Protokoll der Sitzung vom 21.09.2000

(Gelächter bei der PDS)

hatten die Forderung nach Wiedervereinigung nie aufgegeben.

(Beifall bei der DVU)

Meine Damen und Herren. denken wir einmal zehn Jahre zurück. Was war es doch für ein schönes Gefühl für viele von uns. als wir im Juli 1990 die DDR-Mark gegen die damals heiß begehrte harte D-Mark tauschen konnten. Dass wir die D-Mark nur zehn Jahre behalten sollten. um sie dann gegen den ständig schwächer werdenden Euro einzutauschen. das war zu dem Zeitpunkt für uns noch nicht vorhersehbar.

Vieles hat sich in den vergangenen zehn Jahren geändert. Es gibt viele negative, aber auch sehr. sehr viele positive Verändeningen. So zum Beispiel hat sich das Antlitz unserer Städte und Gemeinden sehr verändert. Viele Häuser wurden restauriert. modernisiert und mit einer farbigen Fassade versehen. Fast alles ist in den vergangenen zehn Jahren bunter und farbenfroher geworden. Das alles hatte aber seinen Preis. Die Mieten sind seitdem ständig gestiegen. Zahlte man früher im Schnitt für eine Dreiraumwohnung 70 Mark Miete - inklusive Betriebskosten -. so zahlt man heule mitunter das Fünfzehnfache.

Schön ist auch die neu gewonnene Reisefreiheit. Auch der Erwerb eines Fahrzeugs ist heutzuta ge problemlos ohne lange Wartezeiten möglich. Wichtig ist nur eins: dass man das nötige Geld dazu hat. Und wenn nicht. dann sind Kreditinstitute hei der Finanzierung von Gütern gern behilflich. aber nur, wenn man über das notwendige pfändbare Einkommen verfügt.

Das Verhalten unserer Menschen hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr geändert. Den Zusammenhalt von einst gibt es heute oftmals nicht mehr. Früher mussten wir zwangsläufig zusammenhalten. denn fast jeder von uns war in irgendeiner Weise auf den anderen angewiesen. Der eine konnte dies besorgen • der andere das. Das gehört nun alles der Vergangenheit an.

Damals fragte man. wenn man sich nach längerer Zeit wieder begegnete: Wie geht" s? Heute fragt man: Hast du noch Arbeit?

Auch haben wir nicht mehr die Pflicht zur Arbeit. Das Recht haben wir aber leider auch nicht mehr.

Die hohe Geburtenrate war einst der Stolz der DDR. Jetzt erhalten Kinder der hier lebenden Ausländer bei der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft. um eine totale Vergreisung des deutschen Volkes zu verhindern.

(Gelächter bei der PDS)

Allzu große Unterschiede zu den alten Bundesländern scheint es zehn Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr zu geben. wenn da nicht dieses starke Lohngefälle von West nach Ost wäre. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung haben es die herrschenden Parteien immer noch nicht geschafft, die Löhne in den neuen Bundesländern denen in den Altbundesländern anzugleichen.

Auch die Arbeitslosenquote ist bei uns im Durchschnitt doppelt. sogar dreimal so hoch wie in den Altländern - und das zehn Jahre nach der Wende!

Was wir aber jetzt genauso haben wie die Altbundesbürger, ist das Recht auf freie Meinungsäußerung. Allerdings darf diese Meinung von der der herrschenden Parteien nicht allzu abweichend sein. Denn dann passiert das. was ich als Vertreterin der Deutschen Volksunion tagtäglich selbst erleben muss. Da wird der politische Gegner auf das Unfairste diffamiert, weil er Dinge thematisiert. die dem politischen Kontrahenten nicht gefal

Icn. Da werden Menschen durch den Verfassungsschutz bespitzelt. Da werden aufgrund einer anonymen Anzeige Privaträume. Büroräume durchsucht. Da werden gewählte Volksvertreter als Extremisten bezeichnet, Da werden Lügen und Halbwahrheiten verbreitet. Und das ist es. was sich m diesem Teil Deutschlands überhaupt nicht geändert hat. - Ich danke.

