragestellung etwas irritierend, die ausschließlich auf Vorstellungen der Landesregierung abhebt. Ein Staatsverständnis nach dem Motto: „Die Landesregierung soll es richten“, teilen wir nicht. Wir wissen uns dabei auch mit Kommunen und Facheinrichtungen einig.

(Beifall der Abgeordneten Irene Fröhlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Anke Spoorendonk [SSW])

Wir fühlen uns allerdings sehr wohl politisch verantwortlich, dafür zu sorgen, dass gesellschaftliche Aufgaben in den notwendigen Rahmen gesellschaftlich gelöst werden können.

Unser sozialpolitisches Grundverständnis auch bei der Gestaltung von Leitlinien für Hilfen für ältere und alte Menschen mit Behinderung ist das Gebot der Normalität. Das heißt zu fragen: „Wie gestalten Menschen ohne Behinderung ihren Lebensabend? Welche Hilfen benötigen sie?“, um dann weiter zu fragen: „Welche Aktivitäten können demgegenüber behinderte Menschen nicht wahrnehmen? Wo benötigen sie besondere und zusätzliche Unterstützung?“. - Wir haben in der Vorbemerkung zu den Antworten dazu relativ ausführlich Stellung genommen.

Während sich der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung in aller Regel eine Beschäftigung insbesondere in Form von Hobbys oder ehrenamtlicher Tätigkeit bereits vor dem Eintritt in den Ruhestand aufgebaut hat, sind hierzu Menschen insbesondere mit einer geistigen Behinderung häufig nicht in der Lage. Für sie ist die Beschäftigung in der Werkstatt mit einer fest vorgegebenen Tagesstruktur und Sinngebung der Lebensinhalt. Deshalb ist es für viele von Ihnen ganz schwer vorstellbar, dass das zukünftige Leben, das Leben im Ruhestand, im Alter eines ist, das nicht von Arbeit geprägt sein soll. Deshalb ist es verständ

lich, dass der Wunsch nach Weiterarbeit im Alter umso stärker bei Menschen mit Behinderung ausgeprägt ist, je älter sie sind. Wie gesagt: In den Werkstätten werden zunehmend ältere Menschen beschäftigt.

Zur Normalität gehört eben auch, dass wir - „noch“ füge ich hinzu - regelhaft mit Vollendung des 65. Lebensjahres aus dem Arbeitsprozess ausscheiden. Im Sinne der Normalität gilt das auch für Menschen, die in einer WfB arbeiten, auch wenn die Fragesteller offenbar - so jedenfalls lese ich das - eine etwas andere Präferenz haben.

Damit die Ruheständler mit Behinderung nicht in ein Loch fallen, müssen im Zusammenhang mit ihrem Wohnumfeld besondere Angebote vorhanden sein. Welche Angebot das sein können, hat eine Studie ergeben, die von der Werkstatt am Drachensee in Auftrag gegeben worden ist. Dort ist nach den Wünschen und Bedürfnissen älterer Menschen mit Behinderung im Hinblick auf Arbeit, Wohnen und Freizeit gefragt worden. Befragt wurden die über 40Jährigen. Die Studie ist von 1999 und in ihren Ergebnissen immer noch aktuell. Wir haben darauf zurückgegriffen.

Wichtig für uns ist dabei, dass sich die Ergebnisse nicht am wohlverstandenen Interesse der Menschen entwickeln, sondern dass sie an abgefragten Bedürfnissen der Betroffenen entwickelt worden sind. Wir dürfen zum Beispiel nicht in den Fehler verfallen, jeden Tag von Menschen mit Behinderung komplett von morgens bis abends durchzustrukturieren.

(Vereinzelter Beifall bei SPD und FDP)

Wir müssen uns vor einer fürsorglichen Belagerung hüten. Die Angebote müssen auch dem Wunsch nach Ruhe, nach Ruhestand entgegenkommen. Sie dürfen aber andererseits nicht vernachlässigen, dass vorhandene und erworbene Fähigkeiten weiter erhalten und geübt werden müssen. Das ist Aufgabe der Einrichtungsträger, die die Fachleute vorhalten, um dieses auszutarieren und entsprechend den Menschen auch anzubieten.

Zur Normalität gehört auch, dass Menschen bei Eintritt in den Ruhestand ihre bisherige Wohnung beibehalten. Das ist so. Niemand von uns muss aus seiner Wohnung ausziehen, weil er in den Ruhestand geht. Vermehrt gibt es Leute, die sich etwas Kleineres suchen - aus bestimmten Gründen -, aber die Regel ist es nicht. Deshalb ist es auch richtig und ein Gebot der Normalität, dass auch jeder Mensch mit Behinderung, der aus einer Werkstatt ausscheidet, in der Wohnstätte wohnen bleiben kann, wenn er dies wünscht.

