Protocol of the Session on March 22, 2017

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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Erste Parlamentarische Untersuchungsausschuss hat Zustände in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung in unserem Land nachgewiesen, die nicht nur Ministerin Alheit und Staatssekretärin Langner ausweislich ihrer Stellungnahme tief betroffen gemacht haben. Schutzbedürftigen Mädchen ist Leid zugefügt worden. Um diese Mädchen und diese Kinder geht es hier, nicht um die Aktenordnung, Herr Ministerpräsident, und nicht um formal wohl noch korrektes Verwaltungshandeln, Frau Ministerin Alheit. Es geht darum, ob wirklich alles getan wurde, um diese Missstände umgehend zu beenden, und vor allem darum - das sollte uns alle in diesem Haus hoffentlich einen -, wie wir zukünftig sicherstellen, dass sich Derartiges nicht in anderen Einrichtungen in unserem Land wiederholen kann.

(Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Vorab ist festzustellen: Es haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Ministerin Alheit oder Staatssekretärin Langner vor dem 29. Mai 2015 über Vorkommnisse oder Besonderheiten im Zusammenhang mit dem Friesenhof Kenntnis erlangt haben. Allerdings - das sage ich ausdrücklich - wäre eine frühere Information geboten gewesen. Sie ist unterblieben, weil die Meldekette im Ministerium mehrfach versagt hat.

Herr Kollege Dr. Stegner, wenn ein Untersuchungsausschuss auch zur Entlastung beitragen kann, so ist das nicht verwerflich, sondern eigentlich auch

(Dr. Marret Bohn)

die Aufgabe des Untersuchungsausschusses. Es geht nicht nur darum, etwas Belastendes zu finden, sondern auch darum, Leute im Zweifel von einem Vorwurf, von einem Verdacht freizusprechen.

(Beifall Wolfgang Dudda [PIRATEN])

Die FDP-Fraktion hat im Verlauf der Untersuchungen festgestellt, dass die Vorgänge um den Friesenhof und deren Aufarbeitung durch den Untersuchungsausschuss alle Beteiligten, auch die Verantwortlichen im Ministerium, zusätzlich sensibilisiert haben und dass heute ein konsequenteres Eingreifen gegenüber Trägern stattfindet. Das, Frau Ministerin Alheit, begrüßen wir im Interesse der Kinder und Jugendlichen ganz ausdrücklich. Es war allerdings eine notwendige Reaktion, eine, die nach unserer Auffassung auch schon früher auf der Basis des geltenden Rechts gegenüber dem Friesenhof möglich gewesen wäre.

Angesichts der Tatsache, dass auch die Frau Ministerin die Zustände im Friesenhof im Nachhinein ausdrücklich bedauert, mutet es wie eine Groteske an, dass die Koalitionsfraktionen im Abschlussbericht eigentlich nichts Schlimmes feststellen konnten. Die Situation in der Einrichtung sei - Zitat - „recht diffus“ geblieben, und Kindeswohlgefährdungen habe man nicht feststellen können, Frau Kollegin Bohn, weil man nicht im Einzelnen nach konkretem Datum, konkretem Ort, Ablauf und den jeweiligen Beteiligten einzelne Sachverhalte ermittelt habe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich die Augen ganz fest zuhält, der kann auch nichts sehen. Selbst wenn Sie definitorisch Kindeswohlgefährdungen für Träger einer Jugendhilfeeinrichtung nach dem SGB allein am Maßstab des § 1666 BGB messen wollen, einem Maßstab, den die Familienrichter beim Entzug des Sorgerechts gegenüber den leiblichen Eltern eines Kindes anlegen müssen, würde Ihnen angesichts der Fülle von unterschiedlichen erniedrigenden Erziehungsmethoden, die der Ausschuss zur Kenntnis nehmen musste, angesichts der vielen Aussagen von Betreuten und Betreuern zu Übergriffen und angesichts der Vielzahl von Tatsachen, die eine entwürdigende und auf Zwang basierende Erziehungspraxis im Friesenhof verdeutlichen, nach meiner festen Überzeugung fast jeder Familienrichter das Vorliegen einer insgesamt kindeswohlgefährdenden Situation attestieren.

