Protocol of the Session on June 18, 2021

Login to download PDF

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die heutige Sitzung des Schleswig-Holsteinischen Landtags.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten: Kære Jette, tillykke med fødselsdagen! Forbliv sund og bliv som du er. - Alles Gute zum Geburtstag!

(Beifall)

Liebe Lüüd, op Platt is dat nich so swaar.

(Jette Waldinger-Thiering [SSW] werden Blumen überreicht)

Nach Mitteilung der Fraktionen sind erkrankt: in der CDU-Fraktion Kollege Harmut Hamerich und in der SPD-Fraktion Kollege Tobias von Pein und der fraktionslose Abgeordnete Dr. Frank Brodehl. Wir wünschen gute Besserung!

(Beifall)

Wegen auswärtiger Verpflichtungen ist von der Landesregierung die Ministerin Dr. Sütterlin-Waack heute beurlaubt.

Für die Fraktionen von CDU und FDP haben die Abgeordneten Lehnert, Fehrs und Kumbartzky nach § 47 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Landtags mitgeteilt, dass sie an der Teilnahme an der heutigen Sitzung verhindert sind.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:

Daseinsvorsorge in der Gesundheitsversorgung und Pflege sichern

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 19/3097

Gesundheits- und Pflegeversorgung kontinuierlich weiterentwickeln

Alternativantrag der Fraktionen von CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP Drucksache 19/3125

Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. Ich eröffne somit die Aussprache. - Für die SPDFraktion hat der Abgeordnete und Fraktionsvorsitzende Dr. Ralf Stegner das Wort.

(Beifall Christopher Vogt [FDP])

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich durfte meine Karriere in Kiel im

Bereich der Sozialpolitik beginnen und rede deshalb heute besonders gern zu einem Antrag, den meine Fraktion seit dem vergangenen Jahr vorbereitet hat.

Umfragen zeigen, dass den Deutschen die eigene Gesundheit gleichbleibend wichtig ist. Trotzdem ist das oft eher abstrakt, solange man gesund ist. Wirklich bedeutsam wird es mit der Gesundheit erst dann, wenn sie verloren zu gehen droht. Ich bin mir sicher: Das trifft auf die allermeisten hier auch zu.

Nach dem vergangenen Jahr kann man festhalten: Mit dem Gesundheitssystem verhält es sich nicht viel anders. Selten zuvor sind die Bedingungen dort so in den Fokus geraten, und zwar zu Recht. Corona hat vielen Menschen Leid, Schmerz und enorme Belastungen gebracht, manchen auch den Tod. Die Debatte zum Corona-Gedenkort in dieser Woche hat darauf verwiesen.

Zumindest hat die Pandemie geholfen, die dringend notwendige Aufmerksamkeit auf die Situation in unseren Krankenhäusern, Pflegeheimen und Praxen zu richten. Dem enormen Einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesen Einrichtungen ist es maßgeblich zu verdanken, dass unser Land einigermaßen glimpflich durch die Pandemie gekommen ist - ihnen schulden wir unseren Dank -,

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, SSW und vereinzelt CDU)

und das, obwohl viele von ihnen schon vor Corona unter Bedingungen arbeiten mussten, die in den letzten Jahren stetig härter geworden sind. Unser Gesundheitssystem steht unter Druck. Eine ältere Gesellschaft und bessere, aber eben auch teurere Behandlungsmethoden haben die Kosten stetig wachsen lassen. 1999 lagen die Gesundheitsausgaben in der Bundesrepublik bei 208 Milliarden €; 20 Jahre später sind wir bei 410 Milliarden € angelangt. Gleichzeitig stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt im selben Zeitraum um rund zwei Prozentpunkte. Das sind enorme Dimensionen.

Diese Entwicklung hätte bereits vor vielen Jahren Anlass für eine grundlegende Diskussion sein müssen: Was ist uns eigentlich die Gesundheit wert? Und: Wer trägt die Kosten?

