Protokoll der Sitzung vom 17.12.2015

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle gen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen! Da ich grundsätzlich zu den Optimisten gehöre, erst einmal die gute Nachricht: Es gibt endlich einen Antrag zu diesem Thema. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich hoffe, dass sich bei diesem Thema endlich etwas bewegt.

(Vereinzelt Beifall DIE LINKE)

Die schlechte Nachricht lautet: In dem Antrag steht nichts Konkretes.

(Einzelbeifall - Genilke [CDU]: Sonst hätte es den ja nicht gegeben!)

Die Empfehlungen der Expertenkommission zur Umsetzung von Inklusion - die es seit April 2014 gibt -, die mehrfach er wähnt wurden und auf die im Antrag Bezug genommen wird, liegen seit eineinhalb Jahren vor. Sie enthalten so viel, was hät te umgesetzt werden können.

Wir hatten eigentlich besprochen, dass wir diesem Antrag zu stimmen. Nun höre ich aber - da schlage ich einen Bogen zu dem Antrag, über den wir vorhin beraten haben -, dass Minister Baaske den Begriff Inklusion nicht in den Mund nimmt, sich also auch nicht in das große übergreifende Konzept einordnet, das die UN-Behindertenrechtskonvention darunter versteht, sondern künftig ausschließlich vom gemeinsamen Lernen redet und gemeinsames Lernen für ihn bedeutet, dass unterschied liche Schulen unter einem Dach zusammengefasst werden bzw. dass - in den Worten der heutigen Pressemitteilung - Schulzen tren „auch ortsübergreifend verschiedene Standorte haben kön nen“.

Wenn Sie mit Inklusion das meinen, haben wir nicht die glei che Meinung. Sollte das im Laufe der Debatte herauskommen, werden wir nicht zustimmen;

(Zurufe der Abgeordneten Lehmann und Frau Koß [SPD])

sonst stimmen wir diesem Antrag zu.

Inklusion ist etwas ganz anderes: Inklusion ist Binnendifferen zierung. Das bedeutet, unterschiedliche Kinder - hochbegabte und solche mit Förderbedarfen - in einer Gruppe zusammen zu unterrichten, binnendifferenziert zu unterrichten. Ja, das ist schwierig; aber es gibt genügend Menschen und Lehrkräfte, die das können. Das ist Inklusion. Übertragen auf die Ober schulmodelle ist es das integrative und nicht das kooperative Konzept. So muss es gehen. Ich wünsche mir, dass das gemeint ist.

Ich sage auch deutlich: Der Unterschied zwischen dem Antrag der Koalitionsfraktionen und unserem Entschließungsantrag ist, dass im Antrag der Koalitionsfraktionen in Bezug auf die Empfehlungen gefordert wird, die Landesregierung solle auf zeigen, welche Schlussfolgerungen sie aus dem Evaluationsbe richt zieht, sowie Vorschläge für eine weitere Entwicklung un terbreiten. - Das ist noch nichts Konkretes; da steht nicht, dass dieses oder jenes umgesetzt werden soll.

Wir haben vier aus unserer Sicht zentrale Punkte aus den Emp fehlungen herausgepickt und möchten einen konkreten Fahr plan zur Umsetzung dieser Punkte. Wir möchten, dass bis zum Ende des 1. Halbjahres 2016 ein Fahrplan vorliegt, über dessen Umsetzung der Landtag entscheidet - ganz konkret und nicht nur in Form einer banalen fachlichen Stellungnahme. Darum geht es uns.

(Frau Dannenberg [DIE LINKE]: Das meinen wir damit!)

- Ja, gut. Wir können weiter darüber reden; aber die wichtigsten Punkte haben wir aufgeschrieben. In diesem Antrag sehe ich das nicht, er ist relativ unkonkret.

