Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

Aus diesem Grunde, meine Damen und Herren, wird es für die Zukunft nötig sein, neben den eben skizzierten Maßnahmen alle neuen, aber auch alle bereits bestehenden Programme, Pläne und Projekte dahin gehend zu überprüfen, ob sie den mittel- bis langfristigen Erfordernissen des demographischen Wandels wirklich gerecht werden. Dieses Prüferfordernis gilt gleichfalls hinsichtlich der Wirksamkeit des Einsatzes öffentlicher Mittel bei der Umsetzung der Förderprogramme von EU, Bund und Land.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe eingangs von der Solidarität gesprochen, die wir auf Bundesebene einfordern, die wir aber alle im Land auch untereinander üben müssen. Alle erwähnten Maßnahmen können nur dann zum Tragen kommen, wenn wir miteinander solidarisch sind und die innere Einheit des Landes wahren, Fachpolitiker genauso wie regional Zuständige. Wir müssen den äußeren Räumen in der Zukunft viel zumuten. Es ist weitaus schwieriger, als im berlinnahen Raum, für Zeiträume auf bestimmte Leistungen zu verzichten, sei es der Bau einer Schule oder von Straßen. Hier muss das Land zusammenstehen, so wie wir es auch von ganz Deutschland erwarten.

Für die Herausforderungen, vor die uns die demographische Entwicklung stellt, gibt es keine Patentrezepte. Es gibt auch keinen Raum für übermäßiges Zuständigkeitsdenken. Noch nie stand eine entwickelte Gesellschaft vor derart massiven demographischen Herausforderungen. Die gegenwärtige Bevölkerungsdichte wird ja zurzeit immer mit dem 30-jährigen Krieg verglichen, nur dass die damalige Gesellschaft völlig anders formiert war und deshalb mit der heutigen überhaupt nicht vergleichbar ist.

Meine Damen und Herren, eines müssen wir uns auch klarmachen: Niemand darf darauf hoffen oder warten, dass es sich von selbst ändert. Da wird sich nichts schnell ändern. Schnell heißt hier wirklich für Jahre und Jahrzehnte. Wir dürfen auch nicht hoffen, dass es irgendjemand anders für uns richten wird. Das können wir nur selbst tun.

Vom Bund erwarten wir Lösungen zum Erhalt der Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und hinsichtlich der Ost-West-Angleichung. Gemeinden, Landkreise und Regionen sind gefordert, innovative Lösungen zur Sicherung der Daseinsvorsorge in den schwach besiedelten Teilen des Landes zu entwickeln. Die Wirtschaft muss sich bezüglich der Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen sowie der Gestaltung von kinder- und familiengerechten Beschäftigungsbedingungen in die Verantwortung nehmen lassen. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen in eigener Verantwortung ihr Leben und die Lebensbedingungen ihrer Familie gestalten so wie Nichtregierungsorganisationen denen helfen müssen, die sich nicht selbst helfen können. Nachbarschaftshilfe und Ehrenamt werden auch in Zukunft noch mehr als bisher unverzichtbar sein.

Die Landesregierung arbeitet aufbauend auf dem vorliegenden Bericht an einem Handlungskonzept zur Gestaltung des demographischen Wandels. Sie wird Strategien und Maßnahmen weiterentwickeln und dort, wo es möglich ist, die Entwicklung beeinflussen und in anderen Fällen den Strukturwandel gestalten. Die Debatte muss aber überall, auf allen Ebenen, in allen Gebietskörperschaften geführt werden.

