Protokoll der Sitzung vom 16.07.2003

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil ich das, was in der Debatte gesagt worden ist, ernst nehme, möchte ich zu dem einen oder anderen Punkt noch etwas sagen.

Ich will damit beginnen, womit der Kollege Kretschmann geendet hat. Ich habe es immer als ein besonders hohes Gut empfunden, dass in europäischen Fragen alle demokratischen politischen Parteien in Deutschland weitgehend übereinstimmen. In diesem Sinne habe ich gearbeitet und versucht, die Interessen dieses Hauses wahrzunehmen.

Zum Zweiten: Es geht mir bei der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie doch nicht darum, dass die europäische Ebene hier Standards setzen soll, sondern es geht mir wirklich um den Punkt, dass sich Europa nach meiner Meinung „verschluckt“, wenn es meint, die Gebiete in den einzelnen Gemeinden parzellenscharf abgrenzen zu können. Das ist der Punkt.

Ich nenne jetzt ein Beispiel, das in dieser Woche eine Rolle spielte. Es darf nicht sein, dass die Stadt Karlsruhe auf einem von den Amerikanern freigegebenen Flugplatz, der von vier Straßen und einer Straßenbahnlinie umgeben und erschlossen ist, kein Wohngebiet errichten kann, weil auf diesem Platz nach Ende der Nutzung als Flugplatz ein Biotop entstanden ist.

Ein weiteres Beispiel: Den Gemeinden im Raum Münsingen ist in der Zeit des Nationalsozialismus das gesamte Gelände für den Truppenübungsplatz Münsingen genommen worden. Diese Gemeinden sollten jetzt, nachdem die Bundeswehr diesen Truppenübungsplatz freigibt, wenigstens das Recht haben, darüber zu befinden, wie sie das Gelände nutzen wollen. Sie sollten nicht deshalb, weil es sich um einen Truppenübungsplatz handelt, bei dem sich zwischen den Fahrrinnen der Panzer Biotope entwickelt haben, keine andere Möglichkeit haben, als dies in der jetzigen Form liegen zu lassen.

Solche Entscheidungen sollte man im kommunalen Bereich treffen dürfen – natürlich nur im Rahmen von Gesetzen. Darum geht es mir eigentlich. Ich meine, man müsste darüber Konsens erzielen können.

(Beifall bei der CDU – Zuruf des Abg. Boris Pal- mer GRÜNE)

Ich habe doch nichts gegen Biotope oder gegen Vogelschutz.

Herr Maurer sagte, wenn man eine einheitliche Außengrenze habe, brauche man auch eine einheitliche Zuwanderungspolitik. Das ist im politischen Seminar einer Universität ein Satz, dem wohl niemand widerspricht, und er hat auch seine Logik. Aber wenn die Wirklichkeit so ist, dass nach dem Stranden eines Schiffs in Süditalien die gesamte Schiffsbesatzung nach acht Tagen nicht mehr in Italien ist – nicht in Neapel oder in Turin –, diese Menschen auch nicht nach Lissabon gehen, sondern mit absoluter Sicherheit in unserem Land landen, wenn wir außerdem wissen, auf welchem Parkplatz in Mulhouse der Umstieg vom Omnibus in einzelne Pkws stattfindet, wenn bekannt ist, dass diese Menschen, weil es zwischen Frankreich und Deutschland keine Grenze gibt, in unser Land kommen, weil sie hier günstigere Lebenschancen – Sozialhilfebedingungen, Arbeitsmöglichkeiten – sehen als in anderen Ländern und wir deshalb eine Zuwanderung haben, die hundertfach höher ist – hundertmal höher! – als die anderer Mitgliedsstaaten, dann behalten wir doch nach meiner Meinung ein Interesse daran, dies mitgestalten und steuern zu können.

Wenn wir bei diesen Fragen fremdbestimmt werden, befürchte ich, dass wieder Kräfte hochkommen könnten, die wir in diesem Parlament schon zweimal hatten und nie mehr in diesem Parlament sehen wollen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Herr Maurer hat den „Pralinengipfel“ gerühmt. Ich kann dazu nur sagen: Ich habe ein enges Verhältnis zu Luxemburg und war erst kürzlich beim dortigen Ministerpräsidenten. Aber ich sage auch ganz offen: Wenn es um die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland geht, bin ich lieber an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika als an der Seite Luxemburgs und Belgiens.

(Heiterkeit der Abg. Dr. Inge Gräßle und Seimetz CDU)

Das muss ich offen sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Drexler SPD: Eine typisch europäische Haltung!)

In der Tat! Dieser Zwischenruf ist hervorragend.

(Abg. Drexler SPD: Er passt auch!)

Er gibt mir nämlich die Möglichkeit, zu sagen, dass wir Europa nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika definieren dürfen,

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Drexler SPD: Aber umgekehrt auch nicht!)

wie das im Augenblick in einigen Feuilletons europäischer Tageszeitungen geschieht. Das möchte ich ausdrücklich sagen. Ich glaube, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten, die die gleichen Werte und die gleiche

(Ministerpräsident Teufel)

Überzeugung haben wie wir, ist ein so kostbares Gut wie die europäische Einigung.

