Stephan Braun
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Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Wacker, Sie haben Recht, die Jugendenquetekommission war ein Erfolg. Sie hat zu spürbaren Verbesserungen geführt. Sie hat die Jugendpolitik in BadenWürttemberg vorangebracht. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind stolz darauf, die Jugendenquetekommission im Wesentlichen vorbereitet und mit eingebracht zu haben. Wir freuen uns, dass es uns gelungen ist, mit Ihnen einige wegweisende Projekte auf den Weg zu bringen, Projekte, gegen die Sie sich teilweise viele Jahre gewehrt haben. Das ist ein Erfolg.
Aber wir sind natürlich auch weit davon entfernt, Hymnen zu singen, denn dazu gibt es keinen Grund. Die Enquete ist abgeschlossen. Die Forderungen stehen da, größtenteils einvernehmlich verabschiedet, aber in der Umsetzung, die ja Aufgabe dieser Landesregierung war und leider noch ist, hapert es gewaltig. Fünf Stichpunkte will ich nennen.
Erstens: das Jugendleiter-Sonderurlaubsgesetz. Wir sind uns einig, dass die jungen Leute besser sind als ihr Ruf, dass sie sich einbringen, engagieren, Verantwortung über
nehmen wollen. Ich bin sicher, wir alle, die wir hier sitzen, werden nicht müde, diese Bereitschaft und dieses Engagement zu loben, zu würdigen, und dies völlig zu Recht. Doch die jungen Leute wollen nicht nur Lob hören, sie wollen Taten sehen, völlig zu Recht, und sie weisen eindringlich darauf hin, dass sie ihr bürgerschaftliches, ihr ehrenamtliches, ihr freiwilliges Engagement verantwortlich ausüben wollen. Dazu ist Fortbildung notwendig, und zwar nicht zu knapp.
Sie können doch nicht, werte Kollegin, in vielen Reden die nachlassende Erziehungskraft vieler Familien beklagen, daraus die Überforderung der Schulen ableiten und dann so tun, als könnten 16-Jährige die Verantwortung übernehmen als Gruppenleiter, als Mitarbeiter in Projekten, als Mitarbeiter in Freizeiten und locker ohne ein Minimum an Ausund Fortbildung auskommen.
Das Jugendleiter-Sonderurlaubsgesetz für Jugendliche ab 16 Jahre muss her. Helga Solinger hat in der letzten Legislaturperiode bereits einen Entwurf vorgelegt. Da waren Sie leider noch nicht so weit. Sie haben das in der Enquete erkannt. Aber jetzt, anderthalb Jahre nach dieser Enquete, erklärt die Landesregierung lapidar: „Die Meinungsbildung ist noch nicht abgeschlossen.“
Seit mehr als einem halben Jahrzehnt ist dies Thema, und die Landesregierung hat sich noch keine Meinung gebildet. Man sollte es nicht glauben!
Zweitens: Jugendsozialarbeit an Schulen. Es war Konsens in der Enquete, dass die Jugendsozialarbeit an Schulen gefördert und ausgebaut werden soll. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben viele Jahre dafür gekämpft. Heute gibt es ein breites Bündnis für diese Arbeit. Ob Sie den Landeselternbeirat fragen, Ausbildungsleiter in den Betrieben, Kommunalpolitiker, Jugendsachbearbeiter der Polizei, alle sind sich einig: Dieser Ausbau muss kommen, er muss rasch kommen und unter dauerhafter Beteiligung des Landes. Wir haben beschlossen, dass eine künftige Finanzierung im Einvernehmen mit den Landkreisen, Städten und Gemeinden erfolgen soll. Einvernehmen ist nicht herzustellen, wenn einer der Partner sagt: Mir gebet nix! Das heißt, das Land ist hier dauerhaft in der Pflicht, muss dauerhaft mit dabei sein.
Inwieweit dies dann aber für Sie gilt, da habe ich meine Zweifel. Denn wie sonst ist zu erklären, dass Sie nun erst einmal Erfahrungen sammeln wollen, diese auswerten wollen, um dann endlich in den Haushaltsberatungen 2002/ 2003 – da ist die Wahl vorbei – zu entscheiden? Als wenn es nicht schon genug Erfahrungen mit der Jugendsozialarbeit an Schulen über viele Jahre hinweg gäbe! Und wie sonst ist es zu erklären, dass Sie in den Verhandlungen über die künftige Regelfinanzierung die Beteiligung der Kommunen und Jugendhilfeträger festschreiben wollen, aber von einer Beteiligung des Landes keine Rede mehr ist? Ganz davon abgesehen, dass die derzeitige Förderung genau 269 Anträge erfasst und nur 91 Schulen zum Zug kommen. Das reicht hinten und vorne nicht.