Heute Nachmittag ist uns die Evaluation des Pilotschulpro jektes ausgeteilt worden. Herr Baaske redet seit einem Jahr da von, dass es konkrete Schritte geben werde, wenn diese Evalu ation da ist - sie sollte schon im Oktober da sein. Was Sie jetzt machen, bedeutet eine erneute Verlängerung. Wir wissen ge nau, dass es all die tollen Leute, die sich dafür eingesetzt ha ben, die Inklusion in den Schulen in Brandenburg voranzutrei ben, brüskiert, wie wenig in den letzten Jahren passiert ist. Sonderpädagogen reden schon davon, dass man nicht nach Brandenburg gehen sollte, weil man dort für den Vertretungs unterricht eingesetzt wird. Würde man das bildungspolitische Unwort des Jahres bzw. der letzten Jahre wählen, wäre es wahrscheinlich das Wort Inklusion. Hätten wir, wie Frau Münch es geplant hatte - hätte sie sich nur durchgesetzt -, die Umsetzung des Pilotprojektes PING ab September 2015 auf al le Grundschulen ausgeweitet, wie viele Kinder würden davon profitieren!

Das haben Sie nicht gemacht, sondern verhindert. Jetzt schie ben Sie das ganze Projekt weiter auf die lange Bank. Ich werde nicht Herrn Baaskes Brief aus dem letzten Jahr vergessen, in dem er uns mitgeteilt hat, wie wichtig ihm das Projekt sei und dass der runde Tisch wieder einberufen werde; wir dürften noch ein Jahr warten, aber dann werde es passieren. - Dieser Antrag bedeutet jetzt, dass ein weiteres Dreivierteljahr verge hen wird, bis das nächste Papier vorliegt. Wieder muss nichts passieren; dann kommt die Sommerpause. Wahrscheinlich im Herbst kommenden Jahres werden Sie dann einen Wissen schaftlichen Beirat einsetzen, der Empfehlungen dazu abgeben wird, wie das Projekt Inklusion künftig irgendwann einmal umzusetzen sei.

Das ist nicht unsere Intention. Wir wollen schnellere und kon kretere Schritte. Deshalb haben wir den Entschließungsantrag vorgelegt. Aber wie gesagt: Man muss abwarten, was der Mini ster sagt. Im Grunde stimmen wir zu.

(Beifall B90/GRÜNE)

Für die Landesregierung spricht nun Minister Baaske.

Herr Vizepräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau von Halem, Inklusion ist für mich, dass Menschen - egal mit wel cher Behinderung, welcher Hautfarbe, welchen Kenntnissen und Fähigkeiten - in dieser Gesellschaft nicht behindert wer den. Das betrifft alle Bereiche, die diese Menschen tangieren könnten: Baulichkeiten, Arbeitsplätze, gesundheitliche Be handlung, Ernährung - alles, was das menschliche Leben in all seinen Facetten ausmacht. Alles, was dazu gehört, ist für mich Inklusion.

Aber wenn ich über Inklusion in der Schule rede, rede ich über gemeinsames Lernen. Verstehen Sie mich? Ich will nicht sa gen, dass gemeinsames Lernen nicht Inklusion ist - Quatsch! Aber Inklusion in der Schule heißt gemeinsames Lernen - nichts weiter. Das ist der Unterschied. Da haben Sie mich vor hin falsch verstanden oder wollen mich falsch verstehen.

(Zuruf von der SPD)

Natürlich ist gemeinsames Lernen in der Schule Inklusion; aber Inklusion ist mehr als nur gemeinsames Lernen.

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Sicher - wenn die Uhr angehalten wird; sie ist noch an.

Sehr geehrter Herr Baaske, wenn Inklusion für Sie gemein sames Lernen bedeutet, könnten Sie bitte noch einmal darle gen: Ist gemeinsames Lernen das Lernen unterschiedlicher Kinder - hochbegabter und solcher mit Förderbedarfen - in ei ner Klasse über einen möglichst langen Zeitraum? Oder ist ge meinsames Lernen das Lernen von Kindern in unterschied lichen Schulformen an unterschiedlichen Standorten?

Inklusion ist beides. Inklusion kann heißen, dass Kinder - die hochbegabten, die weniger begabten, die behinderten - in einer Klasse an einem Schulstandort sind. Es kann aber genauso gut heißen, dass sie an unterschiedlichen Standorten sind. Das hat doch damit gar nichts zu tun.

