Protocol of the Session on November 12, 2009

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Sehr geehrte Damen und Herren! Ich eröffne die 54. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich. Insbesondere freue ich mich, in der heutigen Plenarsitzung hochrangige Gäste aus unserer Partnerstadt Moskau begrüßen zu können.

[Allgemeiner Beifall]

Es ist eine Delegation von Vertreterinnen und Vertretern der Moskauer Legislative und Exekutive, geleitet von Herrn Vinogradov, stellvertretender Oberbürgermeister von Moskau und Vertreter des Oberbürgermeisters in der Moskauer Stadtduma. Unsere Gäste sind unter anderem nach Berlin gekommen, um mit Senat und Parlament die Veranstaltungen anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft Moskau-Berlin zu besprechen, das im nächsten Jahr stattfindet. Noch einmal ein herzliches Willkommen! Dobro poschalowat!

[Allgemeiner Beifall]

Jetzt habe ich Ihnen Folgendes bekanntzugeben: Der Fernsehsender „Alex“, der offene Kanal, überträgt heute testweise ab 14.30 bis 16.00 Uhr unsere Plenarsitzung live im Programm und von 14.30 bis 17.00 Uhr im Internet.

[Beifall]

Dann darf ich ganz herzlich nachgerückte Mitglieder des Abgeordnetenhauses begrüßen. Das ist zunächst Frau Astrid Schneider für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Herzlich Willkommen! Viel Erfolg!

[Beifall]

Und Herrn Gernot Klemm von der Fraktion Die Linke, uns schon bekannt. – Herzlich Willkommen! Auch Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit!

[Beifall]

Ich darf ganz herzlich Frau Evrim Baba-Sommer zur Eheschließung gratulieren. – Alles Gute!

[Beifall]

Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich wieder Geschäftliches mitzuteilen. Das ist erstens die Zurückziehung des Antrages der Fraktion der CDU zum „Hochschulförderungsgesetz – Bundesratsinitiative des Landes Bayern unterstützen“, Drucksache 16/0527, überwiesen in der 12. Sitzung am 24. Mai 2007 an den Ausschuss für Wissenschaft und Forschung und an den Hauptausschuss.

Am Montag sind folgende vier Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen

1. Antrag der Fraktion der SPD und der Linksfraktion zum Thema: „Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution – Würdigung der historischen Ereignisse in Berlin“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Impfchaos in Berlin – organisatorische Probleme und zu späte Verpflichtung der Impfärzte!“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Auswirkungen des Koalitionsvertrages der schwarzgelben Bundesregierung auf Berlin“,

4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Rot-Rot gefährdet durch inakzeptable Personalentscheidung die verfassungsmäßige Unabhängigkeit des Rechnungshofes“.

Inzwischen haben sich jedoch die Fraktionen auf ein gemeinsames Thema verständigt, und zwar auf „H1N1Grippeschutzimpfung in Berlin – organisatorische Probleme und zu späte Verpflichtung der Impfärzte“. Wir werden dieses Thema unter dem Tagesordnungspunkt 3 besprechen. Die am Montag beantragten Themen haben damit ihre Erledigung gefunden.

Dann möchte ich auf die Ihnen vorliegende Konsensliste sowie auf das Verzeichnis der Dringlichkeiten hinweisen. Ich gehe davon aus, dass allen eingegangenen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. Sollte dies im Einzelfall nicht Ihre Zustimmung finden, bitte ich um entsprechende Mitteilung.

Dann darf ich folgende Senatsmitglieder für heute entschuldigen: den Regierenden Bürgermeister, abwesend ab ca. 17 Uhr. Der Grund ist der SPD-Bundesparteitag in Dresden. Frau Lompscher hatte sich ursprünglich entschuldigt, nimmt aber heute an der Sitzung teil.

Wir kommen zu

lfd. Nr. 0:

Dringlicher Entschließungsantrag

20 Jahre friedliche Revolution

Antrag der SPD, der CDU, der Grünen, der Linksfraktion und der FDP Drs 16/2779

Zunächst erteile ich dem Regierenden Bürgermeister von Berlin das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Tagen konnten wir ein besonderes Jubiläum begehen, den 9. November 1989. 20 Jahre danach haben wir die friedliche Revolution und den Fall der Mauer in Berlin gebührend gefeiert. Wir sind dankbar, dass am 9. November 1989 aufgrund der friedlichen Revolution die Mauer zu Fall gebracht worden ist, und die Bewegung, die dahinter stand, war die Bewegung von engagierten Frauen und Männern, von Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, die sich eingesetzt haben unter Einsatz ihres Lebens und unter Einsatz ihrer Freiheit, die für Demokratie und Bürgerrechte gekämpft haben, und ihnen gebührt der Dank anlässlich des 20. Jubiläums des

Mauerfalls, denn sie sind die Heldinnen und Helden dieser friedlichen Revolution.

