Ja, meine Damen und Herren, meine Kindheit in Ostberlin war glücklich. Sie war glücklich im Schoße meiner Familie und den Freiräumen, die sich darin ergaben. Aber es gab eben auch die andere Seite: den Anpassungsdruck, die Ausgrenzungserfahrungen in der Schule, wenn man zum Beispiel nicht Mitglied bei den Jungen Pionieren war. Es wäre mir im SED-Staat nicht möglich gewesen, Abitur zu machen oder meinen Wunschberuf zu erlernen. Es war mir nicht möglich, die Bücher zu lesen, die ich wollte. Es war mir nicht möglich, die Filme zu sehen, die ich wollte. Und so wie ich erlebten viele die Ausgrenzungen und Einschränkungen im Alltag. Deshalb wehre ich mich so entschieden gegen die undifferenzierte Ostalgie und eine Verklärung der Vergangenheit.
[Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP – Vereinzelter Beifall bei den Grünen und der Linksfraktion]
Wir dürfen doch diese Vergangenheit heute nicht auf die Frage reduzieren, ob Club-Cola oder Pepsi-Cola besser geschmeckt haben, sondern wir sollten uns stets daran erinnern, weshalb die Menschen, ein ganzes Volk, vor 20 Jahren auf die Straße gegangen und wofür so viele Menschen an der Mauer und der innerdeutschen Grenze gestorben sind.
Die Freiheit, die errungen wurde, ist nicht selbstverständlich, da stimme ich meinem Vorredner zu. Wir müssen das Wissen um die SED-Diktatur, um Mauer, Sta
cheldraht und Schießbefehl an die nachfolgenden Generationen weitergeben, damit sich diese Geschichte nie wiederholt. Wir müssen die Freiheit jeden Tag aufs Neue verteidigen – gegen jede totalitäre Ideologie. – Herzlichen Dank!
[Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP – Vereinzelter Beifall bei den Grünen und der Linksfraktion]
Vielen Dank, Herr Henkel! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Herr Abgeordneter Otto das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heute am Anfang der Tagesordnung und damit an sehr prominenter Stelle über das Thema der Wiedervereinigung unserer Stadt und des ganzen Landes sprechen, dass wir uns dem Thema der friedlichen Revolution widmen, und nicht zuletzt darüber, dass wir heute zu einem gemeinsamen Entschließungsantrag gekommen sind, im Unterschied zum 10. September, dem Geburtstag des Neuen Forums, als uns das nicht gelungen ist.
Nach 20 Jahren Wiedervereinigung, nach 20 Jahren Mauerfall müssen wir diskutieren über den Stand der Aufarbeitung und den Stand des Zusammenwachsens. Wir erinnern heute an die Demokratiebewegung in Osteuropa und in der DDR, wir erinnern daran, dass Menschen aufgestanden sind und dass sie ihre Angelegenheiten selbst in die Hand genommen haben. Das war der Fortschritt, und das hat zum Erfolg geführt.
Von Anfang an gab es in der DDR und schon in der sowjetischen Besatzungszone Opposition, gab es Widerstand. Die Menschen wollten nach dem Ende der NaziHerrschaft 1945 einen Neuanfang, an dem sich alle beteiligen sollten. Sie wollten nicht nur gemeinsam den Schutt wegräumen, sondern gemeinsam zusammenleben und Demokratie lernen. Das war das Ziel, aber dessen Verwirklichung war nicht möglich. Bereits bei den ersten Wahlen 1950 wurde allen überdeutlich, dass die herrschende Partei das nicht zulassen würde. Es gab Einheitslisten und vorab feststehende Ergebnisse. Das war Scheindemokratie.
Der Sozialismus in der DDR und in Osteuropa ist nicht irgendwann auf eine schiefe Bahn gekommen, sondern war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil er undemokratisch war.
[Beifall bei den Grünen und der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU, der Linksfraktion und der FDP]
Eine Diktatur, die ihre Bürger gewaltsam am Weglaufen hindern musste, sei es durch Mauern, Stacheldraht oder Schießbefehl. All das müssen wir dokumentieren, müssen wir den Menschen erzählen.
