Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 82. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, begrüße Sie alle, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter und natürlich die Kolleginnen und Kollegen, Senatorinnen und Senatoren, Staatssekretäre und sonstige Beamtinnen und Beamte ganz herzlich.
Zunächst habe ich wieder Geschäftliches mitzuteilen. Am Montag sind folgende fünf Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:
1. Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Zusammenleben in Berlin – der neue Familienbericht als umfassende Bestandsaufnahme und Handlungsanleitung“,
2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Gewaltserie in Bus und Bahn – hat der Senat tatsächlich ein Konzept, oder wird es nur wieder zur ‚Chefsache’?“,
3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Jedes Opfer ist eins zu viel – Sicherheit und Freiheit im öffentlichen Raum schützen“,
4. Antrag der Linksfraktion zum Thema: „Zusammenleben in Berlin – der neue Familienbericht als umfassende Bestandsaufnahme und Handlungsanleitung“,
5. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Was bleibt übrig von Zöllners Überraschungspaketen? Leere Ankündigungen statt Bildungsqualität als Bilanz von zehn Jahren Rot-Rot!“.
Zur Begründung der Aktualität erteile ich zunächst einem Mitglied der Fraktion der SPD das Wort, nämlich der Kollegin Harant. – Bitte schön, Frau Harant, ergreifen Sie das Wort zur Begründung der Aktualität!
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Für die Aktuelle Stunde schlägt Ihnen die Koalition vor, speziell die SPD zunächst mal, sich mit dem neuen Berliner Familienbericht zu befassen. Die Aktualität lässt sich unschwer begründen. Wir finden das Thema Familie, Situation der Familie heute in der „Berliner Zeitung“ auf der ersten Seite. Der Bund beschäftigt sich mit dem Fachkräftemangel und hofft darauf, dass mehr Mütter wieder in den Beruf zurückkehren. Das ist das Problem Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das gelöst werden muss. Dieser Familienbericht, den wir heute besprechen wollen, hat ganz neue Ansätze, und in seiner Bestandsaufnahme und seinen Perspektiven können wir hier auch ein Stück weiterkommen.
Hervorzuheben ist zum einen: Der Berliner Familienbericht arbeitet mit einer neuen Definition des Begriffs Familie. Ich zitiere: Familie ist
Damit umfasst der Begriff Familie unterschiedliche Formen des Zusammenlebens und erstreckt sich über alle Phasen des Lebens. Dieser Ansatz ist wesentlich breiter und betrifft einen viel größeren Teil der Berliner Bevölkerung, eben nicht nur diejenigen, die gerade Kinder unter 18 Jahren versorgen, sondern z. B. auch Erwachsene, die für ihre pflegebedürftigen Eltern sorgen.
Zum Zweiten ist dieser Bericht auf eine ganz andere Weise entstanden als der frühere Bericht. Der letzte ist fünf Jahre alt und von 2006. Unser neuer Familienbericht ist das Ergebnis eines drei Jahre dauernden Diskussionsprozesses, eines breiten öffentlichen Diskussionsprozesses, der vom Berliner Beirat für Familienfragen angeregt und begleitet wurde. Dieser Beirat ist ein ehrenamtliches und überparteiliches Gremium und arbeitet im Auftrag des Berliner Senats. In diesen Familienbericht sind ganz konkrete Erfahrungen von Berliner Familien mit eingeflossen, denn man hat in sechs Berliner Bezirken Foren durchgeführt und zusätzlich auch noch einen OnlineDialog angeboten, sodass jeder die Möglichkeit hatte, sich zu beteiligen.
Drittens ist der Perspektivwechsel wichtig, das Herangehen an das Thema Familie. Es geht eben nicht nur um Risiken und Probleme, es geht um Chancen. Familien leisten ganz Entscheidendes für die Gesellschaft, sind aber im Gegenzug auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen.
Seit April liegt nun auch die Stellungnahme des Senats zum neuen Familienbericht vor, sodass sie in die aktuelle Diskussion miteinbezogen werden kann. Schon heute finden wir in Berlin eine gute Infrastruktur zur Unterstützung der Familien vor. Ich nenne einige Stichworte: ein vorbildliches Angebot zur Kinderbetreuung, vielfältige Unterstützung Alleinerziehender, Entlastung für Familien bei der Pflege kranker und alter Angehöriger, Familienberatung, Familienbildung, Familienerholung, Auszeichnung familienfreundlicher Unternehmen und noch vieles mehr.
Natürlich kann man das alles noch besser machen. Man kann es ausbauen. Dazu finden sich sehr konkrete Vorschläge in diesem Familienbericht. Es lohnt sich, darüber zu diskutieren. Heute sollten wir die Gelegenheit dazu nutzen. – Danke schön!
Danke schön, Frau Kollegin Harant! – Jetzt ist der Kollege Juhnke für die CDU-Fraktion dran zur Begründung der Aktualität. – Bitte schön, Herr Juhnke!
Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Mann ins Koma geprügelt“; „Erneut schwere Zwischenfälle in U- und S-Bahn“; „Kaum ein Tag ohne neue Gewalt in U-Bahnhöfen“. – Wir alle kennen die Schlagzeilen der Berliner, aber auch der überregionalen Zeitungen. Wir haben es mit einer Gewaltserie zu tun, die auch im Vergleich mit anderen deutschen Großstädten ihresgleichen sucht. Damit wird das ohnehin geringe Vertrauen der Berliner in die Sicherheit im öffentlichen Raum weiter erschüttert, und langsam schadet dies dem Ansehen Berlins in ganz Deutschland.
Dabei ist klar, dass die aktuellen Vorfälle nur die Spitze eines Eisbergs sind. Sie sind dabei auch keine Momentaufnahme, die über Nacht gekommen ist und die morgen schon wieder anders sein kann. Diese Vorfälle sind eher der Beweis, dass sich in Berlin die Abwärtsspirale der Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum immer weiter dreht.
Viele Leute sitzen in den Zügen nach der Devise „Bloß niemanden direkt ansehen!“, und ängstlich wird beobachtet, wer an der nächsten Station einsteigt. Von ständigen Belästigungen durch ambulante Zeitungshändler, die sich sogleich, inklusive Lebenslauf, vorstellen, oder der Zwangsbeglückung durch Amateurmusiker will ich dabei erst gar nicht reden.
Es ist eine Form der Unsicherheit, die sich durch keine Statistik dieser Welt einfangen lässt. Es ist der Zustand, dass bei vielen Fahrgästen inzwischen die Angst immer mitfährt.
dann kann man diese seit Jahren stattfindenden, täglichen Belästigungen und Einschüchterungen auch nicht zur Kenntnis nehmen. Dann ist schon eine beispiellose Serie von Gewaltvorfällen im öffentlichen Personennahverkehr notwendig, um endlich einzusehen, dass es ein schwerer Fehler von Rot-Rot war, 2003 die Doppelstreifen von BVG und Polizei abzuschaffen.
Nun sollen nach der Ankündigung von Klaus Wowereit in den nächsten Jahren 200 neue Stellen bei der Polizei geschaffen werden. Ich sage es ganz deutlich: Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die CDU-Fraktion hat schon bei den vergangenen Haushaltsberatungen 250 neue Stellen – und zwar gegenfinanziert – gefordert. Damals haben das im Übrigen SPD und Linke einhellig abgelehnt. Dennoch begrüßen wir natürlich, dass mit dieser Ankündigung Teile des Wahlprogramms der Berliner CDU schon vor dem 18. September verwirklicht werden.
Doch bei allem Zuspruch bleiben bei mir noch einige – vorsichtig formuliert – Fragezeichen: Herr Wowereit! Warum besetzen Sie nicht erst einmal die bei der Polizei bestehenden freien Stellen? Warum kümmern Sie sich zunächst nicht um diese 300 bis 400 Stellen, sondern schaffen jetzt 200 neue, die erst einmal nichts weiter als virtuell sind? Und vor allem: Warum machen Sie das erst jetzt, während die Probleme schon seit Jahren bestehen?
Aber in den letzten zehn Jahren haben wir von Ihnen ja zum Thema Sicherheit auch nicht viel gehört. Vielleicht wissen Sie daher auch nicht, dass die Ausbildung von Polizisten drei Jahre dauert
und deshalb die eingesetzten Beamten im aktuellen Dienst an anderer Stelle fehlen werden. Schließlich: Was hat sich denn nun schlagartig geändert, Herr Wowereit? Noch vor ein paar Wochen hieß es bei Ihnen, die Statistiken bewiesen, dass der ÖPNV sicher sei. Wie passt das denn jetzt zusammen mit Ihrer Erhöhung? Was sollen die Leute denn eigentlich glauben?
