Protokoll der Sitzung vom 13.07.2000

ten Deutschen in Berlin, die Bersarin gegen den Widerstand seiner eigenen Leute durchsetzte, hat nichts mit dem Völkerrecht und auch nichts mit einer angeblichen stalinistischen Strategie, die Menschen zum Kommunismus zu bekehren, zu tun. denn dafür gab es 1945 noch keine Strategie -darin sind sich zumindest die Experten und Historiker mehrheitlich einig.

Ich halte die Argumentation der Senatskanzlei, eine postume

Verleihung sei laut Richtlinien nicht zulässig, für bedauerlich und scheinheilig.

[Beifall bei der SPD, der POS und den Grünen]

Erstens ist diese rechtliche Position anfechtbar, weil es sich nicht um eine Neuverleihung, sondern um eine Wiederverleihung handelt, und weil es bereits postume Verleihungen gab, wie zum Beispiel an Zille und Nagel. Zweitens kneift die Senatskanzlei und stellt sich nicht den inhaltlichen Argumenten der Historiker.

Herr Landowsky! Tun Sie Ihrer Fraktion und Berlin einen Gefal

len und geben Sie die Abstimmung frei!

[Gelächter bei der CDU -Zurufe von der CDU]

Wir wissen, dass viele gestandene und profilierte CDU-Parla(C) mentarier mit der Mehrheit dieses Hauses dafür stimmen würden. Wir als europäische Ost-West-Metropole wollen den Anachronismus des Kalten Krieges endlich hinter uns lassen und mit einem historisch gerechteren und differenzierteren Bild des Ostens vorangehen und vorankommen. Die Aufnahme Bersarins in die Ehrenbürgerliste von Berlin kann dazu beitragen. Die SPDFraktion wird dem vorliegenden Antrag zustimmen. Danke!

[Beifall bei der SPD, der POS und den Grünen]

Vielen Dank, Frau Dr. Rusta! Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Herr Cramer das Wort. - Bitte sehr!

Cramer Grüne): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Geschichte Deutschlands und Europas des letzten Jahrhunderts ist gekennzeichnet von Brüchen. Aus Diktaturen wurden Demokratien. aus Kriegsgegnern politische Partner, aus Erzfeinden gute Freunde.

[Unruhe bei der CDU]

Kein Wunder, dass die Biographien der politischen Akteure nicht bruchlos verliefen. Auch sie sind Spiegelbilder ihrer Zeit, oder - um die Biermann-Rede zum 90sten Geburtstag von Robert Havemann zu zitieren-: "Seiner Zeit entgeht keiner." Die Zuhörer damals- auch Sie, Herr Lehmann-Brauns- konnten erleben, dass Biermann die Relegationen von Studenten der HumboldtUniversität.,Stalinisten Robert Havemann" als Verbrechen bezeichnete und ihn im gleichen Atemzug als seinen ,,besten Freund" würdigte für den Widerstand gegen das SED-Regime. Er nannte Nikita Chruschtschow den.,Schlächter der Ukraine" und lobte ihn für seine Rede 1956 aufdem Parteitag der KPdSU, in der er die stalinschen Verbrechen offenbarte - für Biermann die Initialzündung des Widerstands gegen den Stalinismus in (D) Osteuropa. Er bezeichnete Michail Gorbatschow als eine.,Kreatur des sowjetischen Geheimdienstes'' und dankte ihm gleichzeitig für seine Verdienste um die deutsche und europäische Einigung.

Wolf Biermann wies auch darauf hin, dass Graf Stauffenberg und die Männer des 20. Juli für das Attentat auf Hitler von uns geehrt werden, obwohl sie hochrangige Repräsentanten der hitlerschen Wehrmacht waren und den Faschismus viele Jahre lang gestützt haben.

Sie sehen. wie kompliziert die Geschichte, wie kompliziert die Biographien der politischen Akteure sind. Und gerade wir Deutschen, die wir für das Leid der Völker Europas so viel Verantwortung tragen, müssen um eine differenzierte Position bemüht sein, dürfen Ursache und Wirkung nicht außer Acht lassen. Deshalb, Herr Lehmann-Brauns. ist Ihr Widerstand gegen Bersarin- nach dem Motto "einmal Stalinist, immer Stalinist'' - nicht nur grobschlächtig, er ist auch intellektuell und historisch völlig unter Niveau.