(Beifall bei der DVU)

Ich danke Ihnen. Frau Ab geordnete Fechter. - Das Won geht jetzt an die Landesregiening. Herr Ministerpräsident Dr, Stolpe. bitte!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Uckenniirker! Zehn Jahre Wiedervereinigung - ein epochales Thema. doch zugleich - zumindest für die Ostdeutschen - eine sehr persönliche Betroffenheit.

Für mich ist die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 nach wie vor wie ein Wunder. ein so nicht erwartetes und. ich denke, auch so nicht vorhersehbares Ereignis.

(Beifall hei CDU und SPD)

Meine Damen und Herren. ich empfand es als eine Gnade des Schicksals. denn Nazideutschland hatte unsägliche Verbrechen an der Menschheit begangen. Ein deutscher Staat und Millionen deutscher Mithelfer hatten eine massenweise brutale Verfolgung und Ermordung von Mitmenschen anderer Hautfarbe. anderer Volkszugehörigkeit, anderer Religion oder anderer Gesinnung vorgenommen.

Nach diesen entsetzlichen Tatsachen erschien mir schon die Weiterexistenz des deutschen Volkes in zwei Staaten geradezu als ein mildes Urteil der Geschichte. Wenn nun doch die Wiedervereinigung möglich wurde. sollten wir alle nie vergessen, dass die Teilung Deutschlands eine Folge der Niederwerfung des barbarischen faschistischen Regimes war.

(Beifall bei SPD. CDU und PDS)

Dankbarkeit für die wieder geschenkte deutsche Einheit muss deshalb vor allem auch Widerstand sein gegen deutsche Überheblichkeit. gegen Rassismus und gegen Fremdenfeindlichkeit.

(Beifall bei SPD, CDU und PDS)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch etwas sollten wir nach zehn Jahren Wiedervereinigung nicht vergessen: Die deutsche Einheit ist das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses mit wichtigen Stationen wie der brandtschen Ostpolitik, dem Veränderungsstreben Gorbatschows und dem Freiheitswillen von Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa.

Entscheidende Wirkungsfaktoren waren der eindeutige Mehrheitswille der DDR-Bürgerinnen und -Bürger für die Einheit und die Weitsicht der ersten freien polnischen Regierung. Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit hat ja bekanntlich heute viele Väter. Ganz gewiss aber gehören dazu der ehemalige polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und sein Außenminister Chrystof Skubicewski. Vergessen wir das nicht, auch in unserem Umgang mit den Polen!

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)

haben sie sich nicht gegen. sondern eindeutig für ein vereintes Deutschland ausgesprochen. Beide haben unter der Nazibarbarei gelitten. haben nächste Angehörige verloren und haben dennoch auf ein besseres Deutschland gesetzt. Auch das nimmt uns in die Pflicht.

Meine Damen und Herren! Die Menschen in Brandenbur g wie in der ganzen DDR verbanden viele Hoffnungen mit der deutschen Einheit. Ausmaß. Tempo und Fol gen des Systemwechsels aber waren nur wenigen deutlich. Nach zehn Jahren Aufbauarbeit können wir zum einen feststellen: Der Rechtsstaat und seine Institutionen wurden aufgebaut und sind gefestigt. Wir haben ein funktionierendes System der Landesverwaltung und der kommunalen Selbstverwaltun g. Die Kreisgebietsreform konnten wir vor Jahren abschließen. Über die Verbesserung der Gemeindestruktur wurde gestern in diesem Haus diskutiert.

