Es ist eine Mär, dass nur im Osten investiert worden sei, aber es war richtig, schwerpunktmäßig im Osten zu investieren – so wurde es auch in Berlin gehandhabt –, weil dort der Nachholbedarf am dringendsten war. Wir wollen gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland haben, und deshalb ist es so gelaufen.
Ich war sehr beeindruckt, dass Berlin, vor allem aber ganz Deutschland, anlässlich des 9. November im Fokus einer breiten Weltöffentlichkeit stand. Wir haben in den Wochen davor bereits gemerkt, wie umfassend die Berichterstattungen waren, wir haben für die Aufbauarbeit, die die Berlinerinnen und Berliner geleistet haben, Preise erhalten – beispielsweise den Prinz-von-Asturien-Preis, einen
der hochrangigsten Preise, die es überhaupt in der Welt gibt, der vergleichbar mit dem Nobelpreis ist, jedenfalls aus spanischer Sicht. Wir haben letzten Sonntag den Freedom Award vom Atlantic Council erhalten, andere Preise sind uns verliehen worden, nicht den Regierungen, nicht Einzelpersonen, sondern allen Menschen in Berlin, in Anerkennung ihrer Aufbauarbeit. Es ist eine große Herausforderung und Chance für uns, dass die Weltöffentlichkeit auf uns geschaut hat. Die Berichterstattungen über die Veranstaltungen zum 9. November – nicht nur am Tag selbst, sondern bereits davor – waren riesig, und das hat Berlin einen großen Impuls gegeben, das trägt weiter dazu bei, dass Berlin, mitten in Europa gelegen, von vielen Menschen als die Stadt angesehen wird, in der man sich gerne aufhält, sei es temporär, sei es für längere Zeit.
Ich empfand es als eine hervorragende Idee, 15 000 junge Menschen daran zu beteiligen, Dominosteine zu bemalen. Ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte und wie die Mauer zu Fall gebracht wurde – diese Bilder sind um die Welt gegangen, die haben Menschen emotionalisiert mit einem Thema, das man sonst vielleicht so nicht hätte darstellen können. Daher ein großes Dankeschön an Moritz van Dülmen von „Kulturprojekte“ und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die das organisiert haben. Sie haben eine hervorragende Arbeit geleistet, sie haben sich um Berlin verdient gemacht, ein großes Dankeschön!
Anlässlich des Jubiläums waren auch viele Menschen in der Stadt, die mit uns gemeinsam über die Zukunft diskutiert haben. Stellvertretend für viele Veranstaltungen möchte ich das Treffen der Friedensnobelpreisträger nennen. Es fand statt im Roten Rathaus unter der Präsidentschaft von Michail Gorbatschow und Walter Veltroni, mit dabei Herr Yunus aus Bangladesh, Herr de Klerk aus Südafrika und andere Friedensnobelpreisträger, die gemeinsam dieses Treffen zum Anlass genommen haben, um deutlich zu machen, dass die Welt nach dem friedlichen Fall der Berliner Mauer eine Verpflichtung hat, daran zu glauben und zu arbeiten, dass andere Mauern in dieser Welt fallen. Es gibt noch viele Mauern auf dieser Welt – jene harten Betonmauern, Trennungen zwischen Ländern wie in Korea oder die großen Probleme im Nahen Osten. Es gibt aber auch Trennungen zwischen Arm und Reich, und es wird Trennungen geben, wenn im Bereich des Klimaschutzes nicht vernünftig gearbeitet wird. Die Trennung werden wir nicht überwinden können, wenn wir jungen Menschen keine Chancen geben, groß zu werden – ich denke da an Afrika, wenn dort das Thema Aids nicht bekämpft wird, oder wenn den Menschen keine Bildungschancen gegeben werden. 20 Jahre nach dem friedlichen Fall der Mauer ist auch diese Botschaft von Berlin ausgesandt worden, auf dass die Aktivitäten, die Demonstrationen und das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern anderen Mut machen, Mauern auf der ganzen Welt zum Einsturz zu bringen. Auch diese Botschaft ist von Berlin im Zusammenhang mit dem 9. November ausgegangen, und ich bedanke mich bei allen, die dazu beigetragen haben, Berlin in den Fokus zu stellen.
Ich freue mich, dass die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler auch im Mittelpunkt der Feierlichkeiten standen – und nicht nur die Politik – und dass wir gemeinsam würdig und mit Perspektive den Fall der Mauer gefeiert haben als Erinnerung an die Opfer, aber auch als Mahnung für die Zukunft, damit künftige Generationen gemeinsam daran arbeiten, dass Diktaturen in Deutschland und auf der ganzen Welt nie wieder eine Chance haben. Schönen Dank!
