Wolfgang Staiger
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Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir heute Morgen eine hitzige Debatte über grundsätzliche bildungspolitische Ziele und Entwicklungen geführt haben, können wir heute Nachmittag ein bisschen in die Praxis gehen und zu dem kommen, was uns in diesem Land auch berührt. Wir müssen etwas thematisieren, was heute Morgen auch von unserer Seite zu kurz gekommen ist, nämlich die Situation von Kindern mit Behinderungen in unserem Schulsystem.
In der Diskussion über den Sinn des dreigliedrigen Schulsys tems wird immer vergessen, dass wir ein weitaus differenzierteres Schulsystem haben mit einer bunten Palette von Sonderschulen, wo Kinder mit Behinderungen beschult, betreut und gefördert werden.
Mit diesem Antrag wollen wir das Thema „Inklusion bzw. Integration von Kindern mit Behinderungen“ verstärkt in die bildungspolitische Diskussion einbringen und erste Schritte dazu vorschlagen.
Es geht uns auf dem Weg zu einer zukünftigen inklusiven Schule – möglicherweise eine Vision einer Schule für alle, die natürlich auch differenzierende Anteile haben kann und muss – zunächst um die Weiterentwicklung des bisherigen, schwach entwickelten und unzureichenden Integrationsangebots in Kindertagesstätten und Schulen. Bei dieser Weiterentwicklung sehen wir die Sonderschulen in der Rolle als Kompetenzzentren, die diesen Prozess konstruktiv begleiten.
Wir wollen damit erreichen, dass die wohlklingenden Sätze, die Sie bei Veranstaltungen mit Menschen mit Behinderungen immer hören – z. B. „Mittendrin statt außen vor“ oder „Es ist normal, verschieden zu sein“ –, schrittweise mit ganz einfachen Maßnahmen in konkrete Politik umgesetzt werden können. Denn die schulische und vorschulische Wirklichkeit in Bezug auf die Integration von Kindern mit Behinderungen ist bei Weitem nicht so ideal, wie es die Stellungnahme des Kultusministeriums erscheinen lässt.
Die Zwischenbilanz des Landesbehindertengleichstellungsgesetzes wurde auf Anregung des Sozialministeriums von den Verbänden und Selbsthilfeverbänden für Menschen mit Behinderungen kommentiert. Die Rückmeldung der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen betraf vor allem den Bildungsbereich. U. a. wurde festgestellt: Es ist noch weitgehende Praxis, dass Kinder mit Behinderungen nicht bei der zuständigen Grundschule angemeldet werden können, sondern aufgrund von Absprachen der Schulkindergärten und Sonderschulen gleich in Sonderschulen eingeschult werden.
Als weiterer Punkt wurde angeführt, begonnene Integrationsprojekte in der Grundschule könnten in der Sekundarstufe nicht weitergeführt werden, weil sie nicht genehmigt würden. Solche Bemerkungen und Bewertungen – das sind vielleicht Einzelfallbeispiele, die man jedoch nicht pauschalisieren sollte – teile ich nicht im vollen Umfang. Ich weiß nämlich, dass die Kolleginnen und Kollegen engagiert mit förderbedürftigen behinderten Kindern arbeiten und die Eltern kompetent beraten. Ich bin an einer Förderschule tätig, mache auch noch Beratungsarbeit in der Frühberatungsstelle und arbeite in Kooperation mit Grundschulen.
Wir haben jedoch ein Dilemma: Wir haben nur ein eingeschränktes Angebot zu machen, denn nach wie vor gibt es einen letztendlichen Vorrang der Segregation, also der Ausgliederung, vor der Integration, nämlich dann, wenn die Bedingungen der Verwaltungsvorschrift – das heißt, das Schulgesetz – nicht erfüllt werden können.
Wir haben keine Verankerung von integrativem, zieldifferentem gemeinsamem Unterricht im Schulgesetz. Sonderpädagogische Förderung an Regelschulen ist – wenn überhaupt – nur möglich, wenn die Schüler hierdurch in die Lage versetzt werden, dem Bildungsgang der Allgemeinschulen zu folgen. Es wird nach wie vor die passende Schule für das jeweilige Kind gesucht und nicht die Schule bzw. die Lernumgebung für das Kind passend gemacht.
Dabei sind solche heterogenen Lerngruppen, in die diese Kinder integriert werden, sehr positiv; sie stellen eine Bereicherung des Schullebens und eine Bereicherung auch für die Kinder dar, die normal entwickelt und nicht z. B. entwicklungsverzögert sind. Es stärkt die kognitive Kompetenz und die Sozialkompetenz.