Die Umstrukturierung des Wirtschaftssystems stellte und stellt uns nach wie vor vor komplizierte Aufgaben. Die ersten Jahre der Einheit waren von scharfen Einbrüchen geprägt. vor allem in den Bereichen der Industrie und der Landwirtschfi. Im Jahr 1989 waren m der DDR über neun Millionen Frauen und Männer in Arbeit. Von diesen Arbeitsplätzen waren 1999 nur noch 6.2 Millionen übrig. In zwei Dritteln aller Branchen ist die Beschäftigung sogar uni mehr als die Hälfte zurückgegangen.

Auch in Brandenburg kam es insbesondere im Bergbau und in der Land- und Forstwirtschaft zu einem massiven Beschäftigun gsabbau. Allein in der Landwirtschaft sank die Zahl der Beschäftigten von 180 000 auf heute 34 000. Überdurchschnittlich war auch der Rückgang in der Textil- und Bekleidungsindustrie. Der Beschäftigun gsabbau betrug in diesem Bereich etwa 85 °I,. Der Übergang von der Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft veränderte tiefgreifend die Lebensverhältnisse der in Ostdeutschland lebenden Menschen.

Der tiefste Einschnitt in das Leben der ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger war die Erfahrung der Arbeitslosigkeit mit all ihren negativen Auswirkungen wie soziale Unsicherheit und gesellschaftliche Isolation. Die Mehrheit der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer musste sich in einer völlig neuen Arbeitswelt zurechtfinden. Nur eine verschwindende Minderheit der Ostdeutschen. nämlich nur etwa jeder Fünfte. behielt den Arbeitsplatz aus DDR-Zeiten. Die meisten mussten den Arbeitsplatz wechseln. häufig mehrfach. Nicht wenige arbeiten mittlerweile im Westen. Sie nehmen dafür lange Pendelzeiten in Kauf: andere haben wegen der Arbeitsmöglichkeit ihren Wohnsitz dorthin verlegt.

Meine Damen und Herren! Tatsache ist aber auch, dass zehn Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den neuen Bundesländern viel erreicht worden ist. Für die Bevölkerung hat sich das Angebot an Waren und Dienstleistungen wirklich grundlegend verbessert. Die individuellen Einkommen haben sich erhöht. Eine moderne Infrastruktur wurde geschaffen. Das Straßen- und Schienennetz wurde erweitert und modernisiert. Ostdeutschland verfügt heute über das modernste Telekoinmunikationsnetz der Welt. Den Gewinn von Freiheit und Rechtssicherheit wird jeder für sich selbst bewerten.

Trotz dieser positiven Entwicklung bleiben immer noch beträchtliche Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands. Die völlige Herstellung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit konnten wir in zehn Jahren nicht schaffen. Doch wir sind weit gekommen. Gut die Hälfte des Weges zur verfassungsmäßig gebotenen Gleichheit der Lebensverhältnisse ist bewältigt. Das ist eine großartige gesamtdeutsche Leistung. Zu danken ist allen. die dabei mitwirkten.

Aus unmittelbarem Erleben der vergangen zehn Jahre danke ich Denn entgegen der Erwartung mancher anderer Regierungen

den Belegschaften, den Personalräten und Gewerkschaften, die mit ihrer Entschlossenheit wichtige Industriekerne gesichert haben. Ich danke den Frauen und Männern. die ihre Arbeitsplätze freigegeben haben, uni die Weiterexistenz ihrer Betriebe zu ermöglichen und anderen Kolleginnen und Kollegen den Arbeitsplatz zu erhalten. Ich danke den Frauen und Männern. die sich in das Abenteuer der Firmengründung begaben. hohe Schulden auf sieh nahmen und tagaus, tagein ein Höchstmaß an Selbstausbeutun g, vollziehen. Sie alle zusammen haben Zehntausende neuer Arbeitsplätze geschaffen.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich danke den Frauen und Männern. die mit ihren Erfahrungen und Verbindungen aus der alten Bundesrepublik zu uns gekommen sind und mithalfen. das wiedergeborene Brandenburg ökonomisch und gesellschaftlich zu stabilisieren. Ich danke allen Frauen und Männern. die hier in Brandenburg mithalfen. unter totat veränderten Bedingun gen in ihren eigenen. sehr unterschiedlichen Aufgabenfeldern die neuen Verhältnisse zu gestalten.

