Das gilt ebenfalls für den Bund. Statt endlich die mehr als überfällige bundesweite Vernetzung und die Überprüfung der Sicherheitsbehörden einzuleiten, spricht der Bundesinnenminister Horst Seehofer nach wie vor davon, dass Migration die Mutter des Problems sei, bzw. behauptet, der Attentäter von Hanau sei ja ein Einzeltäter ohne Ideologie. Aber genau damit, das haben wir heute leider auch gehört, liefert er ein Musterbeispiel, wie rechter Terror immer und immer wieder verharmlost wird. Das ist wiederum ein Schlag in das Gesicht aller Opfer.
Über 200 Tote durch rechte Gewalt seit 1990, die Dunkelziffer noch weit höher. Hunderte Stühle, die bei Familienfeiern leer bleiben, Hunderte Gräber, die von Eltern, Geschwistern und Freundinnen besucht und beweint werden, Tausende Hinterbliebene, die das Vertrauen in den Staat, in dem sie leben, verloren haben. Ich möchte mich heute bei Ihnen entschuldigen. Dafür, dass wir das Leben Ihrer Lieben nicht ausreichend beschützt haben, dafür, dass wir die Morde nicht lückenlos aufgeklärt haben und dafür, dass viele von Ihnen bis heute in Angst leben. Wir zählen die Städte, weil die Liste der Namen zu lang ist. Aber wir dürfen nicht aufhören, Ihre Namen zu sagen. Jeder Name, jeder Mensch, der ihn getragen hat, muss tief in unserem kollektiven Gedächtnis verankert werden. Jeder einzelne Name ein Mahnmal. Deshalb sagen wir die Namen, immer und immer wieder: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Vili Viorel Păun.
[Zuruf von der SPD: Oh nein! – Karsten Woldeit (AfD): Oh doch! – Tobias Schulze (LINKE): Jeder bestimmt den Wert seiner Rede selbst, Herr Kollege!]
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich habe eingangs in meiner Rede gesagt, dass ich vielen Kollegen anderer Fraktionen dankbar bin, dass sie diese Debatte nicht versuchen, politisch zu instrumentalisieren. Das haben weder Die Linke gemacht, das hat die SPD nicht gemacht, sondern wir haben uns dem Thema gewidmet und wir haben der Opfer und der Hinterbliebenen gedacht.
Frau Kapek, Sie hätten die Chance gehabt, sich in diesen guten Ton der Demokratie mit einzureihen. Sie haben das nicht gemacht.
Ich bin schon ein Stück weit entsetzt, in welcher Art und Weise Sie dann versuchen zu argumentieren.
Ich überlege übrigens auch, warum der Vater des Täters, der in der Tat psychisch krank war und nach Generalbundesanwaltschaft allein in einem Wahn gehandelt hat, und nach allen Erkenntnissen keiner Terrorzelle oder Ähnlichem angehört hat, das ist also Stand der Ermittlungsergebnisse, warum sein Vater, den Frau Helm mit rechtsradikalen Tendenzen und in Sorge um die Bevölkerung genannt hat, warum der denn für Bündnis 90/Die Grünen kandidiert hat?
Frau Kapek! Das müssen Sie mir auch erklären: Warum habe ich durch meine Rede gezeigt, dass sich Neonazis in Deutschland frei bewegen können? – Frau Kapek! Dafür sollten Sie sich schämen!
So etwas Absurdes hätte ich noch nicht mal Ihnen zugetraut. Ich könnte dann übrigens genauso argumentieren: Frau Kapek! Sie sind schuld, dass regelmäßig Flugzeuge abstürzen. – Warum? Weil Sie Langstreckenflieger verurteilen. Merken Sie, wie dämlich das ist?
Frau Kapek! Ich bitte Sie, kommen Sie zurück zum demokratischen Stil! Nutzen Sie nicht, wie Sie das so oft machen, Opfer für Ihre politische Ideologie. Das ist ein schlechter Ton, und das gehört sich gerade in dieser Debatte nicht.
