Protokoll der Sitzung vom 10.11.2005

Da ist die flexible Schulanfangsphase. Für die in diesem Schuljahr eingeschulten Kinder bilden die ersten beiden Jahrgänge eine Einheit, die sie in der Regel in zwei Jahren, aber auch mit Stärken und Schwächen in einem Jahr oder drei Jahren durchlaufen können. Ab dem nächsten Schuljahr hält dann noch jahrgangsübergreifendes Lernen in den ersten beiden Jahrgängen flächendeckend Einzug, womit das Mit- und Voneinanderlernen der Kinder einen stärkeren Impuls erhält. Einige Schulen erweitern dies freiwillig auf die dritte Klasse und auch auf die Jahrgänge 4 bis 6.

In den 5. und 6. Klassen ist die Stundentafel durch das Fach Naturwissenschaften verstärkt worden.

[Frau Senftleben (FDP): Zu spät!]

Hiermit werden nicht allein durch Kürzungen entstandene Defizite der vorangegangenen Jahre wieder ausgeglichen – Stichwort große Koalition –, sondern darüber hinaus wird auch ein fächerübergreifendes Lernen eingeführt. Signale, die aus den Grundschulen kommen, sprechen nicht gerade für Stagnation, eher wird beklagt, dass zu viel kommt, dass es zu schnell geht und alles auf einmal kommt.

[Zuruf der Frau Abg. Senftleben (FDP)]

Für meine Fraktion kann ich sagen, dass wir Bedenken und auftretende Probleme ernst nehmen.

[Mutlu (Grüne): Gehen Sie mal in die Schulen!]

Wir fühlen uns verantwortlich für das Gelingen der Grundschulreform. Das komplexe Herangehen ist aber auch eine Chance. Viele kleine Schritte nacheinander würden weniger Wirkung zeigen und wären kräftezehrender.

[Zuruf des Abg. Mutlu (Grüne)]

Zurück zu PISA-E: Berlin schneidet im Bundesländervergleich in den untersuchten Kompetenzbereichen schlecht ab. – Die Kompetenzbereiche sind erwähnt worden, auch die Ergebnisse. – Das erreichte Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler kann uns nicht zufrieden stellen. Berlin liegt fast überall unter dem Bundesdurchschnitt.

Lichtblicke gibt es auch.

[Zuruf der Frau Abg. Senftleben (FDP)]

In der Problemlösekompetenz liegt Berlin im vorderen Mittelfeld, auf Platz 7. – Da entschwebt man nicht gleich vor Freude, aber feststellen darf man es. – Und im Stadtstaatenvergleich liegen wir in der Regel vor Bremen und Hamburg. – Es wäre einer Betrachtung an anderer Stelle wert, wieso ausgerechnet die Stadtstaaten im PISALändervergleich so weit hinten liegen.

Aber rufen wir uns in Erinnerung: Getestet wurden 15-Jährige. Sie sind von der eingeleiteten Grundschulreform nicht „betroffen“. Und auch die bisher in der Sekundarstufe 1 eingeleiteten Veränderungen, insbesondere die Arbeit mit Bildungsstandards, Vorbereitungen für den mittleren Schulabschluss und die mit dem neuen Schulgesetz seit Anfang 2004 beschlossene höhere Eigenverantwortung der Schulen konnten für die PISA-Erhebung 2003 noch gar nicht greifen. – Eine Zwischenbemerkung zu Grundschulen, was das gegliederte Schulsystem betrifft, da war ich animiert durch die Ausführungen von Frau Schultze-Berndt: In der TIMMS-Studie wird gezeigt, dass Berliner Grundschüler im Bundesdurchschnitt sehr gut dastehen. Es wäre eher die Frage zu klären: Wieso ist das in der 9. Klasse anders, wenn man mit gemeinsamem Lernen bis Klasse 6 solche Ergebnisse erreicht?

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Aber Frau Schultze-Berndt hört gerade gar nicht zu.

