Guten Morgen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 12. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste, die Zuhörerinnen und Zuhörer und die Vertreterinnen und Vertreter der Medien recht herzlich.
Ich habe zunächst Geschäftliches mitzuteilen, denn am Montag sind folgende sechs Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:
will aus Fehlern nicht lernen: Schulbau stockt, Lehrer (-verbeamtung) und Schulplätze fehlen weiter, Senatorin Busse entmündigt Schulen und bleibt ansonsten abgetaucht“
und Demokratie sind nicht selbstverständlich – Berlin muss den Tag der Luftbrücke ehrwürdig begehen, gerade wenn die Freiheit in Europa in Gefahr ist“
Eine Verständigung über ein Thema ist bislang nicht erfolgt. Daher lasse ich abstimmen, und zwar zunächst über das Thema der Fraktion der SPD. Wer, wie die Fraktion der SPD, eine Aktuelle Stunde mit dem Thema „Berlin: Einwanderungs- und Zufluchtshauptstadt mit Herz“ durchführen möchte, den bitte ich jetzt um sein Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind kleine Teile anderer Fraktionen.
Wer enthält sich der Stimme? – Das sind große Teile anderer Fraktionen. Damit beschäftigen wir uns mit dem Thema der SPD, das ich gleich unter dem Tagesordnungspunkt 1 aufrufen werde. Damit haben die anderen Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde ihre Erledigung gefunden.
Für die heutige Sitzung liegen keine Dringlichkeiten und dementsprechend keine Dringlichkeitsliste vor.
Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die Wahl eines Mitglieds und eines stellvertretenden Mitglieds sowie die Wahl der oder des stellvertretenden Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses zur Untersuchung des
Ermittlungsvorgehens im Zusammenhang mit der Aufklärung der im Zeitraum von 2009 bis 2021 erfolgten rechtsextremistischen Straftatenserie in Neukölln, das ist der Tagesordnungspunkt 14, vorzuziehen und diese Wahlen nach den Prioritäten durchzuführen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Damit ist unsere heutige Tagesordnung so beschlossen.
Auf die Ihnen zur Verfügung gestellte Konsensliste darf ich hinweisen und stelle fest, dass auch dazu kein Widerspruch erfolgt und die Konsensliste damit angenommen ist.
Ich komme zu den Entschuldigungen des Senats und teile Ihnen mit, dass Herr Senator Schwarz aus gesundheitlichen Gründen heute nicht an der Sitzung teilnehmen kann.
Für die Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung. In der Runde der Fraktionen beginnt die Fraktion der SPD, und das ist der Fraktionsvorsitzende Raed Saleh
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine sehr geehrten Herren! Die Bilder von Leid, Zerstörung und Tod, die uns seit dem 24. Februar aus der Ukraine erreichen, sind für uns alle zu einem stetigen grausamen Begleiter im Alltag geworden, und ein Ende dieses Grauens ist nicht in Sicht. Etwa 5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben ihr Land schon verlassen. Viele weitere Millionen sind innerhalb des Landes auf der Flucht.
Bei uns in Deutschland sind inzwischen 830 000 Geflüchtete aus der Ukraine registriert worden. In Berlin liegt die Zahl aktuell bei 55 000, und die Zahl wird noch weiter steigen.
Die Solidarität, die Hilfsbereitschaft und die Empathie, mit der so viele Berlinerinnen und Berliner den Geflüchteten aus der Ukraine begegnen, sie unterstützen und
ihnen auch in ihren Privatwohnungen Obdach geben, bewundere ich sehr. Es ist die Solidarität, die Hilfsbereitschaft und die Empathie gegenüber Menschen in Not, für die Berlin und seine Menschen stehen, die mich immer wieder auf das Neue stolz machen, ein Teil dieser wunderbaren Metropole zu sein.
Auch bin ich stolz darauf, dass die Politik in Sachen Integration und Migration im Jahr 2022 endlich dazugelernt hat. Anstatt sie über Jahre in bürokratische Asylverfahren zu verwickeln und sie monatelang in Gemeinschaftsunterkünften fernab der Gesamtgesellschaft unterzubringen, können die ukrainischen Geflüchteten im Prinzip direkt nach ihrer Ankunft selbst bestimmen, wie sie wohnen, wo sie arbeiten und wo sie die Kinder zur Schule geben. Die Menschen haben Anspruch auf Leistungen. Sie bekommen Unterstützung bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Ihr Arbeitstitel wird rasch anerkannt.