[Beifall bei der AfD – Steffen Zillich (LINKE): Das berühmte gesellschaftliche Umfeld der Flugzeuge!]
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnern wir uns: Gökhan Gültekin war 37 Jahre alt. Er war gelernter Maurer, doch das war ihm nicht genug. Er wollte mehr und gründete Anfang 2020 ein Hausmeisterunternehmen. 2006 überlebte er einen schweren Unfall, bei dem ein Linienbus eine Telefonzelle überfuhr, in der er sich aufhielt. Er kümmerte sich um seinen Vater, der unheilbar an Krebs erkrankt war.
Sedat Gürbüz war 29 Jahre alt. Er war Besitzer und Betreiber einer Bar, die er dann verkaufte, weil er unabhängiger sein wollte. Er nahm von jedem seiner Mitarbeiter persönlich Abschied, bedankte sich für ihre Arbeit und fand aufmunternde Worte.
Said Nesar Hashemi war 21 Jahre alt. Er hatte vier Geschwister, war ein Familienmensch. Als gelernter Maschinen- und Anlagenführer hatte er es sich zum Ziel gesetzt, in diesem Jahr seine Weiterbildung zum staatlich geprüften Techniker abzuschließen. Seine Schwester beschreibt ihn als ehrgeizig und hilfsbereit.
Mercedes Kierpacz war 35 Jahre alt. Sie hatte zwei Kinder, für die sie an jenem Abend eine Pizza bestellte und abholte. Ihre Kinder waren ihr absoluter Lebensmittelpunkt. Arbeitskollegen und Freunde sagten, dass sie ein herzlicher Mensch mit einer starken Persönlichkeit war.
Hamza Kurtović war 22 Jahre alt. Er hatte Grund zum Feiern, denn er hatte gerade seine Ausbildung abgeschlossen. Als Fachlagerist wollte er eigenständig werden, sich ein eigenes Leben aufbauen, eine Familie gründen.
Vili Viorel Păun war 22 Jahre alt. Er kam mit 16 nach Deutschland, um hier Geld für die medizinische Behandlung seiner Mutter zu verdienen. Als Kurier in einem Kurierdienst schlug er sich durch. Beim Versuch, anderen Menschen das Leben zu retten, wurde er selbst zum Opfer.
Fatih Saraçoğlu war 34 Jahre alt. Er arbeitete selbstständig als Schädlingsbekämpfer. Die Arbeit lag ihm, sie machte ihm Spaß. Mit seinem Unternehmen wollte er zukünftig bundesweit tätig werden und Arbeitsplätze schaffen.
Ferhat Unvar war 23 Jahre alt. Er hatte gerade seine Ausbildung zum Heizungs- und Gasinstallateur abgeschlossen. Seine Familie sagte, er hatte viele Träume und auch konkrete Pläne, diese Träume wahr werden zu lassen. Ein erster Schritt sollte die Gründung eines eigenen Unternehmens sein.
Kaloyan Velkov war 33 Jahre alt. Er kam mit seinem achtjährigen Sohn vor zwei Jahren nach Deutschland. Er arbeitete hier als Lkw-Fahrer. Weil er das Geld nicht hatte – es reichte nicht, um auch seine Eltern zu unterstützen –, arbeitete er nebenbei als Wirt in einer Bar.
19. Februars in Hanau durch Schüsse verletzt, selbst die eigene Mutter tötete der Attentäter. Durch diesen rechtsterroristischen Akt wurde unser ganzes Land verletzt.
Die Opfer kamen aus unserer Mitte. Dieser rechtsextreme Terrorakt hat uns schockiert, er macht uns traurig, wütend und fassungslos, doch ich frage: Konnte er uns eigentlich überraschen? – Ich sage nein, überraschen konnte er uns eigentlich nicht. Deutschlands ungelöstes Problem mit rechtsextremer Gewalt besteht nicht erst seit dem letzten Jahr. Diese Gefahr ist real, sie ist alltäglich, und sie kostet immer wieder Menschenleben.
