Kerstin Helmecke

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Forderung nach der stufenweisen Anhebung des Kindererziehungsgeldes möchte ich mit einer kurzen Bevölkerungsprognose beginnen.
Alle demographischen Untersuchungen enden in der Feststellung, daß einerseits die Weltbevölkerung jährlich um 80 Millionen Menschen wachsen und sich andererseits die Einwohnerzahl in Deutschland von derzeit 82 Millionen auf 63 Millionen verringern wird.
Die Zahl der Älteren und Rentner steigt. Dies ist Ausdruck einer höheren Lebenserwartung, die nach Ansicht der Bundesärztekammer in diesem Jahrhundert in Deutschland auf 100 Jahre steigen soll.
Meine Damen und Herren! Wenn das Statistische Landesamt feststellt, daß in Sachsen-Anhalt weniger Menschen geboren werden als sterben - auf zehn Geburten 17 Sterbefälle -, besagt dies auch, daß eine spürbare Geburtensteigerung nicht ausreichend begünstigt wurde. Dies betrifft nicht nur Sachsen-Anhalt, sondern alle Bundesländer.
Der Bevölkerungsrückgang und alle damit verbundenen Probleme, wie zum Beispiel die Preisgabe des Generationenvertrags, setzen Politiker und Gesellschaft unter Handlungszwang, wenn wir nicht wollen, daß die Bevölkerung in nur 40 Jahren um 18,5 Millionen auf 63 Mil
lionen Einwohner schrumpft bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl der über 60jährigen auf 40 %.
Die Geburtenentwicklung in Europa und insbesondere in Deutschland schreitet im Vergleich zu anderen Staaten mit negativem Beispiel voran. Mit einer Zahl von 1,4 Kindern pro Frau, wobei zu beachten ist, daß die Kinderlosigkeit zunimmt, ist der Generationenersatz schon jetzt um ein Drittel unterschritten. Im Vergleich hierzu hat die amerikanische Durchschnittsfamilie drei Kinder. Dies basiert auf einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz, nicht auf höheren Kindertransferleistungen.
Meine Damen und Herren! Jeder von uns weiß, daß hinter einer wirtschaftlichen Großmacht auch eine demographische Potenz steht. Eben diese droht Deutschland verlorenzugehen. Sozialwissenschaftler diagnostizieren daraus einen Bedeutungsverlust Deutschlands, gemessen am Weltmaßstab.
Nach sozialwissenschaftlichen Studien kann der Bevölkerungsrückgang und der Alterungsprozeß der Bevölkerung selbst mit höheren Wanderungsgewinnen nicht aufgehalten werden. Schon deswegen bekommt die Forderung nach Geburtenzunahme eine wichtige Funktion hinsichtlich der Ausgewogenheit zwischen jungen und alten Menschen.
Wie kann dies erreicht werden? - Ausgehend vom verfassungsmäßig verankerten Schutz in Artikel 9 des Grundgesetzes und von den unterschiedlichen Soziallagen der Familien ist auf Länder- und Bundesebene eine signifikante materielle, ideelle sowie soziokulturelle Aufwertung der Erziehungsleistungen von Frauen und Männern, die Kinder selbständig und verantwortungsbewußt erziehen, vorzunehmen.
Deshalb ist es notwendig, daß sich die Landesregierung in Abstimmung mit den anderen Bundesländern bei der Bundesregierung auf der Grundlage des Bundeserziehungsgeldgesetzes dafür einsetzt, daß das substituierbare Kindererziehungsgeld auf eine Höhe von 800 DM monatlich pro Kind bis zum fünften Lebensjahr und auf 1 000 DM monatlich pro Kind bis zum siebenten Lebensjahr schrittweise bis zum Jahr 2002 angehoben wird.
Um einen Ausgleich zwischen den finanziellen Belastungen und dem Nutzen, den Kinder der Gesellschaft bringen, zu schaffen, soll die Forderung von 1 000 DM monatlich ein Baustein unserer Familienförderungspolitik mit gerechterem Lastenausgleich für Erziehungs- und Betreuungsarbeit sein.
Sie folgt damit der jüngsten familienpolitischen Diskussion, nach der eine Gleichbewertung von Erziehungsund Erwerbsarbeit zur Förderung und Eröffnung kindorientierter Handlungsmöglichkeiten notwendig ist. Wir knüpfen hiermit an einer Stelle der CDU-Familienpolitik an, nach welcher derzeit 600 DM Kindererziehungsgeld bis zum zweiten Lebensjahr gezahlt werden sollen.