Drittens: verlässliche Öffnungszeiten an Schulen und der Ausbau von Ganztagsangeboten. Sie verweisen stolz auf eine Steigerung um 8 % bei den Hortgruppen innerhalb eines Jahres, und Sie verschweigen, dass wir im Vergleich unter den westlichen Bundesländern unter „ferner liefen“ laufen. 3,5 Hortplätze auf 100 Kinder sind es im Durchschnitt der westlichen Bundesländer, 1,8, also etwa die Hälfte, in Baden-Württemberg. Das sind die Relationen, wenn es um die Betreuung unserer Kinder geht und um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Bei den Grundschulen verweigern Sie den Kindern den Unterricht, den die anderen Bundesländer ihren Kindern bieten, und führen Schulgeld durch die Hintertür ein.
Wenn Sie schreiben, dass die Handlungsempfehlung der Enquete, ein flexibles, bedarfsorientiertes Konzept zu entwickeln, mit der Einführung der verlässlichen Grundschule erfüllt ist, dann spricht dies den Empfehlungen der Enquete Hohn.
Die Realität an unseren Schulen sieht anders aus. Die Klagen der Eltern, der Schüler und der Lehrer belegen dies täglich eindrücklich.
Viertens: Integration von jugendlichen Migrantinnen und Migranten. Meine Damen und Herren, was haben Sie in der letzten Zeit nicht alles über Integration gesagt, wie wichtig es ist, dass diejenigen, die dauerhaft bei uns leben wollen, auch Deutsch lernen müssen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Diese Forderung teilen wir, denn wer sich integrieren will, muss sich mit den Menschen, mit denen er lebt, auch verständigen können, ein Beitrag, der von Migrantinnen und Migranten zu leisten ist.
Aber wo ist der Beitrag der Landesregierung? Integration ist ein zweiseitiger Prozess. 1990 erhielten noch 30 % der ausländischen Jugendlichen bei uns Sprachförderung, im vergangenen Jahr waren es nur noch 12 %. Das nenne ich „Sprachförderung light“, ein Beitrag zu der von Ihnen propagierten Leitkultur. Was will man im Grunde auch anderes erwarten von einem, der 100 Millionen DM ausgibt, nur um nicht Hochdeutsch lernen zu müssen.
Fünftens: die Förderung von Benachteiligten. Dazu hatten wir einvernehmlich empfohlen, dass sich das Land verstärkt für die Schaffung von Ausbildungsverbünden einsetzen soll, dass es modulare Ausbildungsgänge erproben und die Vergaberichtlinien ändern soll. Darauf hatten wir uns geeinigt – alle Fraktionen, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die Jugendhilfe und die Kommunen. Es ist eine große Chance für benachteiligte Jugendliche, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und eine Hilfe für die Betriebe, die sagen: Wir lassen den Jungen oder das Mädel nicht im Stich.
Was ist geschehen? Nichts. Sie verweisen auf das JUMPProgramm der Bundesregierung, zweifelsohne ein sehr erfolgreiches Programm, da haben Sie Recht. Aber das ist doch kein Grund, sich zurückzulehnen angesichts von 30 000 arbeitslosen Jugendlichen in Baden-Württemberg. Zum Zurücklehnen sind Sie nicht gewählt. Sie können doch nicht nur darauf warten, dass andere Ihnen die Arbeit abnehmen.
Ich meine, das machen wir ja gern. Aber das geht halt erst ab 2001, da sind wir realistisch. Bis dahin sollten Sie schon noch etwas tun.
Frau Kollegin Blank, ich muss mich schon wundern. Den Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen,
dass Jugendliche, die Probleme haben, diese Probleme vorwiegend mit sich selbst haben.
Oder in sich selbst haben. „Herzlichen Dank“, wird ein Behinderter sagen. „Herzlichen Dank“, wird ein ausländisches Mädchen oder ausgesiedeltes Mädchen sagen, die immer noch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. So stelle ich mir Jugendpolitik hier im Lande nicht vor.
