Protokoll der Sitzung vom 19.11.2014

Sie zielen in Ihrem Antrag fast ausschließlich darauf ab, Wege aufzuzeigen und Angebote bekannter zu machen. Damit gestehen Sie zwar zumindest ein, dass es dank Rot-Rot schon viele gute Angebote gibt, die, weil sie so gut sind, noch stärker genutzt werden müssten, aber Sie verdeutlichen damit auch genau das, was uns im politischen Verständnis des Problems grundlegend unterscheidet. Sie unterstellen damit, dass Betroffene, wenn sie sich nur ausreichend mit ihrer Situation befassen und anstrengen würden, auch alleine aus ihr herauskommen könnten.

(Der Abgeordnete Bretz [CDU] tritt ans Mikrofon.)

- Sie können sich wieder setzen.

(Zuruf von der CDU: Das entscheiden nicht Sie!)

Ohne das in jedem Fall ausschließen zu wollen, implizieren Sie damit: Wer arm ist, ist selbst daran schuld. - Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, geht an der Realität nun wirklich vorbei.

(Beifall DIE LINKE)

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein. - Besorgen Sie sich Redezeit, dann können Sie auch sprechen.

Erklären Sie das einmal einer alleinerziehenden Mutter, die nur einen Teilzeitjob annehmen kann, Familien, in denen Angehörige gepflegt werden, oder Menschen, die durch gebrochene Erwerbsbiografien von Altersarmut betroffen sind. Sagen Sie ihnen doch: Unser Maßnahmenplan sieht vor, dass Angebote bekannter gemacht werden. - Erfreuen Sie sich dann der großen Dankbarkeit, die Sie erfahren werden! Das mag ein Baustein sein, aber eben nur einer von vielen. Bei Ihnen ist es der zentrale, und das nicht ohne Grund. Denn genau das, werte Kolleginnen und Kollegen der CDU, charakterisiert Ihre Herangehensweise: Armen Menschen individuelles Versagen zuzuschreiben, sei es unter Verweis auf angeblich fehlendes eigenes Engagement, ungezügeltes Konsumverhalten, intellektuelle Minderleistung oder angebliche Mitnahmementalität - all das ist ständig von Ihnen zu hören.

Damit stigmatisieren Sie nicht nur ganze Bevölkerungsteile, Sie tun es auch zu Unrecht. Die moderne Armutsforschung zeigt: 80 % der von Armut betroffenen Familien tun alles, um die Armut nicht nach außen sichtbar, vor allem nicht für ihre Kinder spürbar werden zu lassen. Davor sollte man alle Achtung und großen Respekt haben. Selbst bei denen, die ihre Armut trotz Anstrengung nicht verbergen können, handelt es sich zum allergrößten Teil um Eltern, die zugunsten ihrer Kinder auf persönliche Dinge verzichten.

Meine zweite Anmerkung: Wenn Sie einen Antrag einbringen, sollten Sie vorher prüfen, ob das, was Sie beantragen, nicht längst von uns beschlossen wurde. Da Sie sich den Oppositionszuschlag nun wirklich sehr hart erarbeitet haben, können

Sie ihn sich auch dafür zunutze machen, Leute einzustellen, die Sie an dieser Stelle inhaltlich fit machen.

(Beifall DIE LINKE)

Es gibt das Familien- und Kinderpolitische Programm mit 49 Einzelmaßnahmen, das Seniorenpolitische Programm mit 40 Einzelmaßnahmen, das Gleichstellungspolitische Programm mit 53 Maßnahmen plus 11 weiteren im Aktionsplan, das Behindertenpolitische Maßnahmenpaket und das im Koalitionsvertrag vereinbarte pflegepolitische Programm. Darin enthalten sind zum Beispiel Maßnahmen wie das Mobilitätsticket für einkommensschwache Familien, das Programm Familienferien, das Programm „Auskommen mit dem Einkommen“, das Seniorenticket, die INNOPUNKT-Initiative - ich könnte die Aufzählung noch lange fortsetzen.

Sie haben mit Ihrem Antrag zumindest einmal wieder unter Beweis gestellt, dass es nichts mit tatsächlichem Problembewusstsein und ernster Befassung zu tun hat, ein Stück Papier vollzukritzeln. Aus den genannten Gründen bleibt uns nichts anderes übrig, als Ihren Antrag abzulehnen.

Mit unserem Entschließungsantrag tun wir genau das, was notwendig ist und was Frau Ministerin Golze als vordringliche Aufgabe gekennzeichnet hat: Wir verzahnen die bereits beschlossenen Maßnahmen gegen Armut und bündeln sie zu einem Gesamtpaket.

Was wir ebenfalls tun werden, ist ernsthafte Ausschussarbeit; dazu lade ich Sie abseits von all den Schaufensteranträgen auch herzlich ein.

