Protokoll der Sitzung vom 05.07.2007

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch wenn die Zeit schon fortgeschritten ist, werde ich Sie jetzt mit einer Pressemitteilung aus dem März des Jahres 2003 konfrontieren, als sich das Ende der ersten Großen Koalition näherte:

„Ärzte, Verbände und Politik formulierten jetzt gemeinsam Ziele für die Verbesserung der Kindergesundheit in Brandenburg. Das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen gilt als vorrangige Aufgabe in der Landespolitik.“

Jetzt komme ich zu einer Schlagzeile aus der vergangenen Woche: „Louis und Luna sind vom warmen Schulessen ausgeschlossen, und eine Lösung für die achtjährige Luna und ihren zehnjährigen Bruder Louis ist nicht in Sicht.“ - Das wollen, ja müssen wir ändern, denn Louis und Luna leben in einem der reichsten Länder der Welt, in Deutschland, genauer: in Brandenburg, mitten unter uns, in der Stadt Jüterbog. Bekannt geworden sind sie in der vergangenen Woche durch die RBBSendung „Kontraste“.

Für ein Kind dürfte es zu den bedrückendsten Erfahrungen gehören, wenn ein Kind, das gemeinsam mit anderen Kindern den ganzen Tag über spielt oder lernt, ausgeschlossen bleibt, wenn diese zum Mittagessen gehen. Aber selbst, wenn sie am Mittagessen teilnehmen, sind immer mehr Kinder von Mangeloder Fehlernährung betroffen. Ich zitiere aus dem Bericht über Kinder in besonderen Problemlagen der Stadt Frankfurt (Oder). Unter Punkt 5.3, Befragung von Schlüsselpersonen, sagt eine Kita-Leiterin:

„Einige Hortkinder erhalten bei uns die einzige Mahlzeit am Tag. Sie haben nie Frühstück oder Vesper mit. Sie sprechen auch darüber, dass es auch kein Abendbrot gibt. Bei der täglichen Obstmahlzeit stellen wir fest, dass einige Hortkinder einzelne Obstsorten wie Kiwi, Melone, tropische Früchte nicht kennen, sie zu Hause nicht gekauft werden.“

In diesem Jahr wurden verschiedene Studien zur Kindergesundheit veröffentlicht. So die KiGGS-Studie des RobertKoch-Instituts oder die Studie von UNICEF zur Situation der Kinder in den reichen Ländern. Auch der 110. Deutsche Ärztetag hat sich vor einigen Wochen ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. In der internationalen Studie tun sich übrigens interessante Ähnlichkeiten zu PISA auf, was die Länder auf den Spitzenplätzen angeht. Das sind die Länder, an denen Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wie ich auf Ihrem letzten Parteitag vernommen habe, tatsächlich orientieren wollen. Ich hoffe, es bleibt bei diesem Willen.

Im Hinblick auf Gesundheit heißt es in dem genannten Bericht:

„Deutschland gibt für sein Gesundheitssystem deutlich mehr aus als Schweden oder Dänemark und belegt trotzdem im Hinblick auf Gesundheit und Sicherheit von Kindern nur den mittelmäßigen Platz 12. Schweden dagegen liegt auf Platz 1 und Dänemark immerhin auf Platz 4.“

Dazwischen liegen Finnland und die Niederlande. Ich zitiere weiter:

„In Deutschland haben politische Maßnahmen und Entscheidungen für Kinder oft nur wenig bewirkt, weil sie nicht aufeinander abgestimmt und nicht zielgerichtet geplant wurden. Es fehlt ein Gesamtkonzept, das die ökonomische Situation von Familien, die Infrastruktur für verlässliche Lebensumwelten und die Neuorganisation der Aufgabenteilung zwischen Familien und Institutionen wie Schule, Kindergarten oder Jugendämtern umfasst.“

Unser Antrag soll eine erste Schlussfolgerung aus dieser Einschätzung sein.

Die Auswertung der Schulabgangsuntersuchungen im Kreis Potsdam-Mittelmark weist aus, dass jeder zehnte Schulabgänger übergewichtig ist. Die Ergebnisse sehen landesweit nicht anders aus. Als Hauptursachen gelten mangelnde Bewegung und falsche Ernährung. Was konkret zwischen Einschulung und zehnter Klasse abläuft, weiß man allerdings nicht so genau, denn die von der Landesregierung und der Koalition wegen der angeblichen Kostenersparnis ausgedünnten Reihenuntersuchungen, die bei uns schon öfter Thema waren, können vor Ort wegen Personalmangels nicht einmal durchgeführt werden.

Frau Abgeordnete, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Bitte schön.

Frau Wöllert, ich habe Kenntnis davon, dass in Kindereinrichtungen gesunde Ernährung Bestandteil des Tagesablaufs ist. Haben Sie die gleiche Kenntnis wie ich?

Ich habe die gleiche Kenntnis wie Sie, aber ich kenne auch die Statistiken darüber, wie es zwischen Einschulungsuntersuchung und Schulabgangsuntersuchung aussieht. Schauen Sie sich diese einfach an. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Ihre eigene Kampagne - darauf komme ich noch -, die Sie auf dem Parteitag beschlossen haben. Die würde dann überflüssig sein.

