Protocol of the Session on April 28, 2016

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Guten Morgen, meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie zur Fortsetzung unserer Tagung und darf Ihnen zunächst mitteilen, dass die Kolleginnen Sandra Redmann und Ines Strehlau erkrankt sind, denen wir von dieser Stelle aus herzliche Genesungswünsche schicken.

(Beifall)

Außerdem darf ich Ihnen mitteilen, dass wegen auswärtiger dienstlicher Verpflichtungen ab 15 Uhr die Ministerin Anke Spoorendonk beurlaubt ist.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf:

Europa auf dem Prüfstand: Solidarität statt nationaler Alleingänge

Antrag der Fraktionen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abgeordneten des SSW Drucksache 18/4102

Die Europäische Union sichern - Europas Zukunft modernisieren und gestalten

Änderungsantrag der Fraktion der CDU Drucksache 18/4138

Das Wort zur Begründung wird offenbar nicht gewünscht. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Herr Abgeordneten Ralf Stegner von der SPD-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Vielleicht muss Sie erst ein Außenstehender, einer, der kein Europäer ist, daran erinnern, wie großartig das ist, was Sie erreicht haben.“

So hat es US-Präsident Obama uns bei seinem Besuch in Hannover vor Augen geführt. Die europäische Einigung sei, und ich zitiere ihn noch einmal, „eine der größten politischen Errungenschaften der Neuzeit“. Passender kann eine Bemerkung gar nicht sein,

(Beifall SPD und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn Europa steckt in einer Krise. Es gibt eine vielschichtige und komplexe Ursache dafür. Die

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Strukturen der Europäischen Union sind auf enge Wirtschaftsbeziehungen und einen liberalen gemeinsamen Markt ausgelegt. Es fehlt aber an Möglichkeiten, dem rücksichtslosen Walten von Gewinnmaximierungsinteressen entgegenzuwirken. Helmut Schmidt nannte es Raubtierkapitalismus.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist nicht mehr in den Schlagzeilen, aber sie ist noch da. Überschuldete Staaten kämpfen um sozialen Zusammenhalt und wirtschaftliche Perspektive, die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland liegt bei über 50 %, und keine Besserung ist in Sicht. Terroristen üben feige Anschläge auf unsere Gesellschaften und unsere Werte aus, die Diskussion über Vorund Nachteile der europäischen Einigung führt in England zu einer Volksabstimmung. Kein Mensch weiß, wie die Debatte und die Abstimmung über den Brexit ausgehen. All das sagt mehr über die Konflikte in den Mitgliedstaaten als über die EU.

Der Egoismus der Mitgliedsstaaten - ohne Rücksicht auf andere - breitet sich aus. Auch Deutschland muss sich gegenüber Griechenland hier etwas vorhalten lassen, und es gibt Staaten in Europa, zum Beispiel im Osten, die sich Kompromissen verweigern und von der Pressefreiheit verabschieden. Die Herausforderungen der Flüchtlingsströme führen dazu, dass wichtige Errungenschaften wie die Freizügigkeit infrage gestellt werden. Die Wertegemeinschaft steht vor ihrer Bewährungsprobe.

Man könnte noch über vieles andere reden. Ich kann auch nachvollziehen, dass viele Europäerinnen und Europäer verunsichert sind, aber ich will deutlich sagen: Wir haben hier vieles zu verlieren, unseren Wohlstand, unseren Frieden und unsere Freiheit. Deshalb kann uns nicht egal sein, wie diese Krise ausgeht.

(Beifall SPD, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Die Antwort, die ich mir wünsche, besteht nicht aus Zweifeln, schon gar nicht aus nationalstaatlichem Egoismus, sondern sie ist entschlossenes und gemeinsames Handeln. Die Zukunft Europas liegt ausschließlich in einer solidarischen Problemlösung, in der Ursachenbekämpfung durch ein vereintes Europa. Alles andere ist ein kolossaler Irrweg, der uns teuer zu stehen käme.