Ich jedenfalls glaube, dass Ihr plötzlicher Sinneswandel weniger mit einem Lernfortschritt zum Thema Sicherheit im ÖPNV, sondern sehr viel mit dem Wahltermin zu tun hat.
Auch als Konzept ist eine reine Personalerhöhung zu wenig; da muss man sich schon ein paar Gedanken mehr machen. Wir verlangen erstens die sofortige Steigerung der Polizeipräsenz. Führen Sie die Doppelstreifen wieder ein, und zwar nicht nur auf einer Handvoll Bahnhöfen, sondern intelligent und mit möglichst großer Breitenwirkung! Zweitens: Nutzen Sie konsequent alle Möglichkeiten der Speicherung von Videoaufzeichnungen und Überwachung! Unser Vorschlag der Erhöhung der Aufzeichnungsfrist auf 48 Stunden bleibt natürlich weiter im Raum. Drittens: Einführung eines Verbots, im ÖPNV Alkohol zu konsumieren. Natürlich sollen gerade alkoholisierte Personen lieber Bus und Bahn benutzen. Ich sehe aber nicht ein, warum dann dort weitergetrunken werden muss. Viertens: Konsequente Anwendung des beschleunigten Verfahrens bei der Ahndung von Gewalttaten im ÖPNV! In diesem Zusammenhang fünftens, Herr Wowereit: Sorgen Sie dafür, dass es endlich wieder mehr Personal bei der Berliner Polizei und bei der Justiz gibt!
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident! – Berlin hat sehr viele Polizisten ausgebildet, die die Stadt verlassen mussten, weil Rot-Rot hier die Zahlen massiv abgebaut hat. Wir werden eine Initiative starten, dass man diesen Polizeibeamten in Berlin, ihrer Heimatstadt, wieder eine Perspektive gibt und damit eine teure Ausbildung erspart.
Herr Wowereit! Wir appellieren an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam etwas für die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung im ÖPNV tun! Im Übrigen können Sie die CDU-Fraktion bei weiteren Umsetzungen ihres Wahlprogramms an Ihrer Seite wissen. – Vielen Dank!
Danke schön, Herr Dr. Juhnke! – Für die Bündnis 90Fraktion hat nun der Fraktionsvorsitzende Herr Ratzmann das Wort. – Bitte schön, Herr Ratzmann!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! U-Bahnhof Lichtenberg; U-Bahnhof Friedrichstraße; UBahnhof Amrumer Straße; U-Bahnhof Franz-NaumannPlatz – eine Serie von Gewalttaten mit schwersten Folgen für die Opfer durchzieht Berlin. Vorfälle, die die ganze Stadt bewegen – das erfordert eine politische Reaktion. Unsere Anteilnahme gilt hier erst einmal den Opfern – auch um die muss man sich kümmern, Herr Wowereit –, verbunden mit der klaren Botschaft: Das dulden wir nicht in Berlin, und das werden wir nicht hinnehmen.
Diese Vorfälle, ihre Auswirkungen und ihre Darstellung in der Presse drohen unser öffentliches Personennahverkehrsystem zu einem Ort der Unsicherheit werden zu lassen, und das wäre verheerend. Der öffentliche Personennahverkehr ist ein öffentlicher Raum, und es ist unsere Aufgabe, dort für Sicherheit zu sorgen. Das kann man nicht allein auf den Betreiber abwälzen.
Wir durften heute hier endlich Ihre Reaktion zur Kenntnis nehmen, Herr Wowereit. Auch ich sage: Das ist die richtige Richtung. Wir unterstützen es ausdrücklich, die Sicherheit in den U-Bahnen wieder sichtbar mit Polizei herzustellen. Das ist Aufgabe der öffentlichen Hand. Schwarze Sheriffs, wie von der CDU gefordert, sind hier nicht die Lösung, und auch so manch anderer Vorschlag, den Sie, Herr Juhnke, heute unterbreitet haben, schießt ein bisschen über das Ziel hinaus.