Diese rechtsextreme Gewalt wird zusehends hemmungsloser. Sie wächst nicht zuletzt auch in einer Atmosphäre, die durch eine Politik der Fremdenfeindlichkeit und des Hasses geschaffen wird, eine Politik, die die Grenzen des Sagbaren verschiebt, die Verrohung erzeugt und Gewalttaten prophezeit, ja sogar billigend in Kauf nimmt. Angeheizt durch die Diskussion im Netz hat sich ein großer Raum des Hasses geschaffen, der diese Hemmungslosigkeit zusehends weiter befördert.
Ja, auch in Berlin sind wir nicht frei davon. Das jüdische Leben in unserer Stadt gerät immer mehr in Gefahr. Übergriffe und Beleidigungen gehören mittlerweile zum Alltag vieler Jüdinnen und Juden. Sie sind dabei nicht nur dem Hass rechtsextremer und gewaltbereiter Ideologen, sondern auch immer stärker dem Hass religiöser Fanatiker ausgesetzt, in einer nicht hinnehmbaren, aber sich
Auch der Hass auf Muslime wächst immer stärker. Er wird politisch instrumentalisiert, es wird Stimmung gegen Menschen gemacht, die anders aussehen oder anders heißen. Demokraten werden von Rechtsextremisten bedroht, ihr Eigentum wird zerstört, und sie werden angegriffen. In den schlimmsten Fällen gipfelt es sogar in versuchter Tötung oder Mord. Auch viele von uns hier im Haus haben mit realen Bedrohungen und Sachbeschädigung ihre Erfahrungen gemacht. Sei es die Terrorserie in Neukölln, Todeslisten bekannter Neonazinetzwerke oder immer mehr rechtsextreme Chatgruppen, die aufgedeckt werden. Die Gefahr kommt immer näher. Sie wird immer deutlicher, brutaler und am Ende auch tödlich.
Dieser Terror mag uns emotional alle treffen. Real trifft er vor allem aber Menschen, die anders aussehen, deren Namen anders klingen, die zum Teil nicht in Deutschland geboren wurden, Menschen mit Migrationshintergrund, Jüdinnen und Juden, Muslimas und Muslime, Homosexuelle und auch Menschen, die sich zum Beispiel in ihrem ehrenamtlichen Engagement für genau diese Menschen in der Demokratie und Freiheit einsetzen. Alle diese Menschen fühlen sich zunehmend unsicher. Sie verlieren das Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden und nicht zuletzt in unseren eigenen Staat.
Sie verlieren das Vertrauen in einen Staat, der ihnen Einigkeit, Recht und Freiheit versprochen hat. Ein Land, in dem jeder ganz unabhängig von seiner Herkunft, seiner Religion oder seiner Sexualität das eigene Glück finden können soll. Wenn wir dieses Versprechen nicht mehr halten können, verlieren wir nicht nur das Vertrauen dieser Menschen, wir verlieren ein Stück unserer eigenen Identität.
Es ist daher unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, den Kampf gegen Rassismus und anderweitige gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu führen. Dazu gehört, dass wir zusammenstehen: zusammenstehen gegen demokratiefeindliche, fremdenfeindliche, hassschürende, freiheitsfeindliche und rückwärtsgebarende radikale Gruppierungen in unserer Gesellschaft und unseren Parlamenten, dass wir uns im Kampf gegen rechtsradikale Politik und rechtsextreme Gewalt nicht auseinanderdividieren lassen.
Genau das können wir mit der gemeinsamen Aufklärungsarbeit in den Ausschüssen zu der Anschlagsserie in Neukölln zeigen, aber das können wir auch noch besser, noch effektiver, noch präventiver. Alle Menschen in unserem Land – sei es in Hanau, in Neukölln oder in Rostock – haben ein Recht darauf, angst- und diskri
minierungsfrei zu leben. Das ist das elementare Versprechen unsers Landes an jeden einzelnen Menschen. Dafür brauchen wir Sicherheitsstrukturen, die unsere Freiheit verteidigen – ohne Wenn und auch ohne Aber.