Vielen Dank, Herr Regierender Bürgermeister! – In der Beratungsrunde ergibt sich die Redefolge aus der Fraktionsstärke. Bei der Redezeit hat man sich auf fünf Minuten pro Fraktion geeinigt. Es beginnt die Fraktion der SPD, und der Herr Präsident Momper hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Montag haben wir das Fest der Freiheit mit vielen internationalen Gästen in dieser Stadt gefeiert. Wir haben uns an den 9. November 1989 erinnert, der ein Tag des Glücks in der deutschen Geschichte ist. Es war auch ein Fest des Friedens, denn die Revolution in der DDR war eine absolut friedliche Revolution. Freiheit und Einheit sind friedlich erlangt worden. Wann hat man das schon einmal bei Einigungsbewegungen, aber auch bei Revolutionen erlebt?
Ich empfinde Dankbarkeit und Hochachtung vor den Männern und Frauen in der DDR, die für die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht auf die Straße gegangen sind und denen wir letzten Endes die Öffnung der Mauer zu verdanken haben. Wir bewundern die Kraft dieser Menschen, die Angst zu überwinden, wenn man etwa an den 9. Oktober in Leipzig denkt. Das war eine hervorragende Leistung.
Ich empfinde auch Dankbarkeit und Hochachtung für das tapfere polnische Volk, für die damalige ungarische Führung und auch für Michail Gorbatschow. Ungarn hat die Grenzen nach Westen für die DDR-Bürger geöffnet; Gorbatschow hat den Weg der Selbstbestimmung für die Völker des Ostens eröffnet; und das polnische Volk hat zehn Jahre lang dafür kämpfen müssen, das sowjetische Joch abzuwerfen und damit den Weg für Europa freizumachen und ein leuchtendes Vorbild auf diesem Weg zu sein.
Der 9. November 1989 war ein europäisches Ereignis, ein Signal für ganz Osteuropa, auch ein Kulminationspunkt.
Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas letztendlich eine Folge
des Zweiten Weltkrieges war – der von Deutschland ausging –, auch eine Folge des Holocausts, des Mordes an sechs Millionen europäischen Juden durch die Deutschen. In diesem Zusammenhang wollen wir uns auch an den 9. November 1938 erinnern, an die Reichspogromnacht mit den Gewaltexzessen gegen die deutschen Juden und ihre Gotteshäuser. Diese Tatsachen sind und bleiben eine Mahnung für uns alle, dass Fremdenhass und Intoleranz immer und überall bekämpft werden müssen, wo sie auftauchen.
Vom 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990 verging weniger als ein Jahr. Es waren zehn Monate bis zur deutschen Einheit in Frieden und Freiheit in Grenzen, die von unseren Nachbarn akzeptiert wurden. Das ist in Deutschland in der Vergangenheit nicht so gewesen. Das war ein rasanter Prozess – nicht etwa, weil die Politiker das so betrieben hätten, sondern weil die Menschen in der DDR das so wollten. Sie wollten endlich sicher sein vor der SED-Herrschaft. Sie wollten sicher sein vor der StasiWillkür, und sie wollten verständlicherweise die D-Mark als Währung haben. Dadurch ist dieser Prozess mit einer solchen Beschleunigung abgelaufen.
Auch weil das so war, fehlt mir heute jedes Verständnis dafür, wenn es so etwas wie DDR-Nostalgie gibt.
Das ist eine Nostalgie, die die Schrecken der Diktatur verharmlost und die Opfer der Diktatur, besonders die Opfer der Mauer vergisst. Unsere Gedenkstätten müssen dem entgegenwirken; das ist hier schon gesagt worden.
Natürlich ist der Prozess der Einheit in den letzten zwanzig Jahren nicht reibungslos verlaufen. Natürlich hat es Enttäuschungen gegeben. Natürlich müssen wir am ökonomischen Aufbau, an der kulturellen und mentalen Annäherung noch weiterarbeiten, denn das ist noch nicht perfekt. Trotzdem ist es eine gigantische Leistung, die besonders von den Menschen in den neuen Bundesländern erbracht worden ist. Wir müssen weiter am Wiederaufbau arbeiten. Wir müssen einander zuhören, um uns noch besser zu verstehen.
Und wir müssen die Probleme der neuen Armut und der Veränderungen in unserer Stadt aufgreifen. Unsere Stadt ist großartig vorangekommen. Die Stadt ist kreativ und lebendig. Das Interesse des Auslands ist gigantisch. Man sieht das an den Besuchen und auch an der Beteiligung. Trotzdem müssen wir die neuen Probleme angehen.
Eine Lehre der Bürgerbewegung ist: Freiheit muss immer wieder neu erkämpft werden. Es gibt neue Gefährdungen der Freiheit. Mich hat – ich weiß nicht, wie Ihnen das ergangen ist – der Prozess in Dresden gestern erschreckt. Der gewalttätige Rechtsradikalismus hebt sein Haupt. Ihm müssen wir die Stirn bieten, übrigens genauso wie dem
gewalttätigen Linksradikalismus, und zwar gemeinsam. Das ist die Aufgabe für uns alle. Dazu sind alle demokratischen Parteien aufgerufen. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld!