Meine Damen und Herren, um Missverständnisse zu vermeiden, stelle ich klar: Es geht uns nicht um eine „Zwangsintegration“, sondern es geht um Wahlmöglichkeiten für Eltern und Kinder, um pädagogisch sinnvolle Alternativen, um Entwicklungsmöglichkeiten von allgemeinen Schulen in Kooperationen mit Sonderschulen und um die Weiterentwicklung integrativer Schulprojekte, die natürlich – dazu stehen wir auch – evaluiert werden müssen.
Dabei sind die Sonderpädagogen mit ihrer Ausbildung unverzichtbar. Sie arbeiten heute in einem schwierigen Umfeld: Die äußeren Rahmenbedingungen sind gekennzeichnet durch mehr und intensivere Beratungstätigkeit bei seit über zehn Jahren gleich bleibender Zahl von Deputatsstunden, z. B. in der Frühberatungsstelle, bei zunehmender Nachfrage von den Grundschulen nach Kooperationen und der fehlenden Zeit dafür, bei kritischen und abwehrenden Eltern, die, wenn sie „Sonderschule“ hören, den Kontakt abbrechen – vor allem sind solche Prozesse bei Familien mit Migrationshintergrund festzustellen, die Kinder in der Schule haben.
Wir kämpfen in der Beratungstätigkeit um Verständnis und um Zustimmung für besondere Fördermaßnahmen, geraten aber hier sehr schnell an Grenzen, weil wir auch zeitlich nicht die Möglichkeit haben, ausreichend zu begleiten.
Deshalb geschieht etwas, was man „graue Integration“ nennen könnte: Das Kind mit besonderem Förderbedarf bleibt in der Grundschule. Eine individuelle Förderung ist bei einer Klassenstärke von 25 Schülerinnen und Schülern jedoch nur eingeschränkt möglich. Stütz- und Förderunterricht gibt es zweimal in der Woche, die Hausaufgabenbetreuung wird möglicherweise nur unregelmäßig wahrgenommen. Das Kind erreicht das Klassenziel nicht. Die Konsequenz daraus ist die Wiederholung der Klasse, die weitere Konsequenz ist eine be
schädigte Schulkarriere. Dies schadet den Kindern in ihrer psychischen Entwicklung, in ihrer Gesamtentwicklung, und es schadet – wenn man es gesamtgesellschaftlich sieht – uns allen.
Deshalb möchten wir, dass am Anfang der Bildungsbiografien von Kindern mit Behinderungen und Kindern mit besonderem Förderbedarf Begleitung und Beratung sichergestellt werden und dass ein solcher Förderbedarf nicht notwendigerweise bedeutet, dass das Kind auf eine Sonderschule muss. Es kann auf eine Sonderschule gehen – dazu sagen wir ausdrücklich Ja –, aber es muss nicht. Dazu müssen die Sonderpädagogen aber in die zahlreichen Projekte wie „Schulreifes Kind“, „Bildungshaus“ und in andere Vorstellungen zur Weiterentwicklung von Schule einbezogen werden, die vor Ort durchaus sinnvolle Ergebnisse bringen können.
Mit diesem Antrag wollen wir eine Entwicklung anstoßen, die zieldifferente, integrative Angebote in Kooperation mit Sonderschulen ermöglicht, die integrative Schulentwicklungsprojekte unterstützt und die Sonderschulen zu Kompetenzzentren entwickelt, die wirklich niederschwellige Beratung bieten können, weil diese nicht in die Sonderschule einweisen müssen, sondern Alternativen aufzeigen können. Wir können an diesen Kompetenzzentren Hilfen organisieren und bereitstellen und Kinder in Grundschulen begleiten. Dazu sind aber Ressourcen dringend notwendig.
Der Ihnen vorliegende Änderungsantrag Drucksache 14/3493 sollte, denke ich, im Schulausschuss intensiv diskutiert werden, und zwar im Interesse der Betroffenen, weil sich Möglichkeiten ergeben könnten, die zu einer befriedigenden Lösung führen. Ich bitte Sie deshalb, einer Ausschussüberweisung zuzustimmen.
Danke schön.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Landtag im Sommer des letzten Jahres zum „Tag behinderter Menschen“ eingeladen hat, war das Interesse der Betroffenen und ihrer Verbände sowie auch der Abgeordneten, muss ich sagen, groß. Die Diskussionen waren konstruktiv, engagiert und zielgerichtet.
Es wurde darauf hingewiesen, dass aufgrund der demografischen Entwicklung, aber auch aus Gründen einer modernen Bürger- und Menschenrechtspolitik eine ambitionierte Behindertenpolitik des Landes erforderlich sei. Damit wurde die Erwartung verbunden, dass sich auch etwas tut, z. B. dass das Landes-Behindertengleichstellungsgesetz novelliert wird, weil es sich als zahnloser Tiger erwiesen hat.