Vor dieser Diskussion haben sich viele gedrückt. Stattdessen wurde landauf, landab nach Lösungen gesucht, die Kostensteigerung im System aufzufangen. Eine der Folgen sind die vielen privatisierten, ehemals öffentlichen Krankenhäuser und Pflegeheime. Der Zeitgeist war: Private können besser mit

Geld umgehen; Einrichtungen in der Hand großer Konzerne kommen uns billiger.

Das war ein fataler Irrglaube, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Betten oder Kittel mögen günstiger werden, wenn man sie im Hunderterpack für mehrere Häuser bestellt; auf die Gesamtkalkulation haben sie kaum Auswirkungen. Das Personal in den Häusern ist der entscheidende Faktor. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben den Preis für diese Entwicklung bezahlt, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall SPD)

Schlechtere oder gar keine Tarifverträge, weniger Personal, Arbeitsverdichtung und Stress - ein System unter enormem Druck. Jedes privatisierte Krankenhaus, in dem Personal zusammengestrichen wird, erhöht den Druck auf die verbliebenen öffentlichen Krankenhäuser, weil anderswo vorgeblich so viel günstiger gearbeitet werden kann. Das ist ein Teufelskreis.

Darauf zumindest hat die Pandemie den Fokus gerichtet. Die Belegungsquoten in den Intensivstationen waren Aufmacherthemen in der Tagesschau, die Arbeitsbedingungen in den Kliniken Aufhänger für seitenfüllende Reportagen.

Die meisten kommen irgendwann an den Punkt, an dem die eigene Gesundheit nicht mehr selbstverständlich ist, weil auf einmal Beschwerden auftauchen oder der Hausarzt eine Diagnose eröffnet, auf die man gern verzichtet hätte. Das ist selten schön, kann aber auch das Signal sein, etwas zu ändern, gesünder zu leben, sich anders zu ernähren, mehr Sport zu machen, Gesundheit nicht selbstverständlich zu nehmen. Corona muss dieses Signal für unser Gesundheitssystem sein.

Wir sollten uns bei diesen Zielen ehrlich machen, und ich tue das für meine Fraktion an dieser Stelle. Wir wollen, dass die Menschen in Deutschland eine hervorragende und moderne Gesundheitsversorgung bekommen. Wir wollen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Arbeitsbedingungen vorfinden, die sie nicht zwingen, nach wenigen Jahren den Beruf zu verlassen oder in Teilzeit zu gehen. Wir wollen nie wieder unvorbereitet in eine Krisensituation kommen, wie wir das im letzten Jahr erleben mussten. Das ist die Zielvorgabe.

(Beifall SPD, SSW und Lasse Petersdotter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Man muss ehrlicherweise sagen: Wir werden mehr Geld in die Hand nehmen müssen. Die Entspannung der Coronalage eröffnet das Zeitfenster, um

über die Zeit nach der Pandemie zu diskutieren. Dafür hat meine Fraktion 14 Punkte zur Daseinsvorsorge in der Gesundheitsversorgung und in der Pflege vorgelegt. Einige der Punkte sind direkte Folgen aus den Erfahrungen der letzten Monate.

Es darf nie wieder passieren, dass in einer Pandemie in Krankenhäusern oder anderen Einrichtungen ohne Schutzausrüstung gearbeitet werden muss, weil Vorräte fehlen oder Lieferketten zusammenbrechen. Wir brauchen für die Zukunft Mindestbevorratungsmengen und eine gesicherte Produktion in Europa. Pandemien sind nicht länger ein Szenario aus Science-Fiction-Filmen. Darum brauchen wir auch einen besser vorbereiteten öffentlichen Gesundheitsdienst. Die Mitarbeiter dort waren für den Kampf gegen Corona teilweise nicht gut vorbereitet. Dass sie noch per Fax kommuniziert haben, ist doch wirklich ein schlechter Scherz.