(Beifall SPD und vereinzelt SSW)

Grundlage dafür ist unsere Wertegemeinschaft. Das gilt insbesondere für die Menschenrechte innerhalb der EU, auch für unsere Partner. Die Werte gelten natürlich für diejenigen, mit denen wir Bei

trittsverhandlungen führen, aber auch für diejenigen, die Mitglieder sind. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Bei den Menschenrechten darf es keine faulen Kompromisse geben, und zwar mit keinem derjenigen, mit denen wir reden. Wenn wir nämlich nicht lernen werden, dass wir auch teilen müssen, dass Europa nicht auf Dauer in Frieden und Wohlstand lebt, wenn große Teile der Welt das nicht tun, dann werden sowohl Frieden als auch Freiheit verlorengehen. Es ist nicht populär, das zu sagen, aber es ist notwendig, das zu sagen. Wir werden teilen müssen in Europa, sonst wird das nicht gehen.

(Beifall SPD und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Unterschiede zwischen Arm und Reich wachsen. Die Generationen vor uns haben sich krasse Ungerechtigkeiten nicht bieten lassen, warum sollte das heute anders sein? Warum sollte jemand, der im Krieg lebt, nicht aus seiner Region in Regionen fliehen, in denen Frieden herrscht? Warum sollten Menschen, die hungern, nicht in Regionen fliehen, in denen es überzählige Lebensmittel gibt? Warum sollten Menschen, die keine Perspektive haben, nicht in Regionen fliehen, in denen ihre Kinder eine Zukunft haben? - All das wird passieren, wenn Europa nicht Verantwortung übernimmt. Dazu gehört übrigens auch ein einheitliches europäisches Asylrecht. Die gestrige Entscheidung unserer österreichischen Nachbarn finde ich beklemmend.

(Vereinzelter Beifall SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und SSW)

Ich muss wirklich sagen: Der Dreiklang aus Abschotten, Abschrecken und Abschieben, die Aushöhlung des Asylrechts und der Genfer Flüchtlingskonvention, all das ist nicht unser Europa, das ist nicht das Europa, das wir brauchen, das ist das Gegenteil. Wir müssen gemeinschaftlich das Gegenteil tun.

(Beifall SPD, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Es sind die Rechtspopulisten und die Rechtsextremisten, die die Lage ausnutzen und den Zusammenhalt Europas zerstören. Sie predigen Nationalismus und Egoismus, sie verteidigen angeblich unsere abendländische Kultur mit Mitteln, die das Gegenteil unserer Werte sind. Weniger Europa, Grenzen zu und weg mit dem Euro; so sieht ein Programm für Massenarbeitslosigkeit in Deutschland aus. Das ist nicht die Zukunft, das ist Vergangenheit, und zwar schlimme Vergangenheit. Deswegen sage ich: Wenn wir uns nicht zusammenreißen, wenn wir nicht begreifen, was da auf dem Spiel steht, dann

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(Dr. Ralf Stegner)

werden unsere Wirtschaft, unser Wohlstand, unser Frieden und unser Zusammenhalt in Gefahr geraten.

Es gibt gute Gründe, Europa zu kritisieren, es gibt aber viel bessere Gründe dafür, progressive Ideen zu entwickeln und sich wieder mit neuem Enthusiasmus diesem wunderbaren Friedensprojekt zuzuwenden. Wir sollten das soziale Europa als Wertegemeinschaft gestalten, in der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht nur auf dem Papier existieren, sondern auch gelebt werden. Europa in Frieden und Wohlstand, das ist das Beste, was diesem Land jemals passiert ist. - Vielen Dank.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt SSW)

Vielen Dank. - Für die CDU-Fraktion hat jetzt der Herr Abgeordnete Rainer Wiegard das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, wenn man die letzten acht Jahre zurückverfolgt, dann wird das Bild Europas im Wesentlichen geprägt durch vier große Themen, durch vier große Krisenbewältigungen, denen sich die politischen Spitzen der Europäischen Union haben widmen müssen: Dies war zunächst die Finanzmarktkrise, die 2008 durch die Pleite von Lehmann Brothers ausgelöst wurde. Ihr folgte die schwerste wirtschaftliche Rezession, die die Welt nach dem Krieg mit dem Verlust von über 10 Millionen Arbeitsplätzen allein in Europa erlebt hat. Darauf aufbauend folgte die Staatsschuldenkrise, die zu bewältigen war und lange noch nicht bewältigt ist, bei der einige Staaten nicht mehr in der Lage waren und es einige bis heute noch nicht sind, am Kapitalmarkt die Kredite aufzunehmen, die sie benötigen, um die vorhandenen zu tilgen und ihre Aufgaben zu erfüllen. Und schließlich haben wir die sogenannte Flüchtlingskrise, die Bewegung von Menschen, die aus ihrer Heimat im Nahen Osten fliehen müssen, weil dort grausamer Krieg herrscht.