Sie haben gesagt, die Sprachförderung sei nicht heruntergefahren worden, nur der muttersprachliche Unterricht sei heruntergefahren worden. Ich führe die Antwort der Landesregierung an:
1990/91 waren es noch 721 Vorbereitungs- und Förderklassen und – –
Hören Sie sich das an! – 1990/91 waren es 721 Vorbereitungs- und Förderklassen und 6 550 Kurse für Schüler. 1999/2000 – das sind die Vergleichszahlen, die hier angegeben werden – waren es 560 Klassen und 1 815 Kurse.
Nein. Ich möchte jetzt hier noch schnell weitermachen, sonst komme ich auch nicht mehr zum Jugendbericht.
Zur Jugendsozialarbeit: 269 Anträge und 91 Genehmigungen. Ich höre aber mit Freude, dass Sie sich auf eine Drittelfinanzierung hinbewegen.
Nun zum Jugendbericht. Meine Damen und Herren, was soll man zu dem Jugendbericht sagen? Sie haben fleißig gearbeitet oder arbeiten lassen
und viele Seiten gefüllt, aber unter dem Strich ist es ein Offenbarungseid. Sie wurden gebeten, den Landesjugendbericht geschlechterdifferenziert zu verfassen. Diesem Auftrag, dieser Empfehlung sind Sie nicht gefolgt. Sie weisen darauf hin, dass die Jugendhilfeplanung im Land sehr heterogen verläuft. Das heißt, in einigen Kreisen verläuft sie sehr gut, in anderen weniger, und in wieder anderen ist es ein Trauerspiel. Aber was Sie aus dieser Erkenntnis schlussfolgern,
bleibt im Verborgenen. Sie weisen darauf hin, dass die Armut unter den Heranwachsenden in Baden-Württemberg
wächst. Aber Sie verschweigen, wie Sie darauf zu reagieren gedenken. Da sind ein paar Absichtserklärungen, aber keine Perspektiven, nichts Verbindliches. Das ist ein Zeugnis der politischen Hilflosigkeit. Das wissen Sie. Ich zitiere aus dem Jugendbericht:
Es wäre vermessen, wollte der Landesjugendbericht versuchen, die Fülle der in diesen Dokumenten und im Landesjugendbericht selbst zusammengetragenen Erkenntnisse vollständig zu bündeln und in Erwartungen an Politik und Praxis der Jugendhilfe der Zukunft umzusetzen.
Man kann es auch anders sagen: Die Landesregierung ist von der Fülle der Informationen erschlagen. Sie liegt jugendpolitisch darnieder und hat keinen Plan, wie sie sich wieder aufrappeln soll.
Wo findet denn der Leser oder die Leserin in diesem Bericht den Willen und den Plan, junge Leute wirklich ernst zu nehmen, sie mitreden und mitentscheiden zu lassen, wo das Versprechen, den Fehler der einseitigen Festlegung auf Jugendgemeinderäte in der Gemeindeordnung rückgängig zu machen, alle Partizipationsformen als gleichrangig und gleichwertig in die Gemeindeordnung aufzunehmen und die Jugendlichen selbst entscheiden zu lassen, in welcher Form ihre Partizipation zu geschehen hat?
Es wäre noch schöner, wenn wir jungen Leuten vorschrieben, in welcher Form die Jugendpartizipation vonstatten gehen soll.
Frau Blank.
Frau Kollegin Blank, wir wissen, dass wir ordentliche strukturelle Voraussetzungen haben. Sie haben vorhin selbst darauf hingewiesen, dass das nicht in erster Linie ein Verdienst der Landesregierung ist. Ich verweise auf die Zahlen, die die Landesregierung selber nennt, beispielsweise darauf, dass es im Land Baden-Württemberg immer noch 32 000 arbeitslose Jugendliche gibt. Ich sage Ihnen: Jeder jugendliche Arbeitslose ist mir ein Arbeitsloser zu viel.
Solange die Jugendarbeitslosigkeit andauert,
können wir nicht zufrieden sein und dürfen wir uns nicht zurücklehnen. Wo ist auch das Bekenntnis, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken?
Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Aber Sie denken nicht daran; Sie dokumentieren es eben wieder.
Sie denken darüber offensichtlich auch nicht nach.
