Protokoll der Sitzung vom 21.09.2000

Ich sage ausdrücklich - weil ich auch nichts von der rückwärts gewandten Rede halte in der DDR hätte es zwar eine desolate Infrastruktur gegeben, dafür hatte aber jeder Arbeit: das bringt nichts -: Jede Einseitigkeit bringt uns nicht weiter. Die Bundesrepublik wird dadurch nicht vorangebracht. Brandenburg auch nicht. Deshalb stellen wir auch heute fest. dass nach wie vor viele Menschen in diesem Land ohne Arbeit sind - über 200 000 immer noch -. dass die Abwanderung in die westlichen Bundesländer anhält - trotz hoher Arbeitslosigkeit fehlen zunehmend junge qualifizierte Menschen im Osten -. dass die ostdeutsche Wirtschaft zur Außenstellenökonomie ohne eigene Reproduktionsfähigkeit geworden ist - die industrielle Basis. die Exportund die Innovationskraft sind schwach -. dass die verfestigte Arbeitslosigkeit und die niedrigere Entlohnung die Nachfrage und so die Erschließung innerer Entwicklungspotenziale immer noch begrenzen. Im Jahre 2000 wird das reale Bruttoinlandsprodukt in den neuen Ländern zum vierten Male langsamer wachsen als im Westen. 1999 sank es sogar um fast ein Prozent.

Die Unterstützung wirtschaftlicher Entwicklung war weitgehend durch Leuchtturmpolitik bestimmt, die im Einzelnen hilfreich. in der Summe aber kontraproduktiv war. Da nützt es nichts, den Einsatz der Politik für die Leuchttürme zu loben. Wichtig ist, um mit Helmut Kohl zu sprechen. was hinten herauskommt. - Ich habe mit ihm wahrscheinlich weniger Schwierigkeiten als andere.

(Zuruf von der CDU)

Ja, wir hatten immer ein klares Verhälmis zueinander.

(Beifall bei der PDS)

Damit, dass zum Beispiel Dow Chemietat für Letina und Buna 9.5 Milliarden DM bekam. ist der Arbeitsmarkt nicht merkbar entlastet worden. Es wurden kapitalintensive Standorte unterstützt, wobei eher der Abbau von Arbeitsplätzen vorangetrieben wurde, statt neue zu schaffen.

Auch Brandenburg hat seine Leuchttürme. Ich nenne nur den Lausitzring und die mit ihm verbundenen, aber immer noch nicht erfüllten Hoffnungen auf Arbeitsplätze. Ich nenne die Investitionen des Landes in den Großflughafen Schönefeld. So hat jedes Land seine Leuchttürme, genauer. seine LeuchtturrnfiI ialen. Nur, Arbeit gibt es nicht. In diesen Filialen fehlt es weiter an Forschung. an Entwicklung, an Marketing, an Leitungsstrukturen. was insbesondere für die im Zusammenhang mit dem

industriellen Kernpunkt prognostizierte Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen im Umfeld keineswegs günstig ist.

Den seit Jahr und Tag herbeigerufenen Mittelstand gibt es nach wie vor nicht. Es gibt Kleinbetriebe. 80 % der so genannten KMU haben weniger als eine Million DM Umsatz. Sie leiden unter Kapitatman gel und Niedrigpreisen. Sie sitzen in unzulän g

-lichen, weil unproduktiven Liefernetzen fest und sind vielfach hoch verschuldet.

Mit beispiellosen Transferleistungen ist auch die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen finanziert worden. Nur. die Lieferanten kamen überwiegend aus deni Westen, sodass der Aufbau Ost vor allem auch ein Konjunkturprogramm West war.

Wir verschwei gen nicht. dass. während die Transfenmitet im Osten vor allem verzehrt wurden• durch den Vermögenstransfer nach Westen vor allem westdeutsche Konzerne und Banken profitierten.