Erörtern Sie die dargestellten Entwicklungen und die Auswirkungen auf die einzelnen Politikfelder bitte hier im Parlament, aber auch in den Fachausschüssen und in den Gremien in den Wahlkreisen. Erörtern Sie dies in Kreistagen, Regionalversammlungen und Gemeindevertretungen. Wir müssen alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes in diesen Dialog einbeziehen. Ich bin mir sicher, dass es uns in den nächsten Jahren gelingen wird, gemeinsam tragfähige Lösungen zu finden, damit unser Land auch weiterhin lebenswert bleibt. Wir brauchen allerdings dazu einen offenen und vor allen Dingen ehrlichen, tabulosen Disput, denn es nützt überhaupt nichts, sich in

irgendeiner Form bei diesem Thema die Augen zu verkleistern oder einen Zustand schöner zu reden, als er ist. Wir brauchen einen Wettbewerb um die besten Ideen und Konzepte. Wir brauchen die Mitwirkung aller Akteure auf kommunaler und regionaler Ebene bei der Suche nach intelligenten Vor-Ort-Lösungen und die Übernahme der jeweiligen Verantwortung bei der Umsetzung.

Vieles, meine Damen und Herren, wird von den handelnden Personen abhängen. Vieles wird davon abhängen, welche Ideen wir selbst aus dem Landtag, aus der Regierung heraus entwickeln, um mit dieser großen Herausforderung fertig zu werden. - Ich bedanke mich.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich danke Herrn Ministerpräsidenten Platzeck und gebe jetzt der Fraktion der PDS, dem Abgeordneten Prof. Dr. Bisky, das Wort.

(Zuruf des Abgeordneten Vietze [PDS])

Frau Dr. Enkelmann? - Sie kennen ja meine Bemerkung, Herr Vietze, bezüglich der Parlamentarischen Geschäftsführer. - Bitte schön, Frau Dr. Enkelmann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, es ist wahr, der Bericht konfrontiert uns tatsächlich mit einer ganzen Reihe ernster Probleme in diesem Land. Nun liegt der Bericht seit Februar dieses Jahres vor. Die Landesregierung hätte ihn am liebsten gar nicht auf der Tagesordnung gehabt oder maximal eine halbe Stunde Debatte dazu geführt.

(Zuruf des Abgeordneten Klein [SPD])

- Tagesordnung von April, Herr Klein.

Über Konsequenzen sollte - so Äußerungen aus der Landesregierung - erst nach der Landtagswahl entschieden werden. Das, meine Damen und Herren, ist politisch verantwortungslos. Nein, die im Bericht dokumentierten Auswirkungen demographischer und wirtschaftsstruktureller Veränderungen in Brandenburg sind so brisant, dass wir nicht länger tatenlos zusehen dürfen.

(Genau! bei der PDS)

Hinzu kommt allerdings, dass die beschriebenen Probleme nicht plötzlich vom Himmel gefallen sind. Ihr Bericht ist ein trauriger Offenbarungseid. Zu lange wurde eine sich anbahnende Entwicklung ausgesessen. Völlig unzureichend sind die Fragen nach den Ursachen und möglichen Schlussfolgerungen gestellt. Kaum erkennbar sind Ihre Antworten, Ideen und Konzepte.

(Schippel [SPD]: Aber eure!)

Die Bürgerinnen und Bürger Brandenburgs haben ein Recht darauf, dass wir uns mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und ohne unsachliche Polemik den Herausforderungen stellen.

(Zuruf des Abgeordneten Schippel [SPD])

- Ich habe noch nicht einmal eine Seite vorgetragen, Herr Schippel.

Wir erleben einen gewaltigen demographischen Wandlungsprozess. Jedes Jahr verliert das Land Brandenburg ca. 20 000 Einwohner. Das entspricht der Größe einer mittleren Kleinstadt.

Zum einen hat sich die Geburtenrate deutlich nach unten entwickelt. Die „Berliner Morgenpost“ titelte: „Kindernotstand in Berlin-Brandenburg“. Hinzu kommt aber - das müssen wir genauso betrachten -, dass jährlich Tausende das Land verlassen, weil sie woanders Ausbildung oder Arbeit gefunden haben. Unter denen, die das Land Brandenburg verlassen, sind überdurchschnittlich viele Frauen. Das heißt, die Sorgen, die wir jetzt bei der Geburtenentwicklung haben, werden sich bei den kommenden Generationen wiederholen.