Noch einmal zurück: Die Schülerinnen und Schüler, die in der PISA-Studie 2003 erfasst worden waren, konnten noch nicht von Veränderungen in der Berliner Schule profitieren. Da meinen wir nicht nur die Veränderungen in der Grundschule. Auch die Sekundarstufe braucht weitere Veränderungen, solche, die möglichst schnell Verbesserungen bringen könnten für die jetzige Schülergeneration – die in diesem Jahr oder in den nächsten Jahren die Schule beenden –, und solche, die grundsätzlich und langfristig angelegt sind. Zu diesen Ansätzen zählen die individuelle Förderung und Arbeit mit individuellen Bildungsplänen, damit möglichst alle das Jahrgangsziel erreichen und niemand in die Hauptschule aussortiert wer

den muss, damit er dort tischlern kann; Verantwortung jeder Schule dafür, dass die Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihren Lernausgangslagen an ihrer Schule das Ziel des Bildungsganges erreichen. Das haben wir übrigens schon in § 4 Abs. 2 des Schulgesetzes aufgeschrieben. Ziel des Bildungsganges sollte für alle Schüler der mittlere Schulabschluss sein. Mindestens als Ziel muss man das so benennen.

Eine ebenso zentrale Aufgabe wie die Sprachentwicklung in Kindergarten und Grundschule ist und bleibt die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Das Programm Integration durch Bildung liegt nicht nur auf dem Tisch, sondern wird Schritt für Schritt umgesetzt. Wir meinen, wir müssen weitere Reformschritte gehen. Wir können nicht darauf warten, welche Wirkung die Grundschulreform bei den jetzigen Grundschülern hinterlässt, und bessere Ergebnisse abwarten, wenn diese Generation die Sekundarstufe erreicht. Die Grundschulreform braucht ihre Fortsetzung in der Sekundarstufe – spätestens dann, wenn die Generation, die an ihr teil hat, hochgewachsen ist. Dieser Aufgabe stellt sich die Linkspartei.PDS-Fraktion.

[Zuruf des Abg. Dr. Steffel (CDU)]

Herr Steffel hat offenbar nie in einer Gruppe arbeiten müssen. Er plappert immer vorneweg. Das tut er hier auch.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und der SPD – Frau Dr. Tesch (SPD): Keine Sozialkompetenz!]

Ja, ein Stück Sozialkompetenz fehlt ihm. – Diese Generation, die aus der Grundschule emporwächst, ist dann bereits mit einer anderen Lernkultur groß geworden. Dazu gehört das Lernen in altersgemischten Gruppen, die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit, das stärkere Mit- und Voneinanderlernen der Kinder. Diese Generation braucht ein anderes Angebot, als es die heutige Sekundarstufe 1 vorhält. Es ist kein Geheimnis, dass die Linkspartei.PDS das selektive, gegliederte Schulsystem nicht für zukunftsträchtig hält – trotz der bayerischen Ergebnisse.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Wir wollen an dieser Stelle nicht – wie immer unterstellt, wie es auch Frau Schultze-Berndt getan hat – die Einheitsschule, die alle über einen Kamm schert, in der im 45-Minuten-Takt und – wenn es geht – noch im Gleichschritt gelernt wird und Individualität auf der Strecke bleibt.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS – Zurufe von der CDU]

Das ist das ideologische Vorurteil vom länger gemeinsam Lernen, das Sie immer präsentieren. Weiter sind Sie noch nicht gekommen. –

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und der SPD]

Wir wollen eine Schule, in der gemeinsam gelernt wird, eine Schule, die die Unterschiedlichkeit der Kinder und Jugendlichen akzeptiert und zum Ausgangspunkt der Pädagogik nimmt.

[Dr. Lindner (FDP): Unsinn!]

Das heißt, dass in der Schule Lernprozesse organisiert werden, in denen Kinder voneinander lernen können; Lernprozesse, in die jede und jeder etwas einbringen kann und niemand nur Versagerin oder Versager ist; Lernprozesse, die nachhaltig sind, weil Schüler und Schülerinnen untereinander Lernende und Lehrende zugleich sind. Davon profitieren auch die Leistungsstarken.

[Dr. Lindner (FDP): Quatsch! Die werden gehemmt!]