Ich rate Ihnen: Überlassen Sie die Erstellung künftiger Landesjugendberichte denen, die davon tatsächlich etwas verstehen, externen Expertinnen und Experten. Es ist wirklich an der Zeit, die Zersplitterung der Ministerien und des wichtigen Jugendbereichs, der sich in diesem Dokument widerspiegelt, zu beenden. Dieser Jugendbericht kann für junge Leute wirklich nur eine herbe Enttäuschung sein.
Herr Minister, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie über den brennpunktorientierten Ausbau der Schulsozialarbeit hinausgehen wollen?
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, dass die Enquetekommission nicht nur den Einstieg als Sofortmaßnahme finanziert haben wollte, sondern dass sie beschlossen hat, dass über die weitere Finanzierung Einvernehmen mit den Jugendhilfeträgern und den Kommunen herzustellen ist? Einvernehmen ist nur herzustellen, wenn
sich alle Partner beteiligen, also auch das Land. Dies ist die dauerhafte Perspektive, die darin enthalten ist.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Um es gleich zu sagen: Das Thema „Gewalt an Schulen“ ist uns sehr wichtig. Wir nehmen dieses Thema sehr ernst.
Jedes einzelne Delikt ist ein Delikt zu viel. Aber wir müssen auch die Schule im Dorf lassen. Das, was Sie hier gezeichnet haben, Herr Deuschle, ist weit von der Wirklichkeit entfernt. Sie machen die jungen Leute zum Problem. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Die Fakten: Die Polizeiliche Kriminalstatistik, die dieser Tage von den Innenministern in Bund und Ländern veröffentlicht worden ist, sagt klar: Die Zahl der Tatverdächtigen unter den Jugendlichen sinkt. Die Zahl der Tatverdächtigen unter den Kindern sinkt. Die Zahl der Tatverdächtigen unter den Nichtdeutschen sinkt. Das ist die Realität.
Schauen Sie die Schulen an, fokussieren Sie die Schulen, dann stellen Sie fest: Die Zahl der Delikte beträgt, gemessen an der Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler, 0,24 %.
Kollege Wacker hat dies gerade ebenfalls angeführt. Nur damit klar ist, worüber wir reden. Die Jugendlichen sind besser als ihr Ruf, Herr Deuschle.
Der Rektor der Fachhochschule der Polizei in VillingenSchwenningen führt aus: Gewalt findet in erster Linie in
den Familien statt, nicht in den Schulen. Drei von vier Einsätzen der Stuttgarter Polizei wegen Gewaltdelikten führen in Familien. Kinder und Jugendliche sind häufiger Opfer als Täter. Und Feltes kommt zu dem Schluss – ich zitiere ihn wörtlich –:
Die Fokussierung der Jugendgewalt durch die Erwachsenenwelt hat auch eine gewisse Rechtfertigungs- und Entlastungsfunktion. Verschleiert wird damit, dass die Bedingungen zur Entstehung von Jugendkriminalität zu einem wesentlichen Teil von der durch die Erwachsenen konstruierten und geschaffenen Welt geschaffen werden.
Deshalb: Lassen Sie uns über das reden, wofür wir Verantwortung tragen und wo wir unserer Verantwortung gerecht werden müssen. Lassen Sie uns über Familien- und Jugendpolitik sprechen.
Dazu, sage ich Ihnen, steht erstens fest – darüber waren wir uns in der Jugendenquetekommission einig, und ich denke, das sind wir uns auch heute noch –, dass ein enger, aber nicht zwingender Zusammenhang besteht zwischen den Zukunftsperspektiven junger Leute, der sozialen Lage und der Bereitschaft zur Gewalt und dass Gewalt zuallererst in den Familien gelernt wird.
Die Landesregierung sieht es offenbar ebenso. Sie sagt: „Junge Menschen, die Opfer innerfamiliärer Gewalt waren, schließen sich signifikant häufiger in Gewalt befürwortenden Gleichaltrigengruppen zusammen.“ Das ist leicht nachzuvollziehen. Auch die Erfahrung zeigt: Wer zu Hause Gewalt erlebt, wird später häufiger selbst zum Täter. Wer von seinen Eltern geschlagen wird, damit er gehorcht, bekommt beigebracht, dass das Recht des Stärkeren gilt – nicht die Stärke des Rechts. Diese Gewaltspirale gilt es zu durchbrechen.