(Beifall FDP und vereinzelt CDU)

Regelhafte körperliche Kontrolle der Betreuten bei Aufnahme durch Entkleiden bis auf die Unterwäsche - durch den Rechtsbeistand der Trägerin zuge

standen -; freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegen Entweichen durch wiederholtes Abschrauben von Fenstergriffen und Wegnahme der Schuhe; regelhafte inhaltliche Kontrolle ausgehender Post bei gleichzeitiger Kontaktsperre zu den Eltern durch Lesen aller Briefe; regelmäßiges Abhalten von Gruppensitzungen über Stunden, in denen Betreute teilweise intime Details der eigenen Biographie in bloßstellender Weise vor Dritten vortragen mussten; Strafsport; Isolierung; körperliche Gewalt durch Fixierungen; Wegnahme persönlicher Gegenstände; Pflicht zum Tragen von Einheitskleidung und Einheitsfrisur; Einschüchterung und Bedrohung durch verbale Gewalt von Betreuern - und das alles in erheblicher Abweichung zur Konzeption der Einrichtung und ohne eine genügende Anzahl von Fachkräften und qualifiziertem Personal. Und Sie können Kindeswohlgefährdungen nicht sehen?

Ich finde es beschämend, wie Sie durch Ihre Relativierungen und Verniedlichungen im Abschlussbericht die Mädchen verhöhnen und ein zweites Mal zu Opfern machen.

(Beifall FDP und CDU)

- Ja, so ist es. - Eine gewisse Zeit hatte ich das Gefühl, die Trägerin des Friesenhofs könnte anwaltlich nur ungenügend vertreten sein. Erst nach Vorlage der Bewertung durch SPD, Grüne und SSW und der Aussage des derzeitigen Rechtsbeistandes der Trägerin, dass Ihre Feststellungen seine Klage gegen das Land stützten - das muss man sich einmal vorstellen! -, ist mir klar geworden, dass Sie sich zu Anwälten der Trägerin und damit zu Anwälten dieser furchtbaren Erziehungsmethoden gemacht haben.

Da ist es kein Wunder, dass die Koalitionsfraktionen auch am Verhalten der Heimaufsicht nichts auszusetzen haben. Bis auf die Tatsache, dass eine Auflagenverfügung zu abstrakt und generalisierend formuliert war, hat die Heimaufsicht alles richtig gemacht. - Aha!

Wir haben uns als FDP-Fraktion um ein differenziertes Bild bemüht. Um eines vorweg deutlich zu sagen: Positiv war und ist festzustellen, dass die Heimaufsicht auf alle Hinweise und Beschwerden durch Rückfragen und einige örtliche Prüfungstermine reagiert hat. Eine „Kultur des Wegsehens“, wie sie Kollege Dudda von den PIRATEN behauptet, konnten wir nicht erkennen.

Allerdings hat sich die Heimaufsicht mit den relativierenden und bestreitenden Stellungnahmen der Trägerin und deren Rechtsbeistand in aller Regel zufriedengegeben. Dies mag, wie es die Gutachter

(Wolfgang Kubicki)

im Ausschuss festgestellt haben, formal noch korrekt gewesen sein. Auch die FDP-Fraktion bestreitet nicht, dass die Gutachter attestiert haben, dass die Heimaufsicht nicht anders hätte handeln müssen.

Die Frage aber lautet: Ist wirklich alles getan worden, um die Missstände in der Einrichtung so früh wie möglich zu beenden? Anders gefragt: Hätte die Heimaufsicht auch anders handeln können? Und diese Frage beantwortet meine Fraktion mit einem eindeutigen Ja.