[Allgemeiner Beifall]

Es waren am Anfang wenige. Es waren die Dissidenten. Es waren diejenigen, die protestiert haben, die ausgebürgert worden sind. Es waren diejenigen, die ins Gefängnis gegangen sind. Es waren diejenigen, denen ihre politische und berufliche Karriere durch ein Regime zerstört worden ist, das Widerspruch und Freiheit nicht zuließ. Es waren viele bei den Montagsdemonstrationen. Alle denken an Leipzig, an die anderen Orte in der ehemaligen DDR, und dann am 4. November die machtvolle Demonstration am Alexanderplatz, wozu Künstlerinnen und Künstler aufgerufen hatten und über 500 000 Menschen zur größten Demonstration zusammenkamen. Dieser Druck war es, der das Regime hat wanken lassen und dazu geführt hat, dass es diese legendäre Pressekonferenz gegeben hat. Ob das nun zufällig oder absichtlich war, zumindest haben sich die Menschen nicht mehr aufhalten lassen. Ich glaube, all diejenigen, die das aktiv miterlebt haben, werden sich erinnern, dass wir die glücklichsten Menschen auf dieser Welt waren, als am 9. November die ersten kamen, über die Bornholmer Straße, über die Bösebrücke und danach über die anderen Übergänge und sich fremde Menschen in den Armen lagen und glücklich waren, dass Deutschland wieder zueinander kommen konnte ohne diese widernatürliche Mauer. Und all denjenigen, die heute glauben, sie haben Probleme mit der Wiedervereinigung, sage ich immer: Bitte erinnern Sie sich an diese Momente, und dann werden wir auch das relativieren, was uns heute beschwert, und wir werden diese Probleme lösen.

[Allgemeiner Beifall]

Es war eine Revolution der Menschen. Diese Revolution fand aber nicht nur in der früheren DDR statt, sondern sie hatte Vorläufer. Selbstverständlich gehört dazu der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, der durch die sowjetischen Machthaber niedergeschlagen worden ist. Selbstverständlich gehört die Gewerkschaftsbewegung Solidarność dazu, die Bewegung in Ungarn und der Tschechoslowakei, Glasnost und Perestroika in der früheren Sowjetunion. Sie haben den Weg für die friedliche Revolution bereitet, und wir sind dankbar dafür, dass kluge Politiker nicht mit Macht diese Bewegungen gestoppt haben – dazu gehören die Repräsentanten Ungarns und zweifelsohne Michail Gorbatschow, der es ermöglicht hat, dass diese Revolution friedlich vonstatten gehen konnte. Wir sind allen Wegbereitern der friedlichen Revolution dankbar.

[Allgemeiner Beifall]

Auf deutscher Seite gab es selbstverständlich ebensolche Akteure, die hart daran gearbeitet haben, dass das möglich wird – Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher,

[Zuruf von Frank Henkel (CDU)]

Willy Brandt, sagt Herr Henkel zu Recht, Egon Bahr – viele könnten noch genannt werden, die mit einer aktiven Ostpolitik – die ja nie ganz unumstritten war und auch bekämpft wurde – zu Zeiten der Konfrontation dafür

gesorgt haben, dass die Voraussetzungen für diese Revolution geschaffen wurden.

Wir müssen an diesem Tag aber auch der Opfer gedenken, der vielen Mauertoten, der Opfer in den Gefängnissen, der Opfer dieser Diktatur, die bis heute noch unter den Gräueltaten der DDR-Diktatur leiden. Es gibt keinen Grund, zu verdrängen, zu vergessen oder einen Schlussstrich zu ziehen, nein, wir wollen eine aktive Gedenkarbeit leisten, dies sind wir den Opfern schuldig. Dies sind wir auch den zukünftigen Generationen schuldig, die dies nicht miterlebt haben, damit sie dafür Sorge tragen, dass durch ihr tägliches Arbeiten für Demokratie und Freiheit so etwas nie wieder passieren kann. Deshalb machen wir eine aktive Gedenkarbeit, dazu steht der Senat und – ich denke – das ganze Abgeordnetenhaus von Berlin.