Deshalb hat die Bundesregierung zu Recht eine Initiative ergriffen, einen Gesetzentwurf eingebracht, um Kindern ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung einzuräumen. Wir legen damit fest, dass Kinder zunächst einmal ein Recht haben, überhaupt erzogen zu werden und dass sich jemand um sie kümmert. Die Erziehung muss gewaltfrei sein, eine Tracht Prügel gehört eben nicht zur Erziehung. Dass das noch nie jemandem geschadet habe, ist blanker Unsinn.
Die Bundesregierung hat diese Initiative zu Recht ergriffen, und ich baue darauf, dass diejenigen, die noch Widerstand leisten, die sich hier noch wehren, diesen Widerstand aufgeben, weil es zuerst um die Kinder geht und nicht um die Frage, wer das alles schon längst hätte machen können. 16 Jahre lang hätten Sie ja Zeit dazu gehabt.
Zweitens – und auch darüber waren wir uns in der Jugendenquetekommission einig –: Häufig gibt derjenige, der unter besonderem Druck steht, diesen Druck weiter, weil er oft auch gar nicht anders kann. Das heißt, dass die Familien, die während der 16 Jahre währenden Regierungszeit Kohl schlecht gefahren sind, materieller und personeller Hilfe bedürfen.
Da sage ich Ihnen: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beobachten mit Sorge, dass in Baden-Württemberg beispielsweise das Pro-Kopf-Einkommen junger Ehe
paare mit Kindern, verglichen mit dem kinderloser Paare, geringer ist als in anderen Bundesländern, beispielsweise in Bayern oder Niedersachsen. Deshalb sagen wir: Es ist an der Zeit, dass die Einkommensgrenzen beim Landeserziehungsgeld angehoben werden und dass die Eltern freier als bisher wählen können, wann sie diese Hilfen in Anspruch nehmen und wie sie das Landeserziehungsgeld mit einer Teilzeitbeschäftigung kombinieren.
Wir meinen, die Verbesserungen beim Bundeserziehungsgeld müssen dazu führen, dass sich die Landesregierung ein Beispiel nimmt, dass sie nachzieht und dass sie die Familien ebenfalls unterstützt.
Drittens ist hier vor allem die Schulpolitik gefragt. Ich muss Ihnen sagen: Ich habe eine riesige Hochachtung vor dem, was Lehrerinnen und Lehrer hier leisten, und davor, wie Eltern, Betriebe, Sozialarbeiter und Schüler sich einbringen. Ich danke ihnen allen auch im Namen meiner Fraktion ausdrücklich.
Was die Menschen aber zutiefst beunruhigt – das muss ich Ihnen sagen –, ist, dass sie den Eindruck nicht loswerden, dass die Landespolitik sie hängen lässt, dass Sie mit 356 verschiedenen Versuchen und Modellen Verunsicherung in die Schulen bringen, statt endlich verlässlich und berechenbar zu werden. Hier haben wir einen gewaltigen Nachholbedarf. Deshalb werde ich in der zweiten Runde einige Vorschläge hierzu unterbreiten.
Herr Kollege Deuschle, ich weiß nicht, wo Sie leben. Wenn ich Ihnen zuhöre, bekomme ich das Gefühl, dass Sie erst einheizen. Die Wirklichkeit sieht nämlich anders aus. So wird man seiner Verantwortung nicht gerecht.
Herr Köberle, Sie haben im Grunde Recht, wenn Sie auf Verbindlichkeit setzen, wenn Sie Streitschlichter, Prävention, Ethik, Sport ansprechen. Aber wissen Sie: Wenn wir wieder Ruhe, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit in die Schulen kriegen wollen – und das ist die Voraussetzung dafür, dass man Gewalt nachhaltig in den Griff bekommt und die jungen Leute nachhaltig Zukunftsperspektiven haben –,
dann kommen wir mit vielen gesetzten Worten nicht weiter, dann müssen wir sehen, dass es bereits an den Basics fehlt.
Wie wäre es denn, wenn Sie sich einmal anschicken würden, den Unterricht zu garantieren? Das brächte mehr als tausend wohlgesetzte Worte. An allen Ecken fällt Unterricht aus, weil zu wenig Lehrer eingestellt werden, weil Krankheitsreserven fehlen.
Diejenigen, die schulpflichtige Kinder haben, können ein Lied davon singen. Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass wir von den Stundentafeln her schon weniger Unterricht anbieten als andere Bundesländer. Beispielsweise hinken wir bei den Grundschulen weit, weit hinter Bayern her. Wie wäre es denn, wenn Sie sich darum kümmern würden? Wie wäre es denn, wenn Sie sich einmal um die viel zu großen Klassen kümmern würden?