Das Problem hat inzwischen durchaus auch die Politik erreicht. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit verweise ich auf eine Bundesratsinitiative des Saarlandes. Kollege Senftleben wollte dazu heute eine mündliche Anfrage stellen. Leider wurde sie getauscht, sodass sie nicht zur Sprache kam. Darin ist alles gesagt. Des Weiteren verweise ich auf den Bericht von „Kontraste“. Zudem hat Rheinland-Pfalz - ein Bundesland, das ebenfalls von Ihrer Partei regiert wird - einen eigenen Fonds für bedürftige Kinder eingerichtet.

Ich verweise auch auf einen Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE in Sachsen, nach dem Kindern im Grundschulalter ein kostenfreies Mittagessen gesichert werden soll. In der sächsischen Gemeinde Boxberg gibt es bereits das kostenlose Mittagessen in der Kita und der Grundschule. Rheinland-Pfalz hatte ich diesbezüglich bereits erwähnt.

Mittagessenzuschüsse in sozialen Härtefällen gibt es bereits vereinzelt im Land Brandenburg. Nun sollten die schönen Worte auch endlich mit Taten untersetzt werden.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Die Aufzählung ist sicherlich nicht vollständig. Jedoch verdeutlicht sie, dass ein entsprechendes Problembewusstsein im gesamten parteipolitischen Spektrum - quer durch die demokratischen Parteien - durchaus vorhanden ist, auch wenn es sehr viel begrenzter ist als das, was wir uns mit dem vorliegenden Antrag vorstellen.

Zurück zu Brandenburg. Ich verhehle nicht, dass wir als Opposition die bisherigen Anstrengungen der Landesregierung bei weitem nicht für ausreichend halten. Die Modellprojekte kommen und gehen. Das ist im Übrigen nicht nur unsere Meinung. Kollegin Dr. Münch war als Referentin bei der Friedrich-EbertStiftung in Oranienburg. Obwohl sie nicht den gesamten Tag

anwesend war - wir dagegen schon -, hat sie es selbst erleben können. Diese Auffassung haben viele dort vertreten. Sie sind nicht damit zufrieden, dass wir von einem Modellprojekt zum anderen hasten und nachhaltig nichts bewirkt wird. Die Veranstaltung hieß „Je eher, desto besser“ und beschäftigte sich mit der Gesundheit von Kindern.

Die einmal ausgereichte Biobox, Frau Alter, ist sicherlich ein schönes Symbol. Da sie jedoch nicht die Zauberkraft besitzt, sich, wenn sie gerieben wird, von allein zu füllen, reicht sie nicht aus. An vielen Schulen hat der Cola-Automat die Schulmilch leider schon ersetzt.

(Zurufe von der SPD)

Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Zehn-Punkte-Programm vom letzten Wochenende eine wunderschöne Kampagne - mit dem Schlagwort „Besser essen, besser fühlen“ - beschlossen und verabschiedet. Dabei geben Sie - das ist dann sehr leicht - die Verantwortung unter anderem an die Lehrer mit Fortbildung und an die Eltern weiter. Dann stehen wir mit unserer nächsten Pressemitteilung noch immer da, wo wir schon seit 2003 stehen. Wir halten es nicht für ausreichend, Kampagnen zu beschließen. Wir möchten nachvollziehbare, abrechenbare und von den Wirkungen her spürbare Maßnahmen.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Was dabei eine Rolle spielen soll, haben wir im vorliegenden Antrag formuliert: gesund, bezahlbar, nachhaltig. Mit diesen drei Begriffen lässt sich kurz umreißen, wie wir uns ein Mittagsangebot für Kita- und Schulkinder vorstellen; gesund durch die Beachtung und Umsetzung von ernährungsphysiologischen Empfehlungen, bezahlbar durch Zuschüsse für Kinder, deren Eltern das Mittagessen nicht bezahlen können, im ersten Schritt und die Perspektive einer kostenfreien Mittagsversorgung für alle - wie in Schweden - in den nächsten Schritten, nachhaltig durch die Verbindung von Versorgung mit der Vermittlung von Wissen und Erfahrungen in Bezug auf gesunde Ernährung.

Wir möchten der Landesregierung bewusst Spielraum lassen. Sie soll ein Maßnahmenpaket erarbeiten und dem Landtag vorlegen. Dabei erwarten wir, dass Netzwerkarbeit bei der Landesregierung beginnt und nicht immer nur von kommunalen Handlungsträgern gefordert wird.