(Beifall im ganzen Haus)

(Ministerin Heide Moser)

Diese Auffassung hat sich bundesweit durchgesetzt, wird auch vom BMA geteilt, das bekanntlich aus Mitteln der Ausgleichsabgabe Wohnstätten mitfinanziert. Langfristig muss dies jedoch nicht die einzige Lösung sein, schon deshalb nicht, weil auch für diejenigen Menschen mit Behinderung, die noch im Arbeitsleben stehen, zunehmend Alternativen zum stationären Wohnen entwickelt werden und auch entwickelt werden müssen. Wenn wir das Wohnheimangebot in Zukunft erweitern, wird es sich vornehmlich - das ist jedenfalls unsere Vorstellung - auch auf Formen des betreuten Wohnens beziehen.

Eine besondere Herausforderung stellt das Problem dar, wie wir mit behinderten Menschen umgehen, die in einer Wohnstätte leben und schwerstpflegebedürftig werden. Verbleiben diese Menschen in der Wohnstätte, einer Einrichtung der Behindertenhilfe, haben sie gegenüber den Pflegekassen nur einen verkürzten Anspruch. Sie kennen das: 500 DM im Monat. Obwohl sie die Beiträge zur Pflegeversicherung gezahlt haben, kann ihr Anspruch nicht in voller Höhe durchgesetzt werden, wenn der Einrichtungsträger nicht bereit ist, zumindest für einen Teil seiner Einrichtung einen Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen abzuschließen. Über die Weigerung vieler Einrichtungen haben wir oft diskutiert. Ich finde sie schwer nachvollziehbar, zumal dann, wenn anerkanntes Pflegepersonal in den Einrichtungen beschäftigt wird.

Ich will den Prinzipienstreit jetzt hier nicht aufgreifen. Ich denke, er nutzt den Betroffenen am allerwenigsten. Ich gehe nur noch kurz auf die Position der Landesregierung in dieser Frage ein. Uns erscheint der Abschluss eines Versorgungsvertrages mit den Pflegekassen für einen Teil der Einrichtung eine geeignete und allen Anforderungen gerecht werdende Lösung. Die behinderten Menschen erhalten professionelle Pflegeleistungen wie andere pflegebedürftige Menschen auch. Sie können ihren Anspruch gegenüber der Pflegekasse in voller Höhe durchsetzen wie andere Menschen ohne Behinderung auch, ihr Anspruch auf Eingliederungshilfe, auf Leistungen der Eingliederungshilfe wird nicht geschmälert, etwas, was häufig bestritten wird, allerdings zu Unrecht, weil es nicht stimmt. Sie verbleiben damit in ihrer bisherigen gewohnten Umgebung, wie es sich Menschen ohne Behinderung auch wünschen. Wichtig für die Träger dieser Einrichtungen: Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden so bemessen, dass das Budget der Einrichtung in der bisherigen Höhe erhalten bleibt.

Ich wünsche mir in dieser und in anderen Fragen Lösungen im Sinne der Menschen statt unfruchtbarer Prinzipienstreitigkeiten und ich wünsche mir eine fruchtbare politisch-fachliche Zusammenarbeit bei der Lösung des anstehenden Problems, auch für alte Men

schen mit Behinderung in unserer Gesellschaft Raum, Platz und Anerkennung und Möglichkeiten zur weiteren Selbstfindung zu schaffen.

(Beifall im ganzen Haus)

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Kleiner.

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die Politik wird immer schnelllebiger. Unsere Große Anfrage zur Situation von älteren Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein und die Antwort der Landesregierung sind dafür ein gutes Beispiel. Die Anfrage unserer Fraktion datiert vom 18. Oktober 2000. Die Landesregierung hat diese Anfrage mit unserem Einverständnis - das will ich deutlich sagen fünfeinhalb Monate später, nämlich am 1. April 2001, beantwortet.

Unsere Große Anfrage ist ausgelöst worden durch eine Schnittstellenproblematik zwischen dem Bundessozialhilfegesetz und dem Pflegeversicherungsgesetz, also dem SGB XI. Das Bundessozialhilfegesetz verpflichtet die Sozialhilfeträger nach Maßgabe der §§ 39 ff. zur Zahlung von Eingliederungshilfen an behinderte Menschen. Zahlstellen sind die Sozialämter in den Kreisen und kreisfreien Städten; das Land beteiligt sich an diesen Kosten. Das SGB XI verpflichtet die Pflegekassen zur Zahlung der Pflegekosten in dem Umfange, wie es das Pflegeversicherungsgesetz festlegt.