Dabei haben wir vor Augen, daß die Unterhaltskosten für Kinder, die sich am Existenzminimum orientieren, von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr bereits vor einigen Jahren auf durchschnittlich 300 000 DM pro Kind geschätzt wurden und sich auch bei weiteren Kindern nur geringfügig ändern. Deshalb ist eine kategorische Umleitung von Ressourcen für junge Familien dringend notwendig. Dies haben wir bereits in der Debatte über die Volksinitiative „Für die Zukunft unserer Kinder“ deutlich gemacht.
Wenn die Schaffung der Wahlfreiheit zwischen Familien- und Erwerbsarbeit, die sowieso nur gering vorhanden ist, das Ziel ist, dann ist die Absicherung des Generationenvertrages der Zweck. Nach wie vor gehören Familien und alleinerziehende Mütter und Väter zu den traditionellen Risikogruppen, die in besonderem Maße vom Abgleiten in die Armut betroffen sind. Da Mütter mit zunehmender Kinderzahl auf eine Erwerbstätigkeit verzichten wollen oder müssen, war das Armutsrisiko schon früher hoch. Es hat sich in den 80er Jahren noch weiter erhöht. Daran hat sich bis heute leider nichts geändert.
Um hauptsächlich der sozialen Verarmung zu entgehen, werden immer weniger Kinder geboren. Die Ursachen sind vielseitig und komplex. Um nur einige wichtige Punkte zu nennen: die sich ständig verschärfenden Arbeitsmarktprobleme und der Umstand, daß im krassen Unterschied zu anderen Kulturkreisen Kinderlosigkeit hierzulande zunehmend akzeptiert wird, ohne die Folgen zu bedenken.
Unsere Forderung nach stufenweiser Erhöhung des Kindererziehungsgeldes resultiert auch aus der Tatsache, daß durchschnittlich noch immer 30 % der Frauen teilzeitbeschäftigt sind und Frauen 70 % aller sozialversicherungsfrei Beschäftigten ausmachen. Diejenigen, die sich für Kinder entscheiden und somit jedem Mitglied der Gesellschaft dienen, müssen künftig finanziell deutlich mehr entlastet, stimuliert und motiviert werden. Dann und erst dann wird sich auch die ideelle Akzeptanz der Kinder in unserer Gesellschaft wieder einstellen. Wir sind nun einmal eine konsum-geprägte, materialistische Gesellschaft.
Unser aller Ziel sollte also eine Verbesserung der familienwirtschaftlichen Voraussetzungen und eine ausgewogenen Balance zwischen Erziehung und Erwerbsarbeit sein, um dadurch einen Anreiz in Richtung Geburtensteigerung zu erreichen.
Anders ausgedrückt, meine Damen und Herren: Bei anhaltendem demographischen Trend und fehlender Entwicklungskultur würde sich die Bevölkerung SachsenAnhalts rein rechnerisch in nur 45 Jahren, also in drei Generationen, auf die Hälfte reduzieren. Ein Blick in das Statistische Jahrbuch reicht aus. Deshalb lautet unsere Forderung: Endlich höheres Kindererziehungsgeld.
Ich bedanke mich und bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, mir ist natürlich schon klar, was „substituierbar“ heißt. Das können Sie sich denken.
Frau Bull, ich weiß, daß mehrere Schritte nötig sind. Unser Antrag sollte ein Anreiz in Richtung Geburtensteigerung sein, damit sich die Gesellschaft erst einmal darauf einstellen kann, daß wieder mehr Kinder geboren werden. Ich habe Ihnen ja gesagt: Ein Blick in das Statistische Jahrbuch reicht aus.
Wir wissen auch, daß dies nicht der einzige Schritt bleiben kann. Vielmehr ist auch zu fragen, wie man die direkten und indirekten Steuern senken könnte. Dazu gehört auch die ökologische Steuerreform, die natürlich die Familien trifft, je mehr Familienmitglieder, desto härter. Eine Familie mit fünf Kindern ist davon natürlich härter betroffen als ein Ehepaar ohne Kinder. Da schlägt dies immer doppelt zu. Und auch der Freibetrag war in letzter Zeit sowieso, wenn er nicht schon vor Jahren ganz ausgesetzt wurde, viel zu niedrig dotiert, so daß Familien davon eigentlich gar nichts hatten.
Trotzdem bin ich der Meinung, daß unser Antrag gut ist, daß wir ihn brauchen, und zwar wirklich zur Anregung der Geburtensteigerung, Herr Schulze. Ich würde gerne einmal mit Ihnen eine Tasse Kaffee trinken und Ihnen das erklären.