Ankommen können, ein Teil der Gesellschaft werden, den vom Krieg traumatisierten Menschen eine sinnvolle Lebensperspektive bieten, das sind die neuen Leitlinien der bundesdeutschen Migrations- und Integrationspolitik. Eine schnelle Integration ist das Ziel. Endlich machen wir es gemeinsam richtig.
Endlich ist eine schnelle Integration von geflüchteten Menschen das Ziel der gemeinsamen Politik im Bund und in den Ländern. Das ist das Wichtige. Das ist gut. Das ist klug. Dieser Paradigmenwechsel ist absolut notwendig, um nicht dieselben Fehler wie in der Vergangenheit zu wiederholen. Die Geschichte hat uns gezeigt: Wir können nicht davon ausgehen, dass alle Menschen, die zu uns geflohen sind, bald wieder zurückkehren. Das war allerdings über viele Jahrzehnte stets die gesellschaftliche Lebenslüge. Die Gastarbeiter, die Geflüchteten aus dem Libanonkrieg, die Geflüchteten aus dem Jugoslawienkrieg, die Syrer werden irgendwann schon zurückkehren, hieß es immer. Stellen Sie sich selbst einmal die Frage: Würden Sie in eine zerbombte Stadt zurückkehren, während Ihre Kinder bereits in der neuen Heimat in die Schule gehen, eine gute Bildung bekommen, Freunde haben und in Sicherheit und Frieden leben, Sie selbst vielleicht eine Stelle bekommen?
Auch über meinen Vater wurde früher gesagt: „Der geht irgendwann wieder zurück“, als er Ende der Sechziger über Palästina nach Berlin kam. Mein Vater hat schnell gesagt: „Kinder, packt die Koffer aus! Hier bleiben wir, hier ist unsere neue Heimat“. Und schauen Sie: Hier und heute stehe ich vor Ihnen. Wir sind da, und wir werden bleiben. Berlin ist bunt, multikulturell, multireligiös und Heimat der vielen.
[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Sibylle Meister (FDP), Sebastian Czaja (FDP) und Roman-Francesco Rogat (FDP)]
Berlin kann und sollte eine Vorreiterrolle einnehmen, um bei dem Weg hin zu einem vielfältigen Einwanderungsland Deutschland mutig voranzugehen. Es ist daher unsere Pflicht, auf die Tausenden von Menschen zu schauen, die in Berlin leben und teilweise schon vor langer Zeit zu uns gekommen sind, die aber immer noch keine sichere Bleibeperspektive haben. Es sind Geflüchtete unter anderem aus dem ehemaligen Jugoslawien, Afghanistan, Syrien, Palästina, die immer noch mit dem Status einer Duldung leben müssen.
Ich sage ganz deutlich: In Berlin und Deutschland darf es kein Zweiklassensystem für Geflüchtete geben. Wir müssen das System der Kettenduldung endlich ein für allemal beenden und in die Geschichtsbücher verdammen.
Das System der Kettenduldung ist unwürdig, unmenschlich und passt nicht zu Berlin und zur Bundesrepublik des Landes 2022. Ein großes Dankeschön gilt an der Stelle der Regierenden Bürgermeisterin und der Innensenatorin, die gesagt haben: Dieses Thema wollen wir für Berlin zeitnah regeln.
Noch knapp 14 200 Menschen leben aktuell in Berlin mit einer Duldung, die sogenannten „Altfälle“. Wer geduldet ist, ist im Prinzip ausreisepflichtig, die Abschiebung ist lediglich ausgesetzt, ganz gleich, ob der- oder diejenige schon seit 10, 15 Jahren hier leben, hier geboren sind, hier arbeiten, Steuern zahlen oder deren Kinder in die Schule gehen. Dieser Status, der zu einem Leben in permanenter Unsicherheit verdammt, ist unwürdig und beleidigend. Das wusste schon der große deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe.