Als Schmelztiegel zwischen Ost und West ist in Berlin in den letzten 20 Jahren viel geschehen. In beiden ehemaligen Stadthälften gab es Enttäuschungen, aber in der Gesamtbilanz überwiegt das Positive. Berlin ist wieder zusammengewachsen, aber nicht so, wie es vor dem Krieg und dem Mauerbau war. Es ist etwas Neues im Entstehen. Dem sollten wir uns immer bewusst sein.
Heutzutage habe ich den Eindruck, dass wir allzu häufig der Versuchung erliegen, über die Unterschiede zwischen West und Ost zu sprechen. Ich habe die Erfahrung gemacht, je mehr Kontakt Menschen aus Ost und West miteinander haben, desto eher verschwinden die Unterschiede und desto mehr treten die Gemeinsamkeiten gerade auch in der Jugend hervor. Berlin steht hier im Zentrum und sollte sich auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer als Vorreiter in der Bundesrepublik begreifen.
Bei allen Gemeinsamkeiten geht es aber nicht um Gleichmacherei. Unterschiedliche Lebenserfahrungen und unterschiedliche kulturelle Prägungen in Ost wie in West bereichern unser Gemeinwesen und dürfen nicht ignoriert,
übergangen oder abgetan werden. Gerade diese Pluralität, ergänzt durch den Zuzug von außen, macht Berlin so einzigartig.
Bei allem Positiven dürfen wir aber nicht die Fehlentwicklungen übersehen. Wenn die Selbstverantwortung für das eigene Handeln unverrückbarer Bestandteil unserer Gesellschaftsordnung ist, muss dies gerade auch für die Täter von einst gelten, umso mehr, da eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Zeitgeschichte sonst gar nicht möglich ist. Das gravierendste Problem aber ist in der Tat – und das haben wir heute schon ein paar Mal gehört – der Trend zur Verharmlosung der DDR und des sie tragenden Gesellschaftsentwurfs. Wenn ein Großteil der Jugend kein ausreichendes Differenzierungsbewusstsein zwischen einem Unrechtsstaat wie der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, zwischen Diktatur und Demokratie, besitzt, müssen alle Demokraten gegensteuern.
Denn der Kern einer jeden Diktatur ist Willkür und die persönliche Unfreiheit des Einzelnen, letztlich Zwang und Bevormundung. Genau hiergegen haben sich die Bürgerinnen und Bürger in der DDR im Jahr 1989 aufgelehnt. Daher wäre ein Zulassen dieser Verharmlosung der DDR letztlich auch ein Verrat an den Idealen der friedlichen Revolution aus dem Jahr 1989. – Ich danke Ihnen!
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir stimmen über den gemeinsamen Antrag aller Fraktionen auf Annahme einer Entschließung Drucksache 16/2779 ab. Wer für die Annahme dieser Entschließung ist, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das sind alle Fraktionen. Ich frage trotzdem nach Gegenstimmen. – Enthaltungen? – Das sehen wir nicht. Dann ist das einstimmig angenommen.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen Drucksache 16/2741 unter der lfd. Nr. 31 wird somit zurückgenommen.
gemäß § 51 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin. Das Wort zur ersten Mündlichen Anfrage hat Frau Abgeordnete Burgunde Grosse von der SPD zu dem Thema
1. Wie bewertet der Senat die Entscheidung der schwarzgelben Koalition auf Bundesebene für die getrennte Aufgabenwahrnehmung bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende?
Vielen Dank, Frau Abgeordnete Grosse! – Es antwortet die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Frau Bluhm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Abgeordnete Grosse! Im Namen des Senats beantworte ich Ihre mündliche Anfrage wie folgt:
Zur ersten Frage: Fast zwei Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007 sind nun vergangen. An dieser Stelle wurde entschieden, dass die gemeinsame Konstruktion Arbeitsgemeinschaften, die Arbeitsagentur und Kommune in einer Mischverwaltung zusammenfassen, vor dem Grundgesetz keinen Bestand hat. Dem Bundesgesetzgeber wurde ein Zeitraum bis Ende 2010 zugestanden, um die gesetzlichen Grundlagen der Organisation der Aufgabenwahrnehmung nach SGB II neu zu ordnen und in die Praxis umzusetzen. Nach organisatorischen Alternativen sind in den letzten zwei Jahren intensive Suchen gestartet und zwischen Bund und Ländern erörtert worden.