Wenn ältere behinderte Menschen, die in einem Wohnheim der Behindertenhilfe lebten, pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes wurden, so mussten die Pflegekassen bislang gemäß § 43a SGB XI nur einen monatlichen Zuschuss, begrenzt auf höchstens 500 DM, leisten. Die Sozialhilfeträger waren deshalb aus finanziellen Gründen daran interessiert, dass ältere Menschen, die nicht mehr in den Werkstätten der Behindertenhilfe arbeiteten, dann, wenn sie pflegebedürftig im Sinne des SGB XI wurden, möglichst bald aus dem Wohnheim der Behindertenhilfe aus- und in ein Pflegeheim mit Versorgungsvertrag einzogen. Das aber liegt im Regelfall das hat die Ministerin auch so ausgeführt - überhaupt nicht im Interesse der pflegebedürftig gewordenen älteren Menschen.

Die Einrichtung der Behindertenhilfe, in der sie viele Jahre, oft Jahrzehnte leben, ist im vollsten Sinne des Wortes zur Mitte ihres Lebens, zu ihrer Heimat geworden. Die Verbände und Vereine der Behinderten

(Helga Kleiner)

hilfe waren im Herbst des vergangenen Jahres in großer Sorge, dass das immer deutlicher werdende Schnittstellenproblem zwischen BSHG und SGB XI sich zu einem Verschiebebahnhof für die älteren behinderten Menschen entwickeln werde. Wir haben ihre Sorge geteilt und nach Ansätzen gesucht, um dieser bösen Entwicklung entgegen zu wirken. Das war der politische Kern unserer Großen Anfrage.

Am 6. April dieses Jahres, also fünf Tage nach der Antwort der Landesregierung auf unsere Große Anfrage vom 18. Oktober vorigen Jahres, hat der Bundestag das seit langem in der politischen Diskussion befindliche Sozialgesetzbuch neu beschlossen, und zwar, was ich hervorheben will, mit Zustimmung der CDU/CSUBundestagsfraktion. Der Bundesrat wird, wenn das nicht sogar schon in den letzten Tagen geschehen ist, mit Sicherheit dem SGB IX zustimmen.

Was unser Problem anbelangt, will ich mit Erlaubnis der Frau Präsidentin aus dem Redebeitrag des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, Karl Herman Haack, Folgendes zitieren:

„Ein weiterer Punkt: Wir haben einen Riegel vorgeschoben, sodass es den Landesfinanzministern nicht mehr möglich ist, sich auf Kosten der Pflegeversicherung - zugunsten der Eingliederungshilfe - zu entlasten. Es ist also nicht mehr möglich, dass ältere Menschen mit Behinderung, die in stationären Reha-Einrichtungen leben, gewissermaßen in Pflegefälle umgetauft werden, aus ihrer Lebensumwelt herausgenommen und in Pflegeeinrichtungen untergebracht werden. Hier ist eine einvernehmliche Regelung mit den Ländern gefunden worden.“

Und Karl Hermann Haack hat hinzugefügt:

„Ich begrüße das außerordentlich.“

Seinen Worten schließe ich mich mit Freude an und gehe davon aus, dass die praktische Umsetzung der neuen Regelung zu Einzelfallentscheidungen führen wird, die das berechtigte Interesse der älteren behinderten Menschen, die in Wohnheimen der Behindertenhilfe leben und pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes geworden sind, auch wirklich schützen. Die Sozialministerin fordere ich auf, hierauf besonders sorgfältig zu achten. Ich bin aber überzeugt, das werden Sie auch.

Sollten sich bei der verwaltungsmäßigen Durchführung der Neuregelung Schwierigkeiten zulasten der behinderten Menschen ergeben, werden diese spätestens bei der Überprüfung, die für das SGB IX nach Ablauf der zwei Jahre vorgesehen ist, berücksichtigt werden müssen.

Ein Wort nun in eigener Sache. Es wäre für meine Arbeit als Oppositionspolitikerin durchaus hilfreich gewesen, wenn die Landesregierung schon bei der Abfassung ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage noch fünf Tage zu den fünfeinhalb Monaten darauf gelegt und das Ergebnis der Bundestagssitzung vom 6. April in die Beantwortung der Großen Anfrage eingearbeitet hätte. Aus den Formulierungen unserer Fragen 13 a bis 13 e war deutlich zu erkennen, worauf es uns in besonderer Weise ankam, und die Landesregierung hat dies auch erkannt, wie sich aus der Formulierung ihrer Antworten ergibt.

Was nun die Antwort der Landesregierung auf die anderen Fragen, die wir gestellt haben, anlangt, kann und will ich mich kurz fassen.