Beim Kindergesundheitsgipfel sind die Gesundheitsministerin und Ärzte und bei den Sprachstandserhebungen der Minister für Bildung, Jugendämter und Kitas vertreten. Beide Minister müssen auf beiden Veranstaltungen vertreten sein, wenn man nachhaltig etwas bewirken will und das auch an der Basis erwartet.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Natürlich müssen auch wir uns der Frage der Finanzierung stellen. In der Sendung „Klartext“ wurde ein bundesweiter Zuschuss von 300 Millionen Euro ausgemacht, wenn alle bedürftigen Kinder 1 Euro für das Mittagessen bezahlen. Diese Summe wurde den steuerlichen Mehreinnahmen in diesem Jahr in Höhe von 27 Milliarden Euro gegenübergestellt. Wer Armut sagt, muss auch Reichtum denken.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Möglicherweise können Sie diesbezüglich bei Ihrer Kollegin Hilde Mattheis - Mitglied des Bundestages - aus Baden-Württemberg einmal nachfragen, die die Arbeitsgruppe zur Teilungsgerechtigkeit und sozialen Integration leitet. Dann könnten Sie nicht anders reagieren, als unserem Antrag zuzustimmen.

Herzlichen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält die Abgeordnete Dr. Münch das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Wöllert, ich staune darüber, wie es Ihnen gelingt, so vieles in einem zehnminütigen Redebeitrag unterzubringen. Das hat mit dem Antrag bzw. dem Thema aber nicht mehr viel zu tun. Einerseits fordern Sie Maßnahmen, andererseits polemisieren Sie gegen das, was die Landesregierung bereits tut. Sie formulieren in Ihrem Antrag, dass unser Anliegen sein müsse, ein Versorgungsangebot sicherzustellen, und beleidigen damit die kommunalen und privaten Träger, weil Sie so tun, als ob es das nicht bereits gäbe.

(Beifall bei SPD und CDU)

Lassen Sie uns doch bitte einmal zu den Fakten zurückkommen. Ich kann nicht akzeptieren, dass Sie Geschichten dahin gehend zitieren, Kinder hätten kein Geld zum Essen. Zugleich sagen Sie dann, die Kinder seien zu dick und würden sich an den Cola-Automaten bedienen. Das alles passt nicht zusammen.

(Beifall bei SPD und CDU)

Erfreulicherweise zitieren Sie einen Beschluss des SPD-Landesparteitags vom letzten Wochenende, in dem wir dieses Problem sehr wohl als sehr vordringlich erkennen. Forschungen zeigen nämlich, dass sich viele Kinder heute ungesund ernähren, unregelmäßig essen und zu wenig Sport treiben. Etwa 20 % der Kinder sind übergewichtig. Deshalb soll die Landesregierung eine Kampagne für gesundes Essen und mehr Sport „Besser essen, besser fühlen“ - ins Leben rufen. Diese soll unter anderem Fortbildung für Lehrer, Aufklärung für Kinder und Eltern sowie Richtlinien für eine gesundere Schul- und KitaSpeisung enthalten. Das ist der Beschluss des Landesparteitages, an dem sich auch die Landesregierung messen lassen muss; denn das sind die Ziele, um die es gehen muss.

Es kann nicht darum gehen, populistisch alles in einen Topf zu rühren, was einem an der Regierung nicht passt. Im Interesse der Betroffenen kann es nur darum gehen, dass wir tatsächlich auf die Faktenlage schauen. Faktenlage ist - wenn Sie sich die Schuleingangsuntersuchungen anschauen -, dass die Adipositas - die Fettleibigkeit - bei Schulanfängern seit dem Jahr 1994 nicht zugenommen hat. Der Zustand von Jungen und Mädchen zum Zeitpunkt der Einschulung befindet sich ebenfalls auf dem gleichen Niveau wie vor zwölf Jahren.

Bei den Schulabgangsuntersuchungen - diese werden im Rahmen der Reihenuntersuchungen in der 10. Klasse durchgeführt - wurde allerdings eine Zunahme der Rate der dickleibigen Mädchen und Jungen - die Zahl hat sich nahezu verdoppelt

festgestellt. Was ist inzwischen geschehen? - Darüber wissen wir nur wenig. Wir wissen lediglich, dass es nicht die Lösung sein kann, ein kostenloses Schulmittagessen zur Verfügung zu stellen. Vor allem im Alter von 15 bzw. 16 Jahren lässt sich kein Jugendlicher mehr durch ein verordnetes einheitliches Essen vorschreiben, wie er sich zu ernähren hat. In diesem Alter wäre das zu spät.

Zudem liegt die Lösung des Problems nicht darin, dass man den armen Familien einen Zuschuss gewährt; denn es gibt kein belastbares Material darüber, ob das Problem darin begründet liegt.

Was sind die Ursachen? - Die Ursachen für Übergewichtigkeit bei Kindern und die Ursachen dafür, dass sich Kinder schlecht ernähren, werden bereits sehr früh gelegt. Gestillte Kinder werden später zu einem wesentlich geringeren Prozentsatz übergewichtig.

(Beifall der Abgeordneten Hartfelder [CDU])

Von Bedeutung sind auch familiäre Rituale, dass man sich zum Beispiel gemeinsam an den Tisch setzt. Das alles kostet kein Geld; insbesondere das Stillen nicht.

Des Weiteren geht es um eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Fastfood, Essen von der Pommesbude und vom Döner-Stand sehr viel teurer sind als eine gesunde Ernährung mit frischem Gemüse aus der jeweiligen Jahreszeit.

(Beifall bei der SPD)

Frau Dr. Münch, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?