(Unmut bei der CDU)

Dort ist es dann unsere gemeinsame Aufgabe, die vorhandenen Strukturen und Maßnahmen daraufhin zu evaluieren, welche funktionieren und welche nicht, welche sich bewährt haben und welche nicht, und sie zu verbessern und weiterzuentwickeln. Das findet dann zwar nicht vor laufender Kamera statt, wie Sie es gern hätten, aber es ist genau die Arbeit, die sachdienlich und wichtig ist, um die Betroffenen nicht aus dem Plenarsaal heraus zu belehren, sondern ihnen das zu geben, was sie verdienen: Respekt und tatsächliche Hilfe für ihre zu allermeist unverschuldete schwierige Lebenslage. - Herzlichen Dank.

(Beifall DIE LINKE sowie vereinzelt SPD)

Vielen Dank. - Das Wort erhält die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN; die Abgeordnete Nonnemacher spricht.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wilke, ich glaube, in der Aufregung ist Ihnen ganz entgangen, dass Frau Ministerin Golze noch gar nicht zu dem Tagesordnungspunkt gesprochen hat; aber dies nur vorweg.

(Beifall B90/GRÜNE und CDU)

Es war natürlich kein Zufall, dass die CDU-Fraktion in diesem Sommer gerade das Sozialwissenschaftliche Forschungszen

trum Berlin-Brandenburg e. V. mit einer Expertise zum Armutsrisiko beauftragte. Das Institut hatte auch den Sozialreport Land Brandenburg 2014 im Auftrag der Volkssolidarität erarbeitet, ist schon häufiger für die Linksfraktion im Deutschen Bundestag tätig gewesen und hat zwei Studien für den Bericht des MASGF von 2008 „Lebenslagen in Brandenburg - Chancen gegen Armut“ beigetragen.

Rot-Rot mit den eigenen Themen stellen und mit Kritik aus dem eigenen Umfeld konfrontieren - so lautete hier die Devise. Im Sozialreport der Volkssolidarität und der von der CDU in Auftrag gegebenen Studie wird der Anteil der in Armut oder Armutsgefährdung lebenden Bevölkerung mit 18 % angegeben; Tendenz steigend. Andere Studien kommen zu etwas anderen Ergebnissen, was aber auch an den unterschiedlichen statistischen Erhebungsverfahren liegt. Gemeinsam ist allen Studien, dass ein sogenanntes relatives Armutskonzept zugrunde liegt.

Auch der Regionale Sozialbericht des Statistischen Landesamtes für Berlin-Brandenburg von 2013 weist 14,6 % der Brandenburger Bevölkerung mit einem Armutsrisiko aus. Wie in allen Studien sind Kinder überdurchschnittlich betroffen. Das Armutsrisiko in Brandenburg ist seit 1996 um etwa 4 % gestiegen. Besonders bedrückend ist die Lage von Langzeitarbeitslosen: Sie sind zu über zwei Dritteln von Armut bedroht. Weiterhin wird in allen Studien die sehr große regionale Differenzierung belegt. Die Armutsgefährdung ist in berlinfernen Regionen wesentlich höher. Den höchsten Anteil an armutsgefährdeten Einwohnern weisen die kreisfreie Stadt Frankfurt (Oder) darauf hat Herr Wilke hingewiesen - und der Kreis Uckermark auf. Auch eine Studie der Bertelsmann Stiftung von 2012 arbeitet diese großen regionalen Unterschiede heraus. Dort wird die Armutsquote kleiner Kinder für Potsdam-Mittelmark mit 15 %, für die Uckermark mit 40 % angegeben und Brandenburg die dritthöchste Armutsquote unter allen Flächenländern attestiert.

Die Faktoren, die mit einer hohen Armutsgefährdung korrelieren, sind sattsam bekannt: Bildungsarmut, fehlende Schul- und Berufsabschlüsse, niedriges Qualifizierungsniveau, unterbrochene Erwerbsbiografien, besonders Langzeitarbeitslosigkeit, Migrationshintergrund und - immer wieder zu beklagen - das besonders hohe Risiko von Alleinerziehenden.

Auch wenn meine Fraktion nicht der Meinung ist, dass sich die Politik der CDU bisher besonders dadurch ausgezeichnet hat, der Bekämpfung von Armut dienlich zu sein, sind wir aber der Meinung, dass sich eine rot-rote Landesregierung sehr wohl an dieser hohen und noch steigenden Armutsgefährdung im Land Brandenburg messen lassen muss. Wer sich „100 % sozial“ auf die Fahnen schreibt, muss schon ein bisschen mehr im Köcher haben als das Dauerplacebo Schüler-BAföG und einen krachend gescheiterten öffentlichen Beschäftigungssektor.