Im Februar 2009 schien ein Durchbruch erreicht. Bundesminister Scholz, Ministerpräsident Rüttgers und Ministerpräsident Beck verständigten sich auf eine Änderung des Grundgesetzes, um eine Leistungserbringung aus einer Hand in Form der vorhandenen Mischverwaltung weiter zu ermöglichen. Dieser Kompromiss allerdings, dem alle Länder zugestimmt hatten, stieß wider Erwarten auf Vorbehalte der CDU/CSU-Fraktionen. Da die notwendige gesetzgeberische Mehrheit nicht erreichbar schien, ist die Problematik der SGB-II-Neuordnung letztlich bis nach den Bundestagswahlen zurückgestellt worden. Die neue Bundesregierung hat nun ihre Entscheidung zur Kenntnis gegeben.
Obwohl allen Beteiligten die schwerwiegenden Nachteile der Organisation der SGB-II-Aufgabenwahrnehmung in Form einer getrennten Aufgabenwahrnehmung bekannt sind, hat sich die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP für dieses Organisationsmodell entschieden. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP wurde zur SGB-II-Neuordnung Folgendes vereinbart: Neuordnung
„ohne Grundgesetzänderung und ohne Änderung der Finanzbeziehungen“, „Kompetenz und Erfahrung der Länder und Kommunen vor Ort sowie der Bundesagentur für Arbeit“ nutzen, bestehende Optionskommunen zu entfristen. Das heißt, eine Ausweitung der Optionskommunen, die nur möglich ist im Zusammenhang mit kommunaler Neugliederung. Die Bundesagentur für Arbeit unterbreitet den Kommunen „attraktive Angebote zur freiwilligen Zusammenarbeit“. Zur Regelung der Zusammenarbeit wird die Erstellung eines Mustervertrags durch das zuständige Bundesministerium vorgelegt.
Die Nachteile einer solchen Organisationsform, eines solchen Organisationsmodells liegen auf der Hand. Aus Sicht des Senats ist die getrennte Wahrnehmung der SGBII-Aufgaben durch die beiden Leistungsträger – Bundesagentur für Arbeit und kommunaler Träger – nicht geeignet, eine bürgerfreundliche leistungsfähige und verwaltungsökonomische Aufgabenwahrnehmung zu gewährleisten. Aus unserer Sicht bedeutet getrennte Aufgabenwahrnehmung die Aufgabe des Prinzips der Angebote aus einer Hand. Zudem ergeben sich die Probleme der notwendig neu zu konstituierenden Schnittstellen zwischen den verschiedenen Leistungsarten für das SGB II, was für die Leistungsbezieher erhebliche Folgen hat. So müssen sich die Leistungsempfangenden nach unserem derzeitigen Stand der Dinge künftig an zwei zuständige Stellen für die Lebensunterhaltssicherung wenden. Das heißt, es gibt zwei Ansprechpartnerinnen, zwei Bedürftigkeitsprüfungen, zwei Leistungsbescheide sowie getrennte Widerspruchs- und Klageverfahren.
Die Leistungserbringung unter einem Dach ist nicht mehr gesichert. Wir werden uns aber gemeinsam mit der Regionaldirektion – so viel steht schon fest – dafür einsetzen, dass diese Angebotsstruktur, die Berlin im Moment in Form der Mischverwaltung in 12 Jobcentern anbietet, natürlich mit neuer Organisationsform, aber immerhin unter einem Dach erhalten und angeboten werden kann.
Wenn es tatsächlich dazu kommt – und im Moment sieht es danach aus –, dass es eine doppelte Datenerfassung, doppelte Aktenführung, geteilte Bedürftigkeitsprüfungen und Feststellung von anrechenbaren Einkommen gibt, wird es in jedem Fall zu einem erheblichen Anstieg der Verwaltungskosten kommen und ein aufwendiger Abstimmungsprozess wird die Folge sein.
Schließlich haben wir ebenfalls daran Kritik geübt, dass der Einfluss der Länder und Kommunen, also auch des Landes Berlin, an den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik vermutlich geringer wird.
Zur zweiten Frage: Die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die bislang von den Jobcentern betreut werden, dürfen keinesfalls die eigentlichen Leidtragenden der Entscheidung zur getrennten Aufgabenwahrnehmung werden. Der Senat ist daher bemüht, die negativen Auswirkungen so gering wie möglich zu halten. Dazu ist es allerdings not
wendig, dass die Bundesregierung, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, unverzüglich einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des SGB II vorlegt und des Weiteren den angekündigten Mustervertrag für die Kooperationsangebote der Bundesagentur für Arbeit erstellt, weil, wenn dies nicht schnellstmöglich passiert, Berlin mit der Umorganisation zur getrennten Aufgabenwahrnehmung der Jobcenter nicht beginnen kann, weil wir die gesetzlichen Grundlagen nicht kennen.
In diesem Zusammenhang hat der Senat die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales beauftragt, die schon existierende Arbeitsgruppe, die sich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts konstituiert hat, wieder einzuberufen, die selbstverständlich in Zusammenarbeit mit allen zuständigen und betroffenen Senatsverwaltungen, der Regionaldirektion und der sinnhaften Einbeziehung des Hauptpersonalrats und der Bezirke die Vorbereitung für den Akt der Umorganisation der Jobcenter in Form der getrennten Aufgabenwahrnehmung trifft, wofür – ich wies darauf hin – die gesetzlichen Grundlagen, der Mustervertrag noch nicht vorliegen. Dennoch muss dafür Sorge getragen werden, von Berliner Seite alles zu tun, damit eine Leistungserbringung unter einem Dach realisiert werden kann, die Kooperation zwischen beiden Leistungsträgern bürgerfreundlich auszugestalten ist und die Arbeitsförderung der BA mit den regionalen Erfordernissen des Landes Berlin abzustimmen ist. Das wird eine Herkulesaufgabe, für die außerordentlich wenig Zeit vorliegt. [Beifall]
Vielen Dank, Frau Senatorin Bluhm, für diese sehr ausführliche Beantwortung dieser Frage! – Haben Sie eine Nachfrage, Frau Grosse? – Dann haben Sie das Wort.
Ja, ich habe eine Nachfrage, Frau Präsidentin! – Frau Senatorin! Können Sie an der jetzigen Entscheidung irgendwelche Vorteile entdecken, und können Sie nachvollziehen, warum man jetzt die Rolle rückwärts macht?
Ich habe die Chronologie des Zustandekommens der jetzigen Situation, die ich in der Tat organisationssoziologisch für die komplizierteste, aufwändigste und bürgerunfreundlichste halte, beschrieben. Es gab im Bundestag
keine Zweidrittelmehrheit für die Änderung des Grundgesetzes, und das ist die logische rechtliche Folge davon, die tatsächlich mit einem hohen Organisationsaufwand verbunden ist. Ich finde es aber wichtig, von dieser Stelle noch mal zu betonen, dass wir alles daran setzen werden, die Angebotsstruktur unter einem Dach zu erhalten, die Neustrukturierung für die Betroffenen so unerkennbar wie möglich zu machen und die Betroffenen dadurch nicht noch stärker zu belasten.
Frau Senatorin! Habe ich Sie richtig verstanden, dass der Berliner Senat von seiner grundsätzlichen Ablehnung der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hiermit abgerückt ist und sich für den Fortbestand der Jobcenter in ihrer jetzigen Form auch weiterhin einsetzen wird, und welche Möglichkeiten sehen Sie überhaupt noch, diese Organisationsform in irgendeiner Form zu retten?