Nach den Zahlen der Kultusministerkonferenz liegt BadenWürttemberg im Ländervergleich bei den Hauptschulen auf Rang 8, bei den Gymnasien auf Rang 9, bei den Grundund Realschulen auf Rang 10. Das ist doch alles andere als Spitze. Da lernt doch der Teufel eher Hochdeutsch, als dass er sich im Bundesvergleich nach vorne arbeitet.
Der Ergänzungsbereich, AGs, Stütz- und Förderkurse, Sprachförderungen, sind vom Kultusministerium so gut wie platt gemacht.
Das ist nicht irgendetwas, was verzichtbar wäre, sondern dabei geht es um ganzheitliches Bildungsverständnis, um die, die Probleme machen, weil sie Probleme haben, und nebenbei um die Glaubwürdigkeit einer Partei, die hausieren gegangen ist mit Unterschriftenlisten unter dem Titel „Integration statt doppelter Staatsbürgerschaft“.
Wie wäre es denn, wenn Sie einmal mehr Energie darauf verwenden würden, die Schulen zu öffnen? Nicht umsonst hat sich die Jugendenquetekommission für verstärkte Kooperationen zwischen Schule und verbandlicher Jugendarbeit, zwischen Schule und Jugendsozialarbeit, zwischen Schule und Wirtschaft ausgesprochen. In der verbandlichen Jugendarbeit werden soziale Schlüsselqualifikationen trainiert und ausgeprägt. Das ist ein hervorragender Ansatz gegen Gewalt. Schulsozialarbeit entlastet den Unterricht – eine hervorragende Reaktion auf Gewalt, eine hervorragende Prävention, ein hervorragender Ansatz, um Schlüsselqualifikationen herzustellen.
Wir haben ja erst ein Bündnis aus Lehrern, Eltern, Wirtschaft und Polizei gebraucht, um Sie aufs richtige Gleis zu hieven. Und was machen Sie dann? Sie brauchen ein geschlagenes Jahr, um gemeinsame Förderrichtlinien hinzukriegen. Und dann ist das einzig Gemeinsame das Wort „gemeinsam“ in der Überschrift.
Sie verweigern sich standhaft einer dauerhaften und verlässlichen Drittelfinanzierung für den Ausbau der Schulsozialarbeit, wobei die Fachleute in Ihrem Ministerium hinter vorgehaltener Hand schon lange sagen, dass eine solche notwendig wäre.
Wir haben uns auf eine Anschubfinanzierung geeinigt, also eine Finanzierung, die die Schulsozialarbeit an weiteren Schulen etablieren will.
Jetzt erfahren wir in der Praxis, dass bereits bestehende Projekte damit finanziert werden sollen. So war das nicht gemeint! Wir wollten das in die Fläche bringen. Wir wollten Verlässlichkeit herstellen, wollten Neues einführen. Dem werden Sie so nicht gerecht.
Ich will noch ein Beispiel aus der Praxis bringen. Beispiel Jugendberufshelfer: Das liegt Ihnen ja nahe, dafür haben Sie sich ja eingesetzt. Das steht auch in den Förderrichtlinien. Da wollen Schulen zusammen einen Jugendberufshelfer bekommen. Die Schulen wenden sich an ihren Abgeordneten, und daraufhin müssen sie bei der Schulbehörde „vorsingen“, weil sie den Dienstweg nicht eingehalten hätten. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, so stelle ich mir den Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts vor, nicht den Partner Staat des 21. Jahrhunderts.
So darf man mit den Menschen nicht umgehen. Unser Land hat großartige Chancen, gewaltige Möglichkeiten, und diese werden von Ihnen gehemmt. Wir haben engagierte Lehrer, engagierte Eltern, eine junge Generation, die einsteigen und Verantwortung übernehmen will, die uns aber vorhält, dass wir es in der Schulpolitik nicht mehr schaffen, auch nur annähernd mit der Wirklichkeit Schritt zu halten. Ich denke, sie hat ein ganzes Stück weit Recht.
Ihre Schulpolitik ist noch lange nicht in der Gegenwart angekommen, geschweige dass Sie eine tragfähige Option auf die Zukunft hätten.