Schulen, in denen sich Motivation entwickeln und selbstbestimmt gelernt werden kann, brauchen wir. Motivation entsteht aber nicht unter Druck, sondern durch eine Atmosphäre, in der sich der bzw. die einzelne angenommen und akzeptiert fühlt, in der sie bzw. er gewollt ist und gebraucht wird. Eine solche Atmosphäre mindert Stress für Schülerinnen und Schüler wie auch für Lehrerinnen und Lehrer. Und sie steht für eine andere Lernkultur, in der Lernen ein aktiver Prozess ist und Schülerinnen und Schüler Subjekte selbstbestimmten Lernens sind und nicht Objekte für Lehrertätigkeit – eine Schule, in der Lehrende zu Moderatoren werden. Das hat auch Konsequenzen für die Lehrerbildung und über die begonnene Reform hinaus. Eine solche Atmosphäre entwickelt sich nicht in einem System, dessen Prinzip die Auslese ist, so viel Mühe sich die Schulen im Einzelnen auch geben mögen. Ein solches System sendet immer auch Signale aus, die nicht hierher gehören, insbesondere im Gymnasium das Signal: Hier bist du nicht richtig! – und das Signal, zu versagen: Du bist nicht gut genug für das Gymnasium! Du gehörst an die Hauptschule!

Die Hauptschulen: In der Begründung zur Aktuellen Stunde hat Frau Dr. Klotz die Forderung erhoben, die Hauptschulen abzuschaffen. Auf den ersten Blick sehe ich das auch so.

[Frau Senftleben (FDP): Und auf den dritten?]

Auf den zweiten Blick – den sollte man sich gönnen – muss man sagen: Hauptschulen sind Restschulen, die Schülerinnen und Schüler mit dem Stigma versehen, Rest, also ausgegrenzt zu sein, nicht gebraucht zu werden.

[Dr. Lindner (FDP): Irgendwo ist immer unten!]

Sie scheinen sehr genau zu wissen, wo das ist! – Das setzt sich in den meist anschließenden Maßnahmen zur Berufsvorbereitung fort, die als Warteschleifen erlebt werden. Dort gibt es eine Konzentration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und einen hohen Anteil von Schülern, die diese Schulen ohne Abschluss verlassen. Aber – das ist der zweite Blick – Hauptschulen gehören zu den gut ausgestatteten Schulen. Sie haben niedrige Klassenfrequenzen, und viele Hauptschulen sind sehr reformfreudig. Es gibt neue Wege praxisorientierenden Lernens. Diese Schulen können niemanden woandershin schicken. Sie müssen sich um jede Schülerin und jeden Schüler kümmern.

[Frau Jantzen (Grüne): Die anderen Schulen etwa nicht?]

Das muss das Gymnasium leider nicht, das schickt die Schüler weg.

[Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Komisches Gymnasium! Lesen Sie einmal im Schulgesetz nach, das gibt Aufklärung.

Deshalb ist auch noch ein dritter Blick auf die Hauptschulen erforderlich. Hauptschulen gehören aufgehoben, nicht aufbewahrt, sondern aufgehoben im philosophischen Sinn, ich weiß nicht, ob Sie das alle verstehen auf der rechten Seite.

[Gelächter]

Ja, Hauptschulen gehören im philosophischen Sinn aufgehoben, nicht einfach abgeschafft.

[Dr. Lindner (FDP): Ihre Redezeit gehört auch aufgehoben! – Gram (CDU): Ihr Geist überstrahlt das Haus!]

Ihr Reformpotential muss in einem neuen, integrativen Schulsystem aufgehoben werden.

[Zurufe]

Hier noch einmal ein Bezug zur PISA-E-Studie: Vier Schultypen werden dort unterschieden, unbelastete und belastete, je nach ihren Ressourcen. Es wird in aktive und passive Schulen unterschieden je nachdem, wie sie die Handlungsspielräume, die sie haben, nutzen. Aktive Schulen finden sich mehr unter denen, die Schülerinnen und Schüler nicht abschieben können.

Wenn wir also die Grundschulreform ernst nehmen und uns ihrem Gelingen verpflichtet fühlen, müssen wir uns als nächstes der Frage stellen, wie künftig die weiterführenden Schulen gestaltet werden können. Wir müssen diese Frage gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern und deren Eltern beantworten. Dieser Aufgabe stellt sich meine Partei. Wir sind daran, ein Konzept zu erarbeiten, wie dieser Weg zur Überwindung des gegliederten Schulsystems hin zu einer Schule mit längerem gemeinsamen Lernen gestaltet werden kann. Das wollen wir gemeinsam mit Schulen, Lehrern und Eltern, die bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet haben, diskutieren. Aber wir nehmen auch diejenigen ernst, die Sorgen und Ängste auf dem Weg der Umgestaltung des Berliner Schulsystems haben. – Vielen Dank!

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und der SPD]