Ich freue mich, dass gerade in Berlin in diesem Jahr so viel passiert ist. Ich mahne an, dass wir in der Aufarbeitung dahinter nicht zurückfallen dürfen, wenn das Jubiläum vorbei und vielleicht abgehakt ist. Das darf nicht geschehen. Wir müssen unsere Anstrengungen fortsetzen.
Es ist aber nach 20 Jahren auch an der Zeit, den Stand des Zusammenwachsens zu betrachten. In der „Süddeutschen Zeitung“ wurde gestern über die Vollendung der Einheit und der Freiheit diskutiert. Die Präambel des Grundgesetzes sagt sei 1990:
Das ist staatlich und territorial sicher richtig betrachtet. Aber wie ist es mit der Einheit? Wie ist es mit der Einheit im Sozialen, in der Ökonomie und im praktischen und täglichen Leben? – In den letzten Tagen hat es viele Zeitzeugenberichte über persönliche Erlebnisse und darüber gegeben, wie Menschen heute das Zusammenleben erfahren und was sie in den 20 Jahren erlebt haben. Uns begegnet oft die Meinung, dass Menschen aus Ostdeutschland sich fremd fühlen und zwar nicht deshalb, weil sie sich eine Diktatur zurückwünschen, sondern deshalb, weil sie zwar dieselbe Sprache sprechen, aber das Gefühl haben, aus einem anderen Land zu kommen, vielleicht so etwas wie Migranten zu sein. Es gibt Schwierigkeiten im gegenseitigen Verstehen, in der Kommunikation. Vielleicht kennen Sie das Buch „Warum Ost- und Westdeutsche aneinander vorbeireden“. Darin wird sehr anschaulich erklärt, welche Missverständnisse es geben kann und wie sich das unterschiedliche Kommunikationsverhalten – denn darum geht es – erklären lässt. Wir haben das Erbe einer östlichen und einer westlichen Kommunikationskultur, die eine eher amerikanisch, die andere eher osteuropäisch beeinflusst. Jeder von uns kennt diese Situation, in der wir das komische Gefühl haben, es stimme etwas nicht. Die entsprechenden Klischees haben durchaus einen realen Bezug, beispielsweise das, wie oft jemand „ich“ oder „man“ sagt. Die Aufzählung ließe sich beliebig lange fortsetzen: von den Westmenschen, die ständig reden, alles wissen oder den Ostlern, die viel zu viel Zurückhaltung an den Tag legen oder gar für uninteressiert gehalten werden, vom persönlichen Maß an Selbstdarstellung oder Übertreibung, vom Maß an Glaubwürdigkeit.
Denken Sie zurück an 1990, den Begriff der „blühenden Landschaften“. Das war ein schönes Bild. Es blüht hier in Berlin sehr viel, der Regierende Bürgermeister hat darauf hingewiesen. Häuser sind saniert worden, Parks entstanden. All das blüht tatsächlich. Suggeriert hat der Begriff aber bei vielen Menschen etwas ganz anderes, nämlich dass es einfach würde, dass alle reich und glücklich werden könnten. Helmut Kohl wollte nicht die Schwierigkeiten in den Vordergrund stellen, sondern die Visionen, die Chancen. Das kann man nachvollziehen. Ich kann mir aber vorstellen, dass ein Satz wie der von Angela Merkel „Wir können scheitern oder wir können es schaffen“ im Osten besser ankommt, weil er dokumentiert, dass es Schwierigkeiten gibt und dass alle gefordert sind, dass alle sich einbringen sollen, dass es um eine gemeinsame Aufgabe geht und dass nicht alles im Selbstlauf vorangeht.
Nach 20 Jahren sind nicht alle Unterschiede weg. Das muss auch überhaupt nicht so sein. Wir müssen jedoch die Unterschiede kennen und müssen damit umgehen.
Ich bin gleich fertig. – 1989 haben die DDR-Bürger Demokratie gelernt und sofort praktiziert. Einen solchen Umbruch miterleben zu können, war ein großes Geschenk für alle, die dabei waren, die aktiv waren oder es aus der Nähe verfolgt haben. Das war Demokratie im besten Sinne, Protest auf der Straße, Runde Tische, die ersten freien Wahlen.
Wie sieht es heute mit der Demokratie aus? Wie haben wir das fortgesetzt? Wir haben Volksentscheide in Berlin eingeführt, wir haben Entscheidungsmöglichkeiten an das Volk abgegeben.