Wir müssen darauf achten, dass die behinderten Kinder nicht benachteiligt werden, sondern mindestens die gleiche Förde rung erfahren wie die anderen - sogar noch mehr. Wir müssen darauf achten, dass nicht von vornherein aussortiert wird, son dern für die Kinder, die benachteiligt sind, bessere Bedin gungen geschaffen werden als für die Kinder, die keine Be nachteiligung haben,

(Vereinzelt Beifall DIE LINKE)

sodass sie von vornherein gleiche Chancen haben.

Verstehen Sie doch bitte: Das gemeinsame Lernen ist nichts anderes als eine Teilmenge der Inklusion

(Frau Koß [SPD]: Ja!)

- wie das gemeinsame Wohnen, gemeinsame Essen usw. Nicht mehr steckt dahinter.

(Beifall der Abgeordneten Frau Koß [SPD] und Frau Dannenberg [DIE LINKE])

Wenn jetzt gesagt wird, in Brandenburg sei nichts passiert: Herrje! In Brandenburg steht das gemeinsame Lernen als ver pflichtende Möglichkeit der Schulen seit über 20 Jahren im Schulgesetz. Und als die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet wurde, waren in Brandenburg schon mehr Kin der im gemeinsamen Lernen als heute im bundesweiten Durch schnitt.

(Zurufe und vereinzelt Beifall SPD)

Inzwischen sind 45 % der Kinder, die mit einer Behinderung in diesem Land leben, im gemeinsamen Lernen. Der Bundes

durchschnitt liegt bei 25 %. Jetzt zu sagen, in diesem Land sei nichts passiert, ist hanebüchener Unsinn!

(Beifall SPD)

Selbst wenn Sie sagen, im letzten Jahr sei nichts passiert: Als ich angefangen habe, in diesem Ministerium zu arbeiten, waren wir bei 43 % - jetzt sind es 45 %. Das heißt, auch in diesem Jahr sind wieder mehr Kinder ins gemeinsame Lernen gekom men.

Herr Hoffmann, Sie erzählen Unsinn, wenn Sie sagen, dass die Eltern das nicht wollen.

(Beifall der Abgeordneten Koß [SPD] sowie vereinzelt DIE LINKE)

Sie stimmen mit den Füßen ab, ob ich Modellprojektschulen habe oder nicht. Die Eltern haben ein Recht darauf - und das wissen sie -, ihre Kinder ins gemeinsame Lernen zu geben - und sie tun es. Sie tun es in Brandenburg, Herr Hoffmann, weil sie wissen, dass das System gut ist und funktioniert. Es ist nicht so, dass es nicht funktionieren würde, sonst würden die Eltern es nicht machen. Es spricht sich herum, dass ihre Kinder besser gefördert werden.

Herr Vida, entschuldigen Sie bitte, dass ich die Stimme hebe, aber das gehört hier einfach dazu.

(Heiterkeit der Abgeordneten Nonnemacher [B90/GRÜ NE])

Es ist nicht so, dass die Eltern nicht wüssten, was sie tun. Son dern sie sehen, dass andere Kinder, die in der Förderschule wa ren, es im gemeinsamen Unterricht besser schaffen, dass sie Abschlüsse erwerben. Schauen Sie in den heutigen Pressespie gel!

(Beifall der Abgeordneten Große [DIE LINKE])

Da sind Beispiele dafür genannt, dass auch Kinder mit einer geistigen Behinderung einen Abschluss erworben und nun eine Ausbildungsstelle haben. Das alles geht, wenn man das will.

(Beifall der Abgeordneten Frau Koß [SPD] und Frau Große [DIE LINKE])

Und die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schulen wollen das; darum kriegen sie es auch hin.

Jetzt zu sagen, wir warten wieder ein halbes Jahr, ist Unsinn. Ich muss ehrlich sagen: Ich habe um diesen Antrag gebeten. Soll ich Ihnen sagen, warum?