Wenn Sie auch dazu andere Ideen haben und wenn Sie das jetzt auch anders sehen, würde ich gerne mit Ihnen darüber im Ausschuß diskutieren. Jedenfalls möchte ich Sie bitten, noch einmal darüber nachzudenken. Denken Sie doch daran: Wie sähe eine Gesellschaft ohne Kinder aus? Wir wären steril. Was sind Kinder? Kinder
sind eine Herausforderung, und sie veranlassen uns zu kämpfen. Wenn man kämpfen muß, hat man ein Ziel. Ich bedanke mich bei Ihnen, beantrage aber trotzdem die Überweisung in den Ausschuß für Arbeit, Gesundheit und Soziales.
- Ja. Und in den Ausschuß für Gleichstellung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion befaßt sich mit einem grundlegenden Anliegen, das auf den ersten Blick vorbehaltlose Zustimmung hervorruft. Aber wie so oft liegt der Teufel im Detail. Das heißt, grundlegend wird es sein, ob die Erarbeitung einer Grundrechtecharta der große Wurf wird oder ob nur eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner vollzogen wird.
Der damalige Bundespräsident Roman Herzog formulierte im Juli 1998, wie üblich herzöglich unverkrampft, daß Europa sich darüber verständigen müsse, was es brauche und was es wolle. Er fand für seine Bedenken und Befürchtungen zu einem europäischen Verfassungsprojekt oder zumindest einer europäischen Grundrechtecharta den bildhaften Ausdruck, daß ein solches Werk mit einem Berg vergleichbar sei, der entweder eine Maus oder ein europäisches Monster gebäre.
Diese Bedenken und diese Sorgen sind auch deshalb nicht von der Hand zu weisen, weil Vorbehalte innerhalb Europas zwischen den nach außen einheitlich auftretenden Mitgliedern der Gemeinschaft gegeben sind und diese im Innern der Mitgliedstaaten - auch aufgrund nationaler Interessen und Besonderheiten - zu Konflikten führen, die oft mühsam verdeckt werden.
Weniger integrationsfreundliche Mitgliedstaaten stehen dieser Grundrechtecharta skeptisch oder gar ablehnend gegenüber. Das dürfte auch deshalb nicht verwundern, weil nicht unbekannt geblieben ist, daß in der Bundesrepublik Deutschland, die zu den treibenden Kräften für eine EU-Grundrechtecharta gehört, die Verfassungsdiskussion im Zuge der deutschen Vereinigung in den Ansätzen steckengeblieben ist bzw. unerwünscht war.
Natürlich könnte die EU-Grundrechtecharta ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Verfaßtheit der EU sein, das heißt, eine verfassungsähnliche Verankerung folgen lassen. Wenn Rechte nicht nur feierlich verkündet, sondern auch für jeden Bürger einklagbar werden, würde hiermit ein wesentlicher Fortschritt erreicht.
Aber allein der Begriff der sozialen Grundrechte ist problematisch. Was wird aufgenommen und was wird verhindert? Meine Damen und Herren! Gerade hieran wird deutlich, daß die politische und die Wirtschaftsunion im Eiltempo durchgezogen wurden.
Es wird auch immer stärker sichtbar, daß das Fehlen von Volksabstimmungen zu wesentlichen Entscheidungen, wie zum Beispiel zum Maastrichter Vertrag, in der Mehrzahl der Länder das bestehende Mißtrauen nicht abbaute. Dieses Mißtrauen ist doch aber nur zu beseitigen, wenn die Bevölkerung der Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit des Mitwirkens und im Zusammenhang damit das Recht erhält, darüber abzustimmen. Eine derartige gesetzlich verankerte Verfahrensweise würde vor allem absichern, daß sich die Menschen in den Mitgliedstaaten mit einer derartigen Grundrechtecharta identifizieren.
Lassen Sie mich eine Bemerkung anknüpfen. Was nützt eine Grundrechtecharta, was nützt die Abstimmung darüber, wenn, wie in diesen Tagen geschehen, 14 EUStaaten Maßnahmen ergreifen, um die bilateralen politischen Kontakte zu Österreich einzufrieren, und das, weil Wähler in einer demokratischen Entscheidung den Weg für eine neue, andere Regierung ebneten?
Der sicherste Ausweg aus diesem Dilemma wäre für die 14 EU-Staaten, in diesem wie in künftigen Fällen so lange Neuwahlen ansetzen zu lassen, bis die ihnen genehme Regierung zustande kommt. Ob dieses Verfahren dann einer EU-Grundrechtecharta entspricht, ist mehr als fraglich.
Aber in diesem Hohen Hause wollte Herr Dr. Fikentscher den Frieden herbeibomben. Im Volksmund nennt man das einen „Bomben-Typ“.
Sicherlich entsprach er damit dem heute vorliegenden Antrag der SPD.
Der CDU-Änderungsantrag ist unserer Meinung nach der weitergehende. Er entspricht in stärkerem Maße unseren Vorstellungen, da er teilweise auch unsere Vorstellungen und Forderungen beinhaltet. - Ich danke Ihnen.