Dabei unterschätzen wir nicht. dass im Vergleich nut den mittel- und osteuropäischen Nachbarn durch die enormen Transferteistun gen auch der durch Arbeitslosigkeit drohende soziale Absturz ganzer Bevölkerungsschichten deutlich gemindert wurde. Das würdige ich.

Nach wie vor vermissen wir eine Politik, die sich an der Lösung derkonkreten wirtschaftlichen und sozialen Probleme orientiert. Nach wie vor regiert das selbstgefällige:..Das haben wir schon immer so gemacht: das haben wir noch nie so gemacht: da könnte ja jeder kommen. - Dabei fehlt weiter die notwendige Verzahnung von Bildungs-. Beschäftigungs-, Struktur- und Technologiepolitik. Dabei sind so genannte innovative Ansätze in der Beschäftigungspolitik nur dazu da. das Einkommensniveau trotz der bekannten Folgen weiter zu senken. Dabei wird einer regionalen Vernetzung von Wirtschaft und ganzheitlicher Regionalentwicklung keine oder zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Angesichts der Entwicklungen auf europäischer Ebene und der unbestreitbaren Globalisierung der Märkte ist der Zug bald abgefahren. mit dem in den Regionen Ostdeutschlands Entwicklungs- und Selbstorganisationspotenziale entfaltet werden können, um aus der Krisenregion eine zukunftsfähige Region zu machen.

Weil das alles lange absehbar ist, haben wir seit Jahren unsere Vorschläge zurGestaltung der Entwicklung, die auf die regionalen Potenziale setzt, eingebracht und werden das auch weiterhin tun. Dabei ist uns die Schwierigkeit eines solchen Entwicklungspfades bewusst und auch. dass das nötige Mehr an Arbeitsplätzen und Wirtschaftskraft nicht von heute auf morgen entsteht. Allein. erwarten Sie von uns nicht, dass wir nach Ablehnung all unserer Vorschläge das feiern. was Sie zu verantworten haben!

Die Defizite der DDR-Wirtschaft haben wir nie bestritten. Dafür sind zu viele in meiner Partei, die diese Defizite Jahre vor dem Untergang der DDR thematisiert haben. Dass wir jedoch das, was wir in den letzten Jahren...

(Zuruf von der CDU)

- Hörte ich da eine Bemerkung aus der Partei Gerald Göttings? Das würde ich hier nicht empfehlen.

(Beifall bei der PDS)

Dass wir jedoch das, was wir in den letzten Jahren an wirtschaftlichem Kahlschlag erlebt haben, als alternativlos bejubeln, können Sie von uns nicht erwarten. Zu offensichtlich waren Prozesse der Marktbereinigung, der über Treuhandanstalt staatlich sanktionierten Konkurrenzbeseitigung und Verschleuderung

von Werten. Der Aufbau Ost war ein Nachbau West. Alle Probleme. die in der alten Bundesrepublik seit Jahren auf der Tagesordnung standen, wurden gleichsam in den Osten transportiert und harren weiter einer Lösun g. die die gesamte Republik auf einen sozialen und ökologischen Weg im geeinten Europa führt.

Eines sollte zehn Jahre nach dem Ende der DDR bei der Betrachtung von Siegen und Niederlagen hier im Hause nicht vergessen werden: Es geht nicht uni Ost-West-Fragen, es geht nicht darum. die einen der Ostalgie zu schelten und den anderen ihre Westsicht anzukreiden. Ich habe erhebliche Zweifel. ob Sie von der Regierungskoalition das schon verstanden haben. Hier im Landtag sitzen wir als Brandenburger Politikerinnen und Politiker. die dem Wohl des Landes verpflichtet sind. und hier müssen wir die Probleme dieses Landes lösen. Es geht nicht darum. wer Recht hat. sondern ob hier im Land Arbeit geschaffenwird. oh unsere Kinder im Land eine Chance haben auf Betreuung, Ausbildung und Arbeit. ob unsere Alten und Kranken versorgt sind. oh alle eine Wohnung haben. ob wir unsere brandenburgische Kulturlandschaft erhalten und unsere natürlichen Lebensbedin gungen sichern können. Darum geht es. das sind die konkreten Fragen. die vor uns stehen!