Alle Abgeordneten würdigten das Engagement der Betroffenen als Experten in eigener Sache und sagten Unterstützung zu. Aber, meine Damen und Herren, getan hat sich nichts.
Wir fragen uns natürlich schon: Welchen Sinn machen solche Veranstaltungen, bei denen Abgeordnete mit Betroffenen diskutieren, wenn daraus für die Arbeit im Parlament keine Konsequenzen erfolgen?
Wenn ich das Argument höre, dass die Regierungsfraktionen auf die Anhörung und einen Entwurf der Regierung warteten, so halte ich das für eine Selbstentmachtung des Parlaments und einen zumindest fragwürdigen parlamentarischen Stil. Mit ebendiesem Argument wurden unser Antrag und die Durchführung einer öffentlichen Anhörung im Sozialausschuss abgelehnt. Damit wollten die Regierungsfraktionen das Thema geräuschlos erledigen. Wir machen da natürlich nicht mit.
Wir sehen uns auch den Anliegen und den konstruktiven Vorschlägen der Betroffenen, ihrer Verbände und Angehörigen
verpflichtet. Darum ist dieser Antrag, auch wenn er bereits im Juli 2007 eingebracht wurde, so aktuell wie eh und je.
Wir erwarten für das laufende Jahr 2008, dass sich etwas tut.
Natürlich wissen wir auch, dass Gesetze allein die Situation der Betroffenen nicht umfassend verbessern können. Aber sie sind die Leitplanken auf dem Weg zu dem Ziel „Mehr Teilhabe und Selbstbestimmung“.
Als das Landes-Behindertengleichstellungsgesetz im Jahr 2005 verabschiedet wurde, wurde es von den Betroffenen mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Erfreulich war, dass ein solches Gesetz geschaffen wurde – nach langer Diskussion.
Aber in die Freude mischte sich auch die Enttäuschung darüber, dass dieses Gesetz weit hinter den Gleichstellungsgesetzen anderer Länder zurückblieb.
Wir haben dies damals kritisiert und konstruktive Vorschläge gemacht. Wir kritisieren dies heute wieder und machen in Übereinstimmung mit den Betroffenen und ihren Verbänden wieder konkrete und konstruktive Vorschläge. Ich will dies ganz kurz in drei Punkten deutlich machen:
Der Geltungsbereich des Gesetzes beschränkt sich auf Landesbehörden. Das Gesetz nimmt kommunale Behörden überall dort aus, wo es für die Betroffenen konkret wird, z. B. auf den Bürgermeisterämtern, auf den Landratsämtern, in den Gemeindeverwaltungen. Nach der Verwaltungsstrukturreform, mit der Sie ja die Nähe zum Bürger gesucht haben, gibt es außer dem Finanzamt keine Behörde mehr, wo das bisherige Gesetz den Betroffenen, die mit Stadt- und Landkreisverwaltungen zu tun haben, wirklich zugutekommt.
Im Gesetz fehlen Regelungen zur Bestellung von Behindertenbeauftragten in Kreisen und Gemeinden. Das Landes-Behindertengleichstellungsgesetz sieht bisher als Kannregelung einen vom Ministerpräsidenten bestellten Landesbehindertenbeauftragten vor. Diese Funktion wird zurzeit von Herrn Hillebrand, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit und Soziales, wahrgenommen.
Als Mitglied der Landesregierung ist er in erster Linie natürlich den Zielen der Landesregierung verpflichtet, und eine effektive Interessenvertretung erfordert Unabhängigkeit.
Wir wollen, dass ein Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen bestellt wird, der unabhängig von der Landesregierung tätig ist und der über eine angemessene Infrastruktur verfügt. Der Integrationsbeauftragte der Landes
regierung hat eine solche Infrastruktur: Er hat sechs Mitarbeiter.
Wir wollen auch, dass der Behindertenbeauftragte des Landes dem Landtag und der Landesregierung berichtet und zur Lage der Menschen mit Behinderungen im Land zeitnah Aussagen darüber macht, wo tatsächlich noch Verbesserungen notwendig und wichtig sind.
Meine Damen und Herren, ich bin heute mit dem Zug gefahren und habe gesehen, wie es auf Bahnhöfen in unserem Land aussieht und wie es mit barrierefreier Mobilität aussieht. Es ist noch einiges zu tun in diesem Bereich.
Ich denke, dass ein Behindertenbeauftragter des Landes auch daran mitwirken kann, dass hier etwas in Bewegung gerät.