Ich komme zum Schluss! – Wenn dann, wie beim Kitavolksentscheid, dieser aus Finanzgründen gestoppt wird – ich weiß, der Senat war da in großer Not –, es dann aber mit dem Geld doch plötzlich klappt, ist das keine Werbung für direkte Demokratie. Hier müssen wir alle zusammen besser werden.
Drei Dinge am Schluss: Lassen Sie uns gemeinsam die Demokratie weiterentwickeln, lassen Sie uns einander mehr zuhören und voneinander lernen – auch nach 20 Jahren Ost und West kann man noch Neues erfahren –, und lassen Sie uns das Andenken wach halten an die friedliche Revolution für eine Demokratie, die alle mit
[Beifall bei den Grünen und der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU, der Linksfraktion und der FDP]
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann kaum zählen, wie oft ich in den letzten Wochen gefragt wurde, wo ich denn am Abend des 9. November 1989 gewesen sei. Ich muss gestehen, ich war nicht dabei wie der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, und die vielen Tausend, die diesen ersten Schritt zum Fall der Mauer miterlebten. Ich muss auch gestehen, dass ich Schabowskis irritierende Aussage auf der legendären Pressekonferenz nur irritierend fand und lange nicht auf die Idee kam, „sofort“ könne „sofort“ heißen.
Wenn ich mich an viele Freunde von damals in der Opposition, in der Widerstandsbewegung, erinnere, dann waren wir auch so beschäftigt, unsere Bürgerbewegungen aufzubauen, Veranstaltungen mit Tausenden von Menschen zu organisieren, Papiere für Veränderungen in der DDR zu schreiben, Erlebnisberichte von Opfern der Übergriffe am 7. und 8. Oktober zusammenzustellen, dass die nächtliche Öffnung der Mauer nur wie ein weiteres hilfloses Agieren der alten Machthaber auf uns wirkte und von vielen von uns nicht als Fanal begriffen wurde. Eigentlich war uns auch tief in unserem Inneren bewusst, dass all diese Aufregung, all diese Arbeit, dass unser Ziel, die Umgestaltung der DDR zu einem demokratischen, rechtsstaatlichen, friedlichen und lebenswerten Land zu machen, wo keiner mehr weggehen will, durch die Schnelligkeit der Ereignisse obsolet werden würde. Wir waren ja – mit vielen anderen – die, die bewusst dablieben, um zu verändern. Veränderungen brauchen aber Zeit.
Wir müssen uns auch eingestehen, dass die Leistungen der Bürgerinnen und Bürger der DDR – von den öffentlichen Protesten gegen die Fälschung der Kommunalwahlen, den stetig anwachsenden Montagsdemonstrationen in Leipzig, der Gründung der Bürgerbewegung und Parteien bis zu den Ereignissen am 7. und 8. Oktober und schließlich bis zur Würdigung der friedlichen Revolution in der Folge der sich überschlagenden Ereignisse – einen immer geringeren Stellenwert erhielten.
Der Jahrestag des Mauerfalls ist auch ein europäisches Jubiläum. Er steht für die Überwindung des Kalten Krieges und die Zweiteilung der Welt in Ost und West, deren Ursache tief in die deutsche, europäische und Weltgeschichte Eingang fanden. Die Teilung war Folge des Angriffskriegs und des beispiellosen Massenmords, mit dem das nationalsozialistische Deutschland Europa überzog. Der 9. November ist auch der Tag, an dem 1938 in Deutschland auf Geheiß des Nazi-Regimes die Synagogen
brannten und jüdische Menschen erschlagen, verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt wurden. Deswegen kann – es ist auch wichtig, dass wir das in unserem gemeinsamen Antrag formuliert haben – der 9. November niemals ein Tag der ungeteilten Freude sein, sondern er bleibt für immer mit dieser Schande verbunden.
Vor diesem Hintergrund der Gewalt ist es umso bedeutender, dass der 9. November 1989 für ein friedliches Ende des DDR-Regimes und des Ost-West-Konflikts steht. Auch dies wird in diesem gemeinsamen Antrag aller Parteien formuliert.