(Beifall bei der PDS)

Die Schere zwischen engerem Verflechtungsraum und äußerem Entwicklungsraum geht weiter dramatisch auseinander. Schuldzuweisungen an die Bürgerinnen und Bürger helfen da wenig, etwa nach dem Motto: Na ihr seid es doch, die so wenig Kinder in die Welt setzen. - Oder: Ihr seid es doch, die ihre Kinder in die Welt schicken.

Was mich an diesem Bericht und auch an der Rede des Ministerpräsidenten heute gewaltig stört, ist, dass Sie die Demographie politisch instrumentalisieren, sie quasi als Keule benutzen. Da stellen Sie in Ihrem Bericht fest: Deutschland hat weltweit die höchste Zahl an Kinderlosen. Und: In Brandenburg hat es einen Wendeknick gegeben. - Das sind zunächst nicht zu leugnende Tatsachen. Nur haben wir uns hier zu fragen: Wo liegen die Ursachen? Was hat Politik zu verantworten? Was kann Politik überhaupt in diesem Zusammenhang? Was kann Politik an dieser Stelle nicht? Ganz sicher wird sie den Bürgerinnen und Bürgern die Familienplanung nicht abnehmen können. Die Aufforderung, zwecks Reproduktion der Bevölkerung möglichst 2,1 Kinder zu zeugen, dürfte auch wenig Erfolg bringen. Aber die Politik kann die notwendigsten, nämlich familienfreundlichen Rahmenbedingungen schaffen, die sichern, dass Berufstätigkeit und Familie unter einen Hut zu bringen sind, dass Familien mit mehreren Schulkindern nicht durch ein hohes Büchergeld oder mit Fahrtkosten bestraft werden.

Wenn Sie, meine Damen und Herren Koalitionäre, jetzt in Ihrem Wahlprogramm die Familie wiederentdeckt haben, frage ich mich allen Ernstes: Was haben Sie eigentlich in den letzten Jahren getan?

(Beifall bei der PDS)

Die Einschränkung des Kita-Angebotes, die Streichung der Landesmittel für die Schülerbeförderung können nun nicht gerade als familienfreundliche Maßnahmen bezeichnet werden. Einschneidende Impulse in der Familienpolitik, wie sie der Bericht fordert, haben wir in den vergangenen Jahren vergeblich gesucht.

Als wesentliche Folgen der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung bis 2020 blickt die Landesregierung vor allem auf die fehlenden Steuereinnahmen und die sinkenden Zuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich. Sie gehen - das haben Sie, Herr Ministerpräsident, auch wieder getan - hier von einem

Status quo der Einnahmequellen aus. Ich denke, wir müssen genau darüber nachdenken, wie sich die Einnahmesituation des Landes Brandenburg möglicherweise - zum Beispiel durch Vermögenssteuer - verändern, also durchaus auch positiv gestalten kann.

(Beifall bei der PDS)

Gleichermaßen geht es aber auch um die Sicherung von Lebensqualität, um einen gerechten Zugang zur öffentlichen Leistung. Und es geht um den Verfassungsgrundsatz nach Artikel 44, in dem es heißt:

„Das Land gewährleistet eine Strukturförderung der Regionen mit dem Ziel, in allen Landesteilen gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen und zu erhalten.“

Diesem Verfassungsgrundsatz wird die Landesregierung schon lange nicht mehr gerecht, es sei denn, dass Sie schon die Förderung des Lausitzrings als Strukturpolitik bezeichnen.

Bei dem Witz von Harald Schmidt bleibt ein bitterer Beigeschmack: Was ist der Unterschied zwischen einer Wüste und der Mark Brandenburg? - Die Wüste lebt.

Die Frage nach der Zukunft der Randregionen wird von Ihrem Bericht nicht beantwortet. Deutlicher wurde heute Vormittag schon die Fraktionsvorsitzende der CDU, Frau Blechinger, die die dezentrale Konzentration grundsätzlich infrage stellt. Ich hätte eigentlich erwartet, dass dazu eine klare Ansage von Ihnen, Herr Ministerpräsident, kommt. Wollen Sie sie nun oder wollen Sie sie künftig nicht mehr?