[Beifall bei den Grünen und der POS - Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Nikolai Bersarin hat sich um Berlin verdient gemacht.

[Beifall bei den Grünen und der POS - Ach! bei der CDU]

Ich freue mich, dass Herr Lehmann-Brauns seine Position heute gewandelt und ihm wenigstens ,.korrektes Verhalten" bescheinigt hat. Vor Wochen hat er ihn noch einen "Kreide fressenden General" genannt.

Bersarin hat sich verdient gemacht um die Wiederbelebung

des kulturellen und religiösen Lebens, um die Versorgung der Bevölkerung und auch um die Verfolgung der Straftaten sowjetischer Soldaten. Als Kronzeugen für seine Verdienste möchte ich neben Ernst Lemmer, der schon erwähnt wurde. Wolfgang Leonhardt benennen, das Mitglied der Gruppe Ulbricht, die 1945 aus Moskau in das zerbombte Berlin eingeflogen wurde, um den Auf

Cramer

(A) bau der Stadtverwaltung zu organisieren. Er wurde später vom Anhänger zum Gegner Stalins. was er in.,Die Revolution entläßt

ihre Kinder" anschaulich beschrieb.

[Zuruf des Abg. Gram (CDU)]

Wolfgang Leonhardt spricht sich für die Ehrenbürgerwürde von

Nikolai Bersarin aus.

Ich stimme Ihnen zu, Herr Lehmann-Brauns, dass ich Solsche

nizyn und Kopelew sympathischer finde als einen sowjetischen Militaristen; aber unabhängig davon. wie Sie heute votieren. for

dere ich die CDU schon jetzt auf, sich bei der Familie von Bersa

rin, bei der Öffentlichkeit und auch vor diesem Parlament für die

falschen Vorwürfe zu entschuldigen, die Günter Toepfer im Namen der CDU-Fraktion erhoben hat,

[Landowsky CDU): Sie haben ja einen Knall!]

dass Nikolai Bersarin die Verantwortung für die Deportation von 4 7 000 Balten trage. Dieser Vorwurf ist zweifelsfrei widerlegt. Die politische Verantwortung für diese historische Lüge trägt die CDU-Fraktion. Ich fordere Sie auf, sich hier und heute dafür zu entschuldigen - auch weil die Vertreter der Russischen Föderation heute sehr genau in dieses Parlament schauen.

[Beifall bei den Grünen und der POS- Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Und noch eins: Hängen Sie die moralische Messlatte nicht

allzu hoch! [Unruhe bei der CDU]

Wenn Sie heute die Zeitungen gelesen haben, werden Sie wissen, dass Helmut Kohl beschuldigt wird, beim Verkauf von Elf Aquitaine in die Parteikasse gewirtschaftet zu haben. Helmut

Kohl, der seit Monaten vor aller Öffentlichkeit die Verfassung bricht, [ Niedergesäß (CDU): Was hat denn der mit Bersarin zu tun?]

(B) gegen Gesetze verstößt und der massiven Aktenunterdrückung

beschuldigt wird, konnte offensichtlich zwischen organisiertem Lobbyismus und organisierter Kriminalität nicht unterscheiden.

[Gelächter bei der CDU]

Ist der Ehrenbürger Helmut Kohl noch zu retten, wenn Ihre Maß

stäbe gelten?

[Landowsky (CDU): Sie sind ja jenseits von Gut und Böse!]

Darf Helmut Kohl noch Ehrenbürger dieser Stadt Berlin sein. wenn er nicht einmal in seiner eigenen Partei den Ehrenvorsitz ausüben darf?

[Beifall bei den Grünen und der POS- Vereinzelter Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU]

Wer so wie Sie in Sachen Moral dermaßen im Glashaus sitzt, darf nicht mit Steinen schmeißen -schon gar nicht nach Nikolai

Bersarin!

[Beifall bei den Grünen und der POS- Vereinzelter Beifall bei der SPD - Landowsky (CDU): Sie sind ja eine Kulturschande I]