Wir haben uns die Mühe gemacht, im Abschlussbericht darzulegen, wo wir die Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten gesehen haben. Dies betrifft eine intensivere Aufklärung der Zustände in der Einrichtung, insbesondere aufgrund der sich ab Herbst 2013 massiv verdichtenden Beschwerden und Hinweise, eine konsequentere Erteilung und Durchsetzung von konkreten Auflagen, eine frühzeitigere Gesamtschau auf die Zustände in der Einrichtung statt einer nur singulären und isolierten Betrachtung von Einzelvorkommnissen und eine juristisch präzisere und fundiertere Bearbeitung. Ein solches Vorgehen hätte der Heimaufsicht die Möglichkeit gegeben, deutlich früher als erst im Sommer 2015 gegenüber der Trägerin einzuschreiten. Und nur darauf kann es doch ankommen. Dies bedeutet auch - dies kann auch in völliger Übereinstimmung mit den Gutachtern festgestellt werden -, dass ein Widerruf der Betriebserlaubnis auch früher hätte erfolgen können.

Dies führt mich abschließend zu einer weiteren Feststellung: Wer nach den Vorgängen im Friesenhof sofort reflexartig nach Gesetzesänderungen ruft, wie wir das ansonsten nur aus dem Bereich der inneren Sicherheit kennen, der will gemeinhin nur von Vollzugdefiziten ablenken.

Natürlich kann man die Forderung erheben, anlasslose örtliche Prüfungen von Einrichtungen nach § 46 Absatz 1 SGB VIII ausdrücklich zu ermöglichen. Aber im vorliegenden Fall hätten sie nichts verändert; denn Kontrollen und daraus resultierende Erkenntnisse gab es ja genug, nicht aber genügende Konsequenz in der Aufklärung und der Durchsetzung von Maßnahmen gegenüber dem Träger.

Und auch auf der Grundlage des geltenden Rechts kann man bei der Prüfung der Konzeptionen von Einrichtungen einen individuellen Personalschlüssels festlegen und durchsetzen, zumindest einmal überprüfen, ob ausreichend Fachpersonal vorhanden ist. Wer als Konsequenz aus diesem Untersuchungsausschuss nur auf Gesetzesänderungen

starrt, der wird eine Wiederholung des Falles Friesenhof nicht verhindern können.

(Beifall FDP und CDU)

Ich sage ausdrücklich - dies gilt auch für meine Fraktion -: Ich bin tatsächlich froh, dass das Personal der Heimaufsicht aufgestockt worden ist, weil das mehr Kontrollen und mehr Durchsetzungsfähigkeit sicherstellen kann.

Bleibt zu hoffen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass durch den Untersuchungsausschuss und die dadurch erfolgte Sensibilisierung des Ministeriums und der Heimaufsicht ein konsequenteres Eingreifen gegenüber Trägern und damit eine veränderte Verwaltungspraxis erzeugt wurde. Im Interesse der untergebrachten Kinder wäre das viel wert.

Ich wünsche mir, dass Vorfälle wie im Friesenhof in Schleswig-Holstein künftig tatsächlich ausgeschlossen sind. - Herzlichen Dank.

(Beifall FDP und CDU)

Das Wort für die Fraktion der PIRATEN hat nun der Kollege Wolfgang Dudda.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte mich zunächst bedanken, allen voran bei der Kollegin Ostmeier und beim Kollegen Weber. Insbesondere dann, wenn uns die Anwälte das Handwerk nicht ganz einfach machten, Fragen nicht zulassen wollten und es zu juristischen Streitereien kam, haben sie durch Ihre ruhige Verhandlungsleitung dazu beigetragen, dass wir überhaupt verhandeln konnten, dies auch unterstützt durch Frau Riedinger und alle anderen Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Dienstes. - Dafür vielen Dank.

(Beifall PIRATEN)

Das Gleiche trifft aber auch auf alle Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen zu, mit denen ein sachliches Arbeiten über die 62 Sitzungen durchweg möglich war, mit denen wir uns immer vernünftig verständigt haben und ein vernünftiges Beratungsklima hatten.