(Beifall bei der PDS)

Ist die gleichwertige Entwicklung von Prignitz und Barnim, von Havelland und Lausitz tatsächlich auch weiterhin gewollt? Oder verabschieden Sie sich stillschweigend davon?

Ausgehend von der Analyse regt die Landesregierung in ihrem Bericht an, einen Dialog der gesellschaftlichen Gruppen anzustoßen. Wie dieser allerdings organisiert werden soll, bleibt offen. Die PDS schlägt vor, als einen Weg im nächsten Landtag eine Enquetekommission „Zukunft Brandenburg“ einzurichten, in der neben Abgeordneten und Vertretern der Landesregierung auch Sachverständige aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, aus Gewerkschaften und Verbänden sitzen. Dieses Gemeinsame von Politik und Sachverstand von außen ist der Vorteil einer Enquetekommission. Wir sollten es zumindest versuchen.

(Vereinzelt Beifall bei der PDS)

Diese Kommission sollte allerdings nicht bei den Fragen stehen bleiben, die die Landesregierung in ihrem Bericht stellt. Diese greifen nämlich viel zu kurz.

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, die Grundlagen für ein Gesamtkonzept der Entwicklung des Landes Brandenburg auszuarbeiten; es geht um ein Leitbild für Brandenburg. In seiner ersten Regierungserklärung hat Ministerpräsident Matthias Platzeck selbst ein solches Leitbild eingefordert. Nur, bei dieser Forderung ist er am Ende stehen geblieben.

Es war die Studie der Bertelsmann Stiftung vom vergangenen Jahr, die der Landesregierung den unbestechlichen Spiegel vor die Nase gehalten hat. Brandenburg hat sich von allen Bundesländern am schlechtesten entwickelt. Eine entschlossene Kurskorrektur sei erforderlich; es bestehe - so die Studie - landesspezifischer Handlungsbedarf. Spätestens hier hätte sich die Landesregierung auf den Hosenboden setzen müssen. Aber nichts ist passiert.

Schnell in den Schubladen verschwand auch das KienbaumGutachten vom November 2003. Es ist eben unbequem, einmal eingefahrene Gleise zu verlassen und zu hinterfragen, ob die viel gerühmten Leuchttürme tatsächlich Leuchttürme sind. Und wie stabilisiert man denn die vielen blinkenden Lichter des Mittelstandes, von denen jährlich so viele verlöschen? Die sächsische SPD-Vorsitzende Constanze Krehl hat doch Recht, wenn sie sagt: Auf Dauer sind Leuchttürme in einer Wüste nicht zukunftsfähig. - Wenn die Wüste fruchtbar werden soll, muss sie bearbeitet, bewässert und gepflegt werden.

Zuallererst ist nicht, wie im Bericht geschehen, zu fragen: Welche Vorschläge gibt es für annehmbare Leistungskürzungen? wobei schon hier offen bleibt, für wen besagte Leistungskürzungen denn annehmbar sein dürfen. Wichtiger ist doch zu definieren: Wohin soll sich Brandenburg entwickeln? Auszugraben sind die Stärken und Schwächen, die Chancen, die spezifisch in Brandenburg vorhanden sind. Rathenow - das Beispiel ist heute Vormittag genannt worden - hat eben nicht bei null angefangen, sondern gerade Rathenow war schon zu DDR-Zeiten ein Standort der optischen Industrie und gerade dort hat man daran angeknüpft, dass das Fachpotenzial, dass das wissenschaftliche Potenzial vorhanden ist.

(Beifall bei der PDS - Klein [SPD]: Aber eine Zeit lang war da Ritze, war da nichts mehr!)

Das ist genau die Forderung, die wir stellen. Genau das heißt Strukturpolitik: dort anzuknüpfen, wo die Voraussetzungen vorhanden sind.

(Klein [SPD]: Was ist mit EKO? Was ist mit Hennigs- dorf?)