Ich sage das nicht nur mit Blick auf die technische Ausstattung. Ich glaube, dass einige unserer Punkte auch Fragen aufgreifen, die durch Corona noch drängender geworden sind: Pflegende und Gepflegte beispielsweise waren enormen Belastungen ausgesetzt. Besonders groß war die Belastung dort, wo die passenden Pflegeangebote noch immer fehlen. Wir brauchen einen Kraftakt für die Kurzzeitpflege. Wir wollen nicht, dass Menschen aus dem Krankenhaus nicht mehr nach Hause können und in den Heimen landen, weil wir nicht genügend Kurzzeitpflegeeinrichtungen haben. Das hat Folgen für mobile Pflegedienste und für Beratungsangebote.

(Beifall SPD und SSW)

Wir müssen auch Schluss machen mit der Flickschusterei und eine zukunftssichere Finanzierung aufbauen. Kein Weg führt am Ende an einer Bürgerversicherung vorbei, bei der alle dabei sind und die alle solidarisch mitfinanzieren.

(Beifall SPD und Eka von Kalben [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN])

Es geht darum, dass die Eigenanteile bei den Pflegeleistungen reduziert oder abgeschafft werden. Es geht darum, dass das nicht die älteren Menschen und deren Familien belastet. Es geht darum, dass wir solidarisch die Krankenhäuser finanzieren, nicht nur mit Blick auf Investitionen, sondern auch mit Blick auf die Leistungen. Fallpauschalen sind ein Irrweg, wenn sie Fehlanreize auslösen. Früher hat man gesagt: Ihr liegt zu lange in den Betten. Heute werden die Patienten teilweise blutig entlassen. Das kann nicht die Lösung sein, wenn die Betriebswirtschaft hier obsiegt.

(Dr. Ralf Stegner)

(Beifall SPD und SSW)

Wer ein Beispiel braucht, um festzustellen, warum das System krank ist, der schaue sich doch einmal die Kindermedizin an. Natürlich werden Kinder weniger krank als ältere Menschen; Gott sei Dank. Aber wenn sie ernsthaft krank werden, dann müssen sie doch die beste Betreuung bekommen, die möglich ist, und zwar egal, ob sich das rechnet oder nicht. Es ist unsere Verpflichtung als Politik, dafür zu sorgen, dass das möglich ist.

(Beifall SPD)

Deswegen gehört eine starke öffentliche Daseinsvorsorge auch ins Grundgesetz; da gehört sie hin. Natürlich wissen wir: Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer. Das wissen wir alle. Aber Gesundheit und Pflege sind eben auch keine Waren, die man nach unternehmerischen Maßstäben bewerten könnte. Es ist doch ein unhaltbarer Zustand, wenn große Teile des Gesundheitswesens von Akteuren besetzt sind, die möglichst viel Rendite erzielen wollen. Es ist in der Gesundheit nicht das Richtige, die Rendite zum Maßstab zu machen, sondern das Wohl der Patientinnen und Patienten sollte der Maßstab sein.

(Beifall SPD, SSW und vereinzelt BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Schulen sind für Schülerinnen und Schüler da, Universitäten für Studierende und Forscherinnen und Forscher, Krankenhäuser für kranke Menschen und nicht für Konzerne, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist die Konsequenz.

Es ist die Solidargemeinschaft, die das Gesundheitssystem finanziert, und diese Solidargemeinschaft hat ein Anrecht darauf, dass mögliche Gewinne auch wieder ins System zurückkehren. Mit der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens in Deutschland muss Schluss sein.

Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Natürlich haben wir eines der besten Gesundheitssysteme der Welt; das ist wahr. Viele andere würden sich ein solches System wünschen. Aber es gibt eben auch große Unterschiede bei der Lebenserwartung. Man hat gesehen, dass manche Menschen stärker unter der Pandemie leiden als andere. Wer arm ist, darf nicht krank werden, und wer krank ist, darf nicht arm werden. Wir sind auf dem Weg dahin, dass das so ist. Das müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.