Ich möchte auch den Mitarbeitern des Landtags danken, die, wie Frau Ostmeier bereits angedeutet hat, uns bis spätabends zur Verfügung standen, herausgehoben Herrn Göllner, der das Chaos der Akten so gut verwaltet hat, sodass wir alle gut durch

(Wolfgang Kubicki)

gefunden haben. Das war eine bemerkenswerte Leistung.

(Beifall PIRATEN, CDU und FDP)

Damit bin ich bei meiner ersten Bemerkung. Frau Raudies, ich finde, dass jeder Cent, der in diesen Untersuchungsausschuss investiert worden ist, berechtigt ist, weil dieser Untersuchungsausschuss zumindest zwei Dinge hervorgebracht hat. - Die anderen werde ich im Laufe meiner Rede noch erwähnen.

Dieser Untersuchungsausschuss führt dazu, dass in nächster Zeit wohl kein Ministerium Überlastungsanzeigen ungehört lassen wird. Wenn die Aufgabe einfach nicht erfüllt werden kann und Hilferufe zu einem Ministerium kommen, so werden diese, ganz gleich in welchem Ministerium, zumindest eine Zeitlang wohl ernster genommen.

Genauso verhält es sich mit den Trägern der Einrichtungen à la Friesenhof. Sie sind so abgeschreckt, dass wir für sie als Standort mit Sicherheit eine Weile uninteressant sind. Deshalb verstehe ich auch die Worte der Kollegin Ostmeier so, dass dieser Bericht kein Abschluss ist, sondern ein Anschluss, dass wir wachsam sind, damit sich solche Dinge bei uns im Land nie wiederholen.

Wir haben im Laufe der Zeit eine Menge Fachleute, Experten und sogenannte Experten gehört, darunter so skurrile Figuren wie den Herrn Kannenberg oder auch tatsächlich wissenschaftliche Gutachter. Einer davon ist Professor Dr. Schrapper. Er hat in einem Aufsatz mit dem Titel „Wie aus Kindern mit Schwierigkeiten ‚schwierige Fälle‘ werden“ eine Feststellung getroffen, die ich symptomatisch und bemerkenswert für das finde, was hier passiert ist. Ich zitiere aus seinem Aufsatz wörtlich:

„In den sogenannten ‚schwierigen‘ Fällen gelingt (die Kooperation zwischen unterschied- lichen Trägern und Institutionen) offensichtlich in dem Maß immer weniger, in dem Fälle und Situationen eskalieren … Sich anbahnende Eskalationen führen dazu, dass sich die beteiligten Organisationen und Systeme zunehmend auf die eigenen Grenzen und Zuständigkeiten zurückziehen, eine Negativbewertung der Kooperationspartner vornehmen und weniger ‚lösungsorientiert‘ denken und kooperieren.“

Das haben wir auch festgestellt. Es gab immer Schuldzuweisungen zwischen Jugendämtern und zwischen dem Friesenhof und allen, und man hat sich auf seine eigene Insel zurückgezogen.

Diese Feststellung passt nicht nur zu den Vorgängen, die Gegenstand des Untersuchungsausschusses waren. Sie findet ihre Fortsetzung auch in den Bewertungen nahezu aller Fraktionen. Statt Verantwortung zu übernehmen oder sie zumindest klar zu benennen, wird auch hier weiter in Dimensionen von Zuständigkeiten diskutiert und werden vor allem auch die Grenzen von Zuständigkeiten betont. Das ist angesichts des Ergebnisses, das wir eigentlich erzielen wollten, nicht ausreichend.

(Beifall PIRATEN)

So stehen wir heute hier und stellen alle miteinander betroffen fest, was in den Einrichtungen des Friesenhofs alles möglich war - dies ist mehrfach beschrieben worden - und was den dort untergebrachten Kindern und Jugendlichen angetan wurde, bedauern aber gleichzeitig, dass angeblich rechtlich nicht mehr möglich gewesen sei. Die Schuld trifft nicht Schleswig-Holstein, sondern den uneinsichtigen Gesetzgeber in Berlin.

Mit dieser Einstellung, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir nichts ändern, und es wird sich bei uns nichts ändern.