Der Fall der Mauer stellt den sichtbaren Erfolg einer osteuropäischen Protest- und Reformbewegung dar. Obwohl die Stoßrichtungen unterschiedlich waren, sind der Prager Frühling, die Streiks der gewerkschaftlichen Bewegung Solidarność in Polen sowie Glasnost und Perestroika des sowjetischen Staatschefs Gorbatschow für uns in der Opposition, für uns in der DDR gleichermaßen bedeutsam gewesen und haben auch unsere Potenziale und unseren Widerstandsgeist geweckt. Es war mir wichtig, dass dieser Bezug zu Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion bei dem Freiheitsfest eine große Rolle gespielt hatte. Aber auch das Symbol der fallenden Steine wie beim Domino hätte kaum besser gewählt werden können. Wer sich an das Jahr 1989 zurückerinnert – die Ereignisse fielen förmlich in einer Schnelligkeit übereinander, die kaum Zeit zur Besinnung ließ. Deshalb ist es gut, sie nach 20 Jahren noch einmal Revue passieren zu lassen und insbesondere die Menschen zu würdigen, die jenseits der großen Politik die eigentlichen Akteure dieser gewaltigen Veränderungen waren.
Wir haben noch viel zu tun, darauf wurde auch eingegangen. Freiheit bedeutet auch, dass wir den Vereinigungsprozess aktiv gestalten und dass wir dafür sorgen, dass es keine Intoleranz in diesem Land mehr gibt, das ist insbesondere im Hinblick auf rechtsextremistische Übergriffe, wie sie jetzt in Dresden geahndet wurden, bedeutsam. Und es ist wichtig, dass auch die ökonomische Einheit hergestellt wird. – Danke schön!
Vielen Dank, Frau Abgeordnete Seelig! – Für die FDPFraktion hat jetzt der Abgeordnete Meyer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die friedliche Revolution vor 20 Jahren, der Fall der Berliner Mauer oder besser das Eindrücken durch mutige Bürgerinnen und Bürger in der DDR bringt für uns alle ein Glücksge
fühl, das über den Tag von Jubiläen hinaus bewahrt werden muss. Ich selbst wurde 1975 im ehemaligen Westteil der Stadt geboren und bin dort aufgewachsen. Damit gehöre ich zu der Generation, die länger im vereinten Deutschland und vereinten Berlin gelebt hat als in der geteilten Stadt. Daher empfinde ich tiefe Dankbarkeit für die engagierten Bürgerinnen und Bürger aus oder in der ehemaligen DDR, für engagierte Bürgerrechtler, aber auch für die Hunderttausende von Menschen, die im Herbst 1989 auf die Straße gegangen sind und für ihre persönliche Freiheit demonstriert haben. Der zentrale Wert, der den Fall der Mauer ausgelöst hat, war der Wunsch nach ebendieser Freiheit. Nicht nur frei reisen, sondern selbstbestimmt und selbstverantwortlich sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen zu können, seine eigene Individualität ausleben und ein Teil eines demokratischen Gemeinwesens sein zu können – das war der Grund, weswegen die Berliner Mauer eingerissen wurde.
Diesen Wert, diese Grundkonstante müssen wir uns gerade 20 Jahre nach dem Mauerfall immer wieder vergegenwärtigen. Gescheitert ist im Jahr 1989 nicht nur die Diktatur der SED, sondern auch ihr sozialistischer Gesellschaftsentwurf, der im Kern auf den Zwang zur Uniformität der gesamten Bevölkerung ausgelegt war und daher auch nur durch das gesamte Unterdrückungssystem der DDR 40 Jahre aufrecht erhalten werden konnte. Das Glück, dass dies gelingen konnte, eint uns mit unseren osteuropäischen Nachbarn. Ohne die Veränderung gerade in Polen und Ungarn, aber auch den Mut und die Besonnenheit von Michail Gorbatschow wäre die friedliche Veränderung so nicht möglich gewesen.
Als Schmelztiegel zwischen Ost und West ist in Berlin in den letzten 20 Jahren viel geschehen. In beiden ehemaligen Stadthälften gab es Enttäuschungen, aber in der Gesamtbilanz überwiegt das Positive. Berlin ist wieder zusammengewachsen, aber nicht so, wie es vor dem Krieg und dem Mauerbau war. Es ist etwas Neues im Entstehen. Dem sollten wir uns immer bewusst sein.