Das alles, meine Damen und Herren, hat das Bild in der Öffentlichkeit und die Handlungsfähigkeit unserer politischen Führung fokussiert und hat den Blick ein wenig auf das verstellt, was Ralf Stegner eben angesprochen hat, aber auch auf die Vielfalt, in der dieses Europa tätig ist. Wir werden Ihnen deshalb heute zu diesem Tagesordnungspunkt einen Antrag vorlegen, in dem wir deutlichen machen,

um welche Aufgaben es derzeit in dieser Periode im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission geht. Es handelt sich um eine Vielfalt von Aufgaben, bei denen jeweils darauf zu achten sein wird, dass die nationalen spezifischen Interessen hinter die Gesamtinteressen Europas gestellt werden müssen.

Ich will einen zweiten Gedanken anfügen, der sich an die heutigen Eingangsworte von Ralf Stegner anschließt, und zwar bezieht er sich auf das, was Präsident Obama ausgeführt hat. Wenn ich manchmal unsere Papiere lese, habe ich sowohl bei Ihnen als auch bei uns festgestellt, dass wir Erreichtes, Erarbeitetes und im Hinblick auf die Sozialdemokratie auch Erkämpftes zu gering schätzen. Häufig sagen wir, Europa ist mehr als nur Binnenmarkt, mehr als nur Währungsunion - technisch ist das ja alles richtig -, aber der Binnenmarkt setzt Freizügigkeit voraus, Freizügigkeit für Menschen, für Informationen, für Meinungen, Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen und für Kapital. Wenn dies nicht gegeben ist, gibt es auch keinen Binnenmarkt. Deshalb glaube ich, dass es, wie häufig im Sprachgebrauch, nicht gering bewertet werden darf.

Oder schauen wir uns die Währungsunion an. Ich möchte nicht wissen, was mit einigen nationalen Währungen - hätten wir sie noch gehabt - in den Jahren 2008 bis 2012 passiert wäre, mit der Lire, mit dem Franc, dem Gulden oder mit wem auch immer, wenn sie nicht in dieser Währungsunion, in diesem Euro, der sich bewährt hat und bis heute bewährt und weniger in der Krise ist, gewesen wäre. Deshalb sollten wir meines Erachtens aufpassen. In der Weltgeschichte gibt es viele Beispiele dafür, dass Nationen, Völker, Volksstämme viele wichtige Dinge gut erreicht haben, aber auch verspielt haben, weil sie sie nicht wertgeschätzt haben. Deshalb ist es aus meiner Sicht wichtig, dies immer in den Vordergrund zu stellen.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Der dritte Gedanke, den ich hier einschieben möchte, ist die Bitte um Geduld. Ich wundere mich immer wieder: Wir haben vor ziemlich exakt 12 Monaten hier eine Debatte über die Zahl von Flüchtlingen, die möglicherweise Schleswig-Holstein erreichen wird, gehabt. Ich kann mich noch erinnern, dass noch an dem Dienstag der Innenminister im Ausschuss gesagt hatte, dass er mit circa 10.000 Flüchtlingen rechne. Am Mittwochmorgen hat der Ministerpräsident hier von 20.000 gesprochen. Inzwischen wissen wir, dass es eine ganz andere Zahl

(Dr. Ralf Stegner)

geworden ist. Das ist gerade einmal 12 Monate her und nicht 12 Jahre.

Wenn wir manchmal erwarten, dass die europäischen Institutionen, das Parlament, die Kommission, der Rat, 28 nationale Parlamente und Regierungen und dazu noch 16 Länderparlamente und Regierungen alleine in Deutschland -

Herr Kollege, beachten Sie bitte Ihre Redezeit.

Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin.

Wenn wir erwarten, dass die alle sich zu den kompliziertesten Sachverhalten des internationalen Völkerrechtes verständigen sollen und dies in wenigen Wochen, Tagen oder über Nacht geschehen soll, während wir selbst - mit Verlaub - es hin und wieder nicht schaffen, 800 m Radweg in weniger als 12 Jahren zustande zu bringen - wir könnten auch ein paar andere Beispiele von gestern nehmen, wo es manchmal länger dauert -, dann sollten wir die Institutionen auch nicht überfordern, wenn wir über die gemeinsamen Anstrengungen für ein besseres Europa nachdenken.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)