Meine sehr verehren Damen und Herren! Wir alle haben ein neues Brandenburg geschaffen, ein Land Mit besonderen Chancen und Herausforderungen.

Unsere größte Chance liegt in unserer Lage als Teil der Hauptstadt- und Metropolenregion Berlin-Brandenburg: unübersehbar ist das damit verbundene Entwicklungstempo. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerun g, die Arbeitsproduktivität. das Steueraufkommen und das wirkliche Bevölkerungswachstum sind sichere Anzeichen für die bereits erreichte Spitzenposition Brandenburgs unter den ostdeutschen Ländern. Diese Chance muss im Interesse der Menschen genutzt werden,

Unsere größte Herausforderung ist das unterschiedliche Entwicklungstempo der berlinnahen Teile Brandenburgs einerseits und der Tiefe des Landes andererseits. Durch besondere Unterstützung der benachteili gten Regionen. durch effektivere Strukturen und massive Verbesserung der Verkehrswege müssen wir auch den äußeren Regionen Brandenburgs gute Entwicklungschancen ermöglichen.

(Vereinzelt Beifall bei SPD, CDU und PDS)

Meine Damen und Herren! Auch die kommenden Jahre werden uns fordern. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist unsere Handlungsfähigkeit. Deshalb gibt es keine Alternative zu einer Konsolidierung der Finanzen. Verbunden mit der in Gang gesetzten Verwaltungsoptimierung können wir in den nächsten Jahren eine effektive. bürgernahe Landesorganisation schaffen. Leitlinien unserer künftigen Arbeit müssen Solidarität und Gerechti gkeit bleiben, das heißt. Sorge um die Benachteiligten, entschlossener Abbau von bestehenden Ungleichheiten wie bei Löhnen und Gehältern und intensive Bemühungen um die Zukunftsperspektiven der Jugend.

Meine Damen und Herren! Gute Zukunft für Brandenburg, dem Transitland mitten in Europa, setzt Weltoffenheit und Fremdenfreundlichkeit voraus. Deshalb ist es nicht nur ein Gebot der Menschenwürde und der Ehre. sondern auch ein zwingendes Erfordernis für einen gelingenden Wiederaufbau Brandenburgs, allen Ansätzen von Fremdenfeindlichkeit und Neofaschismus entschlossen zu widerstehen.

(Beifall bei der SPD sowie vereinzelt bei CDU und PDS)

Meine Damen und Herren! Wir dürfen nicht zulassen, dass der deutsche Wahnsinn wieder aufbricht. Dieses schöne Land muss geschützt und verteidigt werden. Wir haben den Kampf aufge

nommen und wir haben die Ausdauer. diesen Kampf zu gewinnen. Bürgerinnen und Bürger Brandenburgs engagieren sich mit großer Zivilcourage: wir stehen an ihrer Seite. Die Landesregierung, die demokratischen Parteien, die Kirchen. die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften, Parlamentarier dieses Hauses und der Kreistage. Vertreter der Städte und Gemeinden, Landräte und Bürgermeister bilden ein Netzwerk politischer Entschlossenheit. um Sicherheit und körperliche Unversehrtheit eines jeden Menschen im Land Brandenburg zu gewährleisten.

Meine Damen und Herren. ich bitte Sie herzlich: Helfen Sie mit. das menschenfreundliche und tolerante Brandenburg zu entwickeln. Dann können wir alle frohen Herzens sagen: Hie gut Brandenburg allewege!

(Beifall hei SPD und CDU sowie vereinzelt bei der PDS)

Ich danke Herrn Ministerpräsidenten Dr. Stolpe und beende die Aussprache zur Aktuellen Stunde zum Thema..10 Jahre Wiedervereinigung-.