[Allgemeiner Beifall]

Ich freue mich, dass wir am 9. November das neue Besucherzentrum an der Bernauer Straße eröffnen konnten – man erkennt nun auch die Dimension dieser Gedenkstätte. Ich freue mich auch, dass wir die East Side Gallery neu renoviert präsentieren konnten. Im nächsten Jahr werden wir auf dem Gelände der „Topographie des Terrors“ nicht nur das Dokumentationszentrum, sondern auch das Mauerstück dort darstellen. Wir haben einen neuen Dokumentationsbereich im U-Bahnhof Brandenburger Tor, der sehr gut angenommen wird, und die Gedenkstätten erleben einen Besucherzustrom wie noch nie – im letzten Jahr besuchten 350 000 Menschen die Gedenkstätte an der Bernauer Straße, dieses Jahr sind es schon über 500 000 Besucherinnen und Besucher. Das zeigt, dass diese aktive Gedenkarbeit angenommen wird, angenommen von den Schülerinnen und Schülern der Schulen in Deutschland, von den Deutschen selbst wie auch von vielen internationalen Besucherinnen und Besuchern, die sich darüber informieren wollen, wie es damals war, wie es dazu kommen konnten und wer die Heldinnen und Helden der Zeit waren.

20 Jahre Mauerfall ist auch Grund zurückzublicken – was ist in den 20 Jahren passiert? – Es war eine riesige Aufbauarbeit, die die Menschen in Ost und West geleistet haben, und es gab eine große Solidarität der anderen Länder, nicht nur der neuen Länder, die selbst angepackt haben, sondern auch der alten Länder, die sich solidarisch verhalten haben, die den Solidarpakt gebildet haben, die Geld für den Aufbau Ost gegeben haben. Das war richtig und notwendig, und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, er ist auch in Zukunft noch notwendig, ebenso wie auch die Solidarität aller Deutschen für den Aufbau Ost weiterhin erforderlich ist.

[Allgemeiner Beifall]

Es war eine gigantische Aufbauarbeit. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass viele Menschen gescheitert sind. Viele haben sich wunderbar entwickelt, haben eine berufliche Perspektive erhalten, die sie früher so nicht gehabt haben. Viele leben heute in Wohlstand, den sie früher so nicht kannten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele Menschen gescheitert sind – sie sind arbeitslos geworden,

Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit

sie hatten keine Perspektive mehr, weil ihr Unternehmen kollabiert ist, egal, ob in Ost-Berlin oder in der früheren DDR, es sind viele Menschen arbeitslos und aus der Bahn geworfen worden. Auch ihnen gilt unsere Solidarität, auch sie haben eine Lebensleistung vollbracht, und auch sie sind Teil unserer Gesellschaft. Ihnen müssen wir die Unterstützung geben, eine neue Perspektive bieten, und deshalb sind jene Programme besonders wichtig, die sich im Arbeitsmarktbereich um die Regionen in Ostdeutschland kümmern.

Insgesamt aber ist es gigantisch, was geleistet wurde, und darauf können wir – und vor allem jene Menschen, die dazu beigetragen haben – stolz sein. Jeder, der geneigt ist, 20 Jahre nach der Einheit Ost und West in Gegensatz zueinander zu bringen, der sollte sich davor hüten, denn er muss wissen, welche Emotionen er damit weckt. Das gilt auch für Menschen in Regierungsverantwortung, solche, die ein Ministerium leiten – den Namen nenne ich nicht. Wer meint, dass nun nur noch im Westen investiert werden muss, in Autobahnen im Westen – dazu sage ich: Diese Position ist von gestern! Es muss dort investiert werden, wo es am notwendigsten ist, nicht nach Ost und West, Nord und Süd unterschieden! Es muss dort geschehen, wo es am notwendigsten ist, das ist die Parole für die Zeit 20 Jahre nach der Einheit.

[Allgemeiner Beifall]

Als neuer Minister kann man das vielleicht noch nicht so genau wissen: Unter dem Schild der deutschen Einheit hat es Autobahnprojekte in Bayern gegeben, und viele Autobahnen wären ohne die Wiedervereinigung in Bayern gar nicht gebaut worden – auch das gehört zur Wahrheit.

[Ja! von der SPD]