(Beifall B90/GRÜNE, CDU sowie vereinzelt AfD)

Ein Anlauf hin zu einem wirklich nachhaltigen sozialen Arbeitsmarkt, der die betroffenen Langzeitarbeitslosen nicht nach kurzer Zeit wieder vor der Perspektivlosigkeit stehen lässt, ist vonnöten. Da sollte sich doch der kurze Draht zur Bundesarbeitsministerin mit ihren entsprechenden Plänen als hilfreich erweisen. Wir finden die Forderungen des Antrags der CDU, dass die neue Landesregierung ein umfassendes und integriertes Konzept zur

Armutsbekämpfung und - ich ergänze - auch zur Armutsprävention vorlegt, völlig richtig. Die verschiedenen Armutslagen sind dabei integrierend zu betrachten und die Ansprache und Beratung auch bildungsferner Menschen zu intensivieren.

Ihr Entschließungsantrag, liebe Koalitionsfraktionen, riecht nach schlechtem Gewissen. Wir sind aber mit einer Agenda zur Armutsbekämpfung auch einverstanden. Ihr Hinweis auf bundespolitische Forderungen - insbesondere die Kindergrundsicherung und die Angleichung von Löhnen und Renten - finden wir richtig. Deshalb stimmen wir beiden Anträgen zu. - Vielen Dank.

(Beifall B90/GRÜNE)

Das Wort erhält die Landesregierung. Bitte, Frau Ministerin Golze.

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Frau Nonnemacher, Herr Kollege Wilke kennt mich schon lange und weiß, dass Kinderarmut im Bundestag neun Jahre lang eines meiner Schwerpunktthemen war. Ich habe übrigens auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur Kenntnis gegeben, dass dies für das Haus, das ich jetzt leite, die Klammer sein könnte. Insofern habe ich dazu schon Einiges gesagt.

Ich muss zugeben, werte Damen und Herren von der CDUFraktion und liebe Frau Schier, dass ich Ihren Antrag und auch Ihre Rede mit einigem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen habe, und dies aus mehreren Gründen: Zum einen ist das Konzept, das Sie hier fordern, fester Bestandteil der Koalitionsvereinbarung. Ich weiß nicht, ob die Zeit, seitdem sie unterzeichnet wurde, bis heute zu kurz war oder ob Sie die entsprechenden Stellen überlesen haben. Aber wir sind uns in der Zielstellung im Klaren und haben die Bekämpfung der Kinderarmut sehr weit nach oben gestellt. Wenn ich Sie einmal daran erinnern darf: Vor einem Jahr hat Ihre Bundespartei in Berlin einen Koalitionsvertrag unterschrieben, der 189 Seiten lang ist und in dem das Wort „Kinderarmut“ nicht einmal vorkommt, geschweige denn ein Gesamtkonzept.

(Zuruf der Abgeordneten Schier [CDU])

Ich finde, wer ein Problem nicht wahrnehmen will, der will es auch nicht lösen, und das wollen Sie - zumindest auf Bundesebene - auf gar keinen Fall.

(Beifall DIE LINKE und SPD - Zurufe von der CDU)

Wir wollen uns hier um das Land Brandenburg kümmern, deshalb darf ich Ihnen den Auszug aus dem Koalitionsvertrag noch einmal vorlesen, da Sie ihn ja nicht zur Kenntnis genommen haben.

(Unruhe bei der CDU)

Ich zitiere von Seite 6:

„Auch die Kinderarmut“...

(Zuruf von der Fraktion DIE LINKE: Pst!)

- Getroffene Hunde bellen. Es ist doch alles gut.

(Beifall DIE LINKE)

„Auch die Kinderarmut ist ein bedrückendes Problem. Die landespolitischen Gestaltungsmöglichkeiten sind hier begrenzt, aber wir finden uns damit nicht ab - nicht gegenüber dem Bund und auch nicht im eigenen Land.“

Wir haben das „Netzwerk Gesunde Kinder“ auf den Weg gebracht. Es ist bundesweit einmalig in seiner Struktur, und wir werden es auch in dieser Legislaturperiode stärken. Wir haben das Schüler-BAföG, wir waren mit dem Vergabegesetz in Deutschland Vorreiter für den Mindestlohn, und wir kämpfen weiterhin für gute Arbeit, von der man auch ein auskömmliches Leben führen kann, denn wir wissen: Kinderarmut ist immer auch Familienarmut.

Während sich die CDU auf Landes- wie auf Bundesebene einer Debatte über einen gesetzlichen Mindestlohn durch eine strikte Ablehnung verweigert hat, haben wir über unser Vergabegesetz das uns in Brandenburg Mögliche getan, um ein existenzsicherndes Mindesteinkommen für die Familien in Brandenburg zu schaffen. Auch wenn Sie es nicht gern hören: Es war die CDU, die den Mindestlohn als Bedingung für öffentliche Aufträge in Brandenburg bis 2009 verhindert und stattdessen dem Land das Image „Billiglohnland“ verpasst hat.

(Zuruf von der Fraktion DIE LINKE: Richtig!)