(Beifall bei der PDS)

Und, meine Damen und Herren, es wird in diesen Tagen viel von der inneren Einheit die Rede sein. Ich habe nichts gegen Vollendung der Einheit, ich habe nichts gegen die innere Einlieft, aber ich sage Ihnen: Die innere Einheit wird erst sein. wenn im Freistaat Bayern vier Brandenburger Minister sind. Ich bedanke mich.

(Lebhafter Beifall bei der PDS)

Ich danke dem Abgeordneten Prof. Dr. Biskv und erteile das Wort der Fraktion der SPD, Herrn Abgeordneten Fritsch.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Thema „I 0 Jahre Wiedervereinigung" haben wir die ersten beiden Beiträge gehört, die viel Bedenkenswertes und einiges Bedenkliches enthalten haben. Das ist auch in Ordnung so.

Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen sagen. dass der Anlass. heute zehn Jahre deutscher Einheit gedenken zu können, für mich zuallererst ein sehr freudi ger Anlass ist.

(Beifall bei SPD und CDU)

Man fragt sich ja, wenn man sich einem solchen Thema nähert: Wie fing das eigentlich an? Wann fing das eigentlich an? Man kramt in Erinnerungen, machmal auch in seinem Fundus zu Hause. Dabei bin ich gestern auf ein altes Liederbuch gestoßen Sie werden es gleich bemerken. kein Gesangbuch. sondern ein Liederbuch -, darauf stand „Leben. singen, kämpfen": manch einer hat es noch.

(Frau Dr. Enkelmann [PDS]: Was Sie so zu Hause haben. das ist interessant! - Weitere Zurufe von der PDS)

- Da staunen Sie, Frau Enkelmann!

Das erste Lied - ich darf die ersten Zeilen zitieren - beginnt folgendermaßen:

(Zurufe von der PDS: Singen. singen!)

- Ich wollte nicht singen. Ich bin ausdrücklich gebeten worden. nicht zu singen.

(Vereinzelt Heiterkeit bei PDS und SPD)

Das erste Lied beginnt folgendennaßen:

..Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt. lass uns dir zum Guten dienen. Deutschland. einig Vaterland.

Dieser Text ist jahrelang in der DDR nicht mehr gesungen worden.

(Vietze [PDS]: Aber im Westen auch nicht!)

sodass er vielleicht in Vergessenheit geraten ist. nur aber Anlass gibt zu sagen: Herzlichen Dank. Johannes R. Becher, für dieses frühe Programm!

(Allgemeiner Beifall )

Meine Damen und Herren, Sie sehen daran: Der Prozess der Wiedervereinigung hat ganz offensichtlich eine sehr lange Geschichte. Er hat seine Wurzeln. wage ich zu behaupten. in der Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Im Laufe der Jahre. im Laufe des politischen Agierens beider Seiten ist dieses Bemühen uni Wiedervereini gung einmal mehr untergegangen, einmal mehr deutlich nach vom getragen worden. latent aber eigentlich immer vorhanden gewesen.

Willy Brandt sagte zum Beispiel 1964:

.Die Mauer steht gegen den Strom der Geschichte."

Das ist eine ganz klare politische Aussage. die sein politisches Handeln und Mühen die ganze Zeit seines Lebens geprägt hat. glaube ich. auch das seiner Nachfolger. Aber es kamen eben dann noch viele Jahre Mühen der Ebene oder - hier müsste ich sagen - Mühen der Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland. bis wieder Willy Brandt am 10.1 1.1989 sagen konnte - dieses Zitat werden Sie alle besser kennen -:

‚Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.

Ich glaube. besser. kürzer. prägnanter kann man die Hoffnungen und Erwartungen und die Aufbruchstimmung der Wende wohl kaum auf den Punkt bringen.

(Zuruf von der PDS)

- Ich habe nur Herrn Brandt zitiert. Ich kann nicht jeden zitieren. sonst reicht meine Redezeit nicht.