Wir wollen im Gesetz das Benachteiligungsverbot für öffentliche Stellen, das Menschen mit Behinderungen im Umgang mit Behörden das Recht auf Verwendung der Gebärdensprache und anderer Kommunikationshilfen und das Recht auf barrierefreie Gestaltung des Schriftverkehrs garantiert, auf den kommunalen Bereich ausweiten.
Und wir wollen, dass die Stadt- und Landkreise und Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern gesetzlich verpflichtet werden, eine Persönlichkeit zur Beratung in Fragen der Behindertenpolitik zu bestellen. Das kann durchaus auch im Ehrenamt mit Betroffenen organisiert werden. Sie sind die Experten und können bei Stadtplanung, Stadtentwicklung, Verkehrskonzepten und Planung von öffentlichen Gebäuden mit ihrem Rat, mit ihrer Kenntnis, mit ihrer Kompetenz dazu beitragen, dass viel Geld gespart wird.
Wir wollen auch – wir haben das ja in 15 Punkten detailliert aufgelistet –, dass z. B. die Integration von Kindern mit Behinderungen in Kindertagesstätten, vorschulischen Einrichtungen und Schulen stärker befördert wird, als das zurzeit im Land geschieht. Wir haben heute Morgen kurz einen Eindruck davon bekommen, wie das bei uns aussieht.
In einer Anhörung zu unserem Antrag und zu den 15 Punkten, in denen wir Veränderungen des Landes-Behindertengleichstellungsgesetzes vorschlagen, haben wir mit den Vertretern der Betroffenen, mit dem Landkreistag und dem Städtetag diskutiert, und wir haben von allen Seiten grundsätzlich Zustimmung erfahren. Wir sehen auch mit einer gewissen Genugtuung, dass der Landkreistag und Herr Staatssekretär Hillebrand die Bestellung von Behindertenbeauftragten empfehlen. Nur sehen wir die Form einer Empfehlung als nicht ausreichend an. Wir wollen vielmehr, dass die Landkreise verpflichtet werden. Wir sehen uns aber schon durch diesen ersten Schritt in unserer Arbeit bestätigt und in unseren Vorstellungen be stärkt.
Das reicht uns aber noch nicht aus. Wir wollen eine aktive, ambitionierte Politik für Menschen mit Behinderungen im Land. Es wäre schade, wenn sich die Haltung der Landesregierung und der Regierungsfraktionen weiterhin mit dem Satz des Soziologen Ulrich Beck umschreiben ließe: „Verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“.
Also tun Sie etwas. Sagen Sie uns heute, wann Sie die Anhörung planen und wann Sie das Gesetz novellieren wollen. Besser noch – es geht auch einfacher –: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Staatssekretär Hillebrand, ich unterstelle Ihnen – Herr Dr. Noll hatte dies behauptet – natürlich nicht, dass Sie nicht engagiert für die Belange behinderter Menschen in diesem Land einträten. Ich wollte nur darstellen, dass es Zielkonflikte geben kann,
wenn man in einer Landesregierung sitzt und die Betroffenen und ihre Verbände sozusagen als unabhängige Partner hat. Da kann es schon einmal zu Interessenkonflikten kommen.
Ich denke, dass die Verbände dies richtig sehen. Sie wollen natürlich Transparenz und auch Öffentlichkeit, und da wäre ein unabhängiger Landesbehindertenbeauftragter vielleicht besser geeignet. Ich sage nicht, Sie seien nicht geeignet; Sie verstehen schon, wie ich das meine.
Lieber Herr Rüeck, wer den Antrag der SPD als „rückwärtsgewandt“ bezeichnet, nimmt die Betroffenen nicht ernst.
Das, was wir formuliert haben, kommt von den Betroffenen selbst. Wir wollen auch kein neues Gesetz, sondern wir wollen ein Gesetz, bei dem wir von Anfang an gesagt haben: „Das passt nicht, das stimmt nicht genau“, auf der Basis der Erfahrungen, die wir jetzt zwei oder sogar zweieinhalb Jahre lang gesammelt haben, ändern.
Wir führen auch Anhörungen durch. Aber Sie schieben das. Sie schieben das genauso, wie Sie auch den ersten Entwurf schon geschoben haben. Ich denke jedoch, wir sollten hier etwas mehr Tempo machen; das sind wir auch den Betroffenen schuldig. Jeder hat auf den demografischen Wandel hingewiesen: Es sind mehr Menschen betroffen, als wir denken.
Es ist dringend und wichtig, hier etwas zu tun, und ich bitte Sie darum, dass das noch in diesem Jahr geschieht.