Friedhelm Ernst
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Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Angenommen, Frau Präsidentin – aber nur angenommen –, ich hätte jetzt zu Ihnen „Herr Oberbürgermeister“ oder „Herr Landrat“ gesagt,
dann hätte die Mehrzahl der Mitglieder hier im Haus gesagt: Der hält seine erste Rede und ist nervös. Ein Teil von denen, die medizinisch vorgebildet sind, hätten vielleicht tiefer darüber nachgedacht und gesagt: Das ist der Anfang einer Demenz.
Denn genau das ist es. Das Kurzzeitgedächtnis geht als Erstes verloren. Ich hätte also praktisch vergessen, dass ich mit Ihnen seit acht Wochen hier im Landtag sitzen darf. Das Langzeitgedächtnis wäre noch da; ich würde mich daran erinnern, dass ich früher einmal in Anwesenheit des Oberbürgermeis ters oder des Landrats im Stadtrat oder im Kreistag eine Rede halten durfte.
Dann habe ich mich heute Morgen geprüft: Ich habe meinen Schlüssel gefunden, meinen Geldbeutel, meine Aktentasche mit der Tagesordnung darin. Meine Tests waren also erfolgreich: Ich bin noch fit.
Beim Betrachten der Ausführungen in der Antwort auf die Große Anfrage der CDU fallen einige Punkte ganz schnell ins Auge. Davon sind mit Sicherheit die Zunahme der Zahl der Demenzkranken im Zeitraum von 2000 bis 2010 um 30 % und die für 2010 bis 2020 prognostizierte Zunahme um 35 % zu nennen. Dabei fragt man sich zu Recht, insbesondere wenn man die absoluten Zahlen sieht – die Zahl der Demenzkranken liegt allein in Baden-Württemberg in der Größenordnung von immerhin 117 000 bis 197 000; das wurde vorhin schon erwähnt –: Wo leben diese Menschen, und wo sind sie untergebracht?
Meine Damen und Herren hier im Plenum, können Sie sich daran erinnern, dass Ihnen irgendwann beim Einkaufen je
mand begegnet ist, von dem Sie meinten, er sei an Demenz erkrankt, oder dass Sie beim sonntäglichen Mittagessen in einem Gasthaus jemanden sahen, von dem Sie dies glaubten? Diese Leute sieht man nicht und nimmt sie nicht wahr, aber sie sind da.
In der FAZ stand vor Monaten ein Aufsatz, aus dem ich Ihnen gern kurz zitieren möchte:
Ich habe eine schreckliche Nacht hinter mir: Ich habe geträumt, Hans sei langsam und qualvoll verdurstet. Er lag mit dicker, geschwollener Zunge im Bett und hat mich angesehen, als wolle er sagen: Warum hilfst du mir nicht? Als ich aufwache, frage ich mich wieder und wieder, was ich tun soll, denn mein Traum kommt nicht von ungefähr: Hans trinkt seit sieben Tagen fast gar nichts mehr! Er scheint nichts zu vermissen, …
In diesem Artikel beschreibt eine Ehefrau, die ihren seit Jahren an Demenz erkrankten Ehemann pflegt, ihre persönlichen Erfahrungen.
70 % aller Demenzkranken werden derzeit von ihren Angehörigen im häuslichen Umfeld gepflegt und betreut. Die Belastungen für die Angehörigen sind groß. Erschöpfungszustände und psychosomatische Erkrankungen der Betreuenden sind oft die logische Konsequenz. Das müssen Sie mir als jemandem, der zu Hause eine Apotheke führt, einfach abnehmen.
Deshalb scheint mir die Antwort der Landesregierung in die richtige Richtung zu gehen. Die Ausführungen zum „ZehnPunkte-Aktionsprogramm Demenz“ bringen das zum Ausdruck.
Es geht zum einen darum, Hilfestrukturen und Versorgungsformen zu entwickeln, die den Bedürfnissen sowohl der Erkrankten als auch der pflegenden Familienmitglieder oder Betreuer mehr entgegenkommen, als dies bisher der Fall ist. Es geht zum Zweiten darum, den Stellenwert der stationären Einrichtungen im Versorgungsnetz zu erhöhen.
Im Einzelnen sehen die angestrebten Ziele folgendermaßen aus:
Deutliche Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit für alle Probleme, die die Erkrankungen mit sich bringen.
Deutlich verbesserte Frühdiagnostik und Therapie. Dass daran gearbeitet wird, zeigen die unterschiedlichsten Forschungsgruppen an den zuständigen baden-württembergischen Universitäten.
Deutliche Verbesserung von Hilfen und Entlastungsmöglichkeiten für Angehörige. Dabei soll keinesfalls kleingeredet werden, was von vielen staatlichen und privaten Leistungserbringern bereits auf die Beine gestellt wurde.
Deutliche personelle Erhöhung der ambulanten und stationären pflegerischen Versorgung. Dabei ist besonders erwähnenswert, dass mit einem abgestuften Hilfesystem annähernd eine flächendeckende Hilfe erreicht werden soll. Noch haben wir nach den mir vorliegenden Auskünften ein deutliches Gefälle von der städtischen zur ländlichen Versorgung.
Innovative Fort- und Weiterbildungsangebote, die sowohl gezielte Informationen über das Krankheitsbild Demenz bein
halten als auch alle rechtlichen Ansprüche auf Leistungen aus Kranken- und Pflegeversicherung sowie die zu beachtenden Rahmenbedingungen zum Inhalt haben.
Nicht zuletzt, aber wohl nur über einen längeren Zeitraum durchführbar und finanzierbar: die Planung und Schaffung von ergänzenden Wohnformen und damit die Chance für die Demenzkranken zur Einrichtung von Wohngemeinschaften. Ers te Ideen und Vorstellungen dazu gibt es bereits bei den Trägern der Altenhilfe und Altenpflege in Baden-Württemberg.
Meine Damen und Herren, wir können die Augen vor der vorhin aufgezeigten Entwicklung nicht verschließen. Die dauerhafte Finanzierung aller angeführten möglichen Vorhaben wird uns vor große Probleme stellen. Dabei darf die eventuell nötig werdende höhere finanzielle Belastung des Erkrankten nicht ein Maß erreichen, bei dem Akzeptanzprobleme entstehen.
Die Leistungsanteile der Kassen oder der Pflegeversicherungen, staatliche Zuschüsse und Eigenmittel der Erkrankten müssen hinterfragt und politisch geklärt werden.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen: Die Fraktion der FDP/ DVP begrüßt die Antwort der Landesregierung zur Großen Anfrage der Fraktion der CDU ausdrücklich. Bei der Umsetzung sind viele Personen und Institutionen mit eingeplant. Am Schluss werden in der Antwort bei allen Anregungen und Punkten die Leistungserbringer genannt. Das reicht von der Ärzteschaft und den Pflegekräften im ambulanten und stationären Bereich über die Träger und Anbieter der Altenhilfe und die gerontopsychiatrischen Beratungsstellen bis hin zu den Kranken- und Pflegekassen. Dazu kommen die Freiwilligeninitiativen und Selbsthilfegruppen. Man sieht: Das ist eine große Vielfalt von an der Umsetzung Beteiligten.
Nicht überall werden wir Freudenschreie hören.
Ich schließe mit einem geflügelten Wort, das bei Gerontologen gelegentlich die Runde macht: Man muss nur alt genug werden, um die eigene Demenz zu erleben.