Vielen Dank, Herr Präsident Momper! – Für die CDUFraktion hat jetzt der Herr Fraktionsvorsitzende Henkel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir den 20. Jahrestag der friedlichen Revolution würdigen, dann würdigen wir vor allem die historische Leistung von mutigen Männern und Frauen, die ihr Schicksal in die eigene Hand nahmen und eine menschenverachtende Diktatur mit friedlichen Mitteln in die Knie zwangen. Der Fall der Mauer am 9. November 1989 war ein Sieg der Freiheit, auf den wir mit großem Stolz blicken und für den wir dankbar sein können.
Doch so groß unsere Freude über den Mauerfall ist, so groß ist auch die Trauer über den Verlust all derjenigen, für die dieser Tag zu spät kam. Viele zahlten für ihren Wunsch nach Freiheit mit dem höchstmöglichen Preis: ihrem Leben. Wir verneigen uns vor den Männern und Frauen, die einer moralisch verkommenen Diktatur zum Opfer fielen; ein Regime, das Millionen Menschen eingekerkert und das Militär angehalten hat, auf die eigenen Bürger zu schießen.
Am Ende zeigte sich, dass man Menschen zwar einsperren, bespitzeln und unterdrücken, ihnen aber niemals den Drang nach Freiheit nehmen kann.
Und so hat die Mauer, die über Jahrzehnte eine tiefe Wunde in unser Land schlug, nicht nur das Böse gesehen, was der Mensch hervorbringen kann, sondern auch das Gute. Mutige Männer und Frauen schlossen sich zusammen – erst wenige, dann immer mehr. Doch die Menschen in Ostberlin, in Leipzig und vielen anderen Städten, Kirchenvertreter, Bürgerrechtler und die unzähligen namenlosen Helden wussten eins: Ihr Einsatz war mit einem immensen persönlichen Risiko behaftet. Auch aus heutiger Sicht kann es nur als glückliche Fügung bezeichnet werden, dass die Staatsmacht nicht erneut mit brutaler Gewalt zuschlug wie 1953 in Ostberlin, später in Prag, in Ungarn oder auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Stattdessen folgte eine eindrucksvolle Demonstration der Kraft der Freiheit und der Macht des Volkes. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und in anderen Staaten bildeten sich Bewegungen heraus, die nach fundamentalen Veränderun
Die Bilder von jubelnden Menschen auf der Mauer haben das 20. Jahrhundert beendet, das zu erheblichen Teilen von Krieg, Leid und zwei Diktaturen auf deutschem Boden geprägt war, und eine neue Epoche eingeläutet. Berlin ist seitdem nicht mehr Peripherie eines geteilten Kontinents, sondern Herz eines vereinten Europas, kein Ort der Spaltung, sondern ein Symbol der Freiheit.
Für mich und meine Fraktion ist und bleibt der Mauerfall ein gewaltiger Glücksfall. Dennoch weiß ich, dass der Prozess, der folgte, für viele nicht leicht war, denn sie mussten ihren Platz in einer neuen Gesellschaft erst finden. Ich weiß, was es heißt, neu anzufangen.
Ich hatte das große Glück, dass meine Eltern die Auseinandersetzung mit dem SED-Staat nicht gescheut und gegen alle Widerstände auf eine Ausreise gedrängt haben, auch wenn das mit erheblichen persönlichen Risiken und Nachteilen verbunden war. Es hätte alles anders kommen können, aber dank meiner Familie habe ich die große Chance bekommen, 1981 ein neues Leben in Freiheit anzufangen, beginnend im Notaufnahmelager Marienfelde bis zu dem Punkt, an dem ich heute stehe, in unserer wiedervereinigten Stadt, in unserem wiedervereinigten Vaterland.
Ja, meine Damen und Herren, meine Kindheit in Ostberlin war glücklich. Sie war glücklich im Schoße meiner Familie und den Freiräumen, die sich darin ergaben. Aber es gab eben auch die andere Seite: den Anpassungsdruck, die Ausgrenzungserfahrungen in der Schule, wenn man zum Beispiel nicht Mitglied bei den Jungen Pionieren war. Es wäre mir im SED-Staat nicht möglich gewesen, Abitur zu machen oder meinen Wunschberuf zu erlernen. Es war mir nicht möglich, die Bücher zu lesen, die ich wollte. Es war mir nicht möglich, die Filme zu sehen, die ich wollte. Und so wie ich erlebten viele die Ausgrenzungen und Einschränkungen im Alltag. Deshalb wehre ich mich so entschieden gegen die undifferenzierte Ostalgie und eine Verklärung der Vergangenheit.