(Zuruf des Abg. Capezzuto SPD)

Wir dürfen uns unter gar keinen Umständen in ein Entweder-oder hineinmanövrieren lassen, sondern hier gibt es nur ein Sowohl-als-auch.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Zuruf des Abg. Drexler SPD)

Herr Maurer sagte, wir sollten uns vor allem um die Pflege der deutsch-französischen Beziehungen kümmern. Nichts ist so gut, als dass es nicht verbesserungsbedürftig wäre. Deswegen nehme ich das auf. Aber bitte sehen Sie einmal, was da von Baden-Württemberg aus – und zwar nicht nur offiziell – geschieht: Oberrheinrat, in einem engen Verhältnis regelmäßiger Kontakt zum Elsass. Letzte Woche war die Präsidentin der Region Rhônes-Alpes im Rahmen der Zusammenarbeit der „Vier Motoren für Europa“ da. Die deutschen Ministerpräsidenten haben sich letzte Woche in Berlin zum ersten Mal mit den französischen Regionalpräsidenten getroffen. In Poitiers ist die nächste Sitzung für dieses Jahr vorgesehen; sie wird von einer Arbeitsgruppe vorbereitet. Für die deutsch-französischen Beziehungen auf Länderebene hat in Jahrzehnten niemand so viel geleistet wie die Kultusministerin von Baden-Württemberg – mit Unterstützung des Parlaments, auch mit weitgehender Unterstützung Ihrer Fraktion –, indem wir die Sprache des Nachbarn am Oberrhein eingeführt haben. Das wird in Frankreich in einem Maße beachtet, wie man es kaum für möglich halten würde.

(Beifall bei der CDU)

Wir unterstützen den Gedanken einer gemeinsamen Kulturhauptstadt Europas Karlsruhe/Straßburg. Es gibt eine gemeinsame Lehrerfortbildung deutscher und französischer Lehrer. Wir wollen einen europäischen Distrikt Kehl/Straßburg haben und sind bereit, hier mit Frankreich zusammenzuarbeiten. Wir haben es außerordentlich bedauert, dass unter Bundesverkehrsminister Klimmt, der aus dem Saarland gekommen ist – ich weiß nicht, ob sich noch jemand an seinen Namen erinnert –, von den beiden europäischen Transversalen, die jahrzehntelang von allen politischen Parteien als gleichwertige Verbindungen angesehen wurden – die Verbindung Paris–Metz–Saarbrücken–Ludwigshafen–Mannheim und die Verbindung Paris–Straßburg–Karlsruhe– Stuttgart –, beim Ausbau eine Trasse der anderen vorgezogen worden ist, sodass wir unter großem Ärger im Elsass nun der anderen Entwicklung hinterherhinken. Wir brauchen diese Verbindung im Interesse des Elsasses und Baden-Württembergs.

(Zurufe der Abg. Regina Schmidt-Kühner und Dr. Caroli SPD)

Das ist eine europäische Magistrale, die von größter Bedeutung ist.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Wir haben nicht weniger als 400 Städtepartnerschaften zwischen baden-württembergischen und französischen Städten

und einen regen Schüler- und Studentenaustausch. Das alles wollen wir selbstverständlich weiter pflegen.

Nun haben Sie gesagt, es müsse gleiche soziale Mindeststandards in Europa geben. Das ist eine sehr schöne Theorie. Die Praxis ist, dass Firmen, die einst wegen günstigerer Produktionsbedingungen nach Portugal gegangen sind, inzwischen nach Osteuropa gehen. Die Praxis ist, dass Firmen, wenn wir in Ostdeutschland die 35-Stunden-Woche anstreben, nicht mehr in die neuen Bundesländer, sondern nach Polen, Tschechien und Ungarn gehen. Die Praxis auch innerhalb Europas ist, dass wir eine zunehmende Abwanderung von Unternehmen haben: aus Bayern nach Österreich, aus Baden-Württemberg in die Schweiz. Das ist die Realität, mit der wir uns auseinander setzen müssen. Das andere ist eine schöne Theorie.

Frau Dr. Gräßle, 1 500 Arbeitsgruppen im Umfeld des EUMinisterrats halte ich für genauso schlimm wie 1 000 Arbeitsgruppen zwischen den deutschen Bundesländern und dem Bund. Ich arbeite im Moment daran, die Zahl der Arbeitsgruppen zu reduzieren. In der Tat ist die offene Koordinierung eine offene Flanke. Man sollte sie einschränken und bekämpfen, wo immer dies möglich ist. Wir brauchen eine klare Kompetenzordnung.

Zur Zuwanderung, die Sie auch angesprochen haben, habe ich gerade das Notwendige gesagt.

Dem Kollegen Pfister und allen anderen, die gesprochen haben, danke ich für die Zustimmung und Anerkennung, die ich für meine Arbeit in den letzten Monaten gefunden habe. Er sagte: „Das Paket nicht mehr aufschnüren.“ Das ist auch meine Position. Aber man muss auch bereit sein, eigene Anliegen einzubringen, wenn andere das Paket aufschnüren.

Sie sagen, man dürfe mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht mehr großzügig umgehen. Das ist ganz genau meine Meinung.

Der einzige Punkt, bei dem wir unterschiedlicher Auffassung sind – wirklich der einzige Punkt –, ist die Frage eines Referendums. Ich möchte jetzt nicht zitieren, was Ihr erster Bundesvorsitzender Theodor Heuss zur Volksabstimmung gesagt hat, weil es ein außerordentlich hartes Zitat wäre.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Das dürfen Sie ruhig sa- gen!)

Ich möchte nur sagen: Aus der Erfahrung von Weimar haben wir eben eine andere Verfassungstradition entwickelt, und das Grundgesetz sieht nur in zwei Fällen eine Volksabstimmung vor. Im ersten Fall gilt das bei einer Länderneugliederung. Den zweiten Fall definiert ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nach dem Vertrag von Maastricht: Sinngemäß sagt das Bundesverfassungsgericht, dass eine Volksabstimmung stattfinden muss, sobald ein Übergang stattfindet, der in die Staatsqualität der Bundesrepublik eingreift und diese durch eine europäische Entwicklung hin zu einem Bundesstaat überholt. Das ist auch völlig richtig; aber davon sind wir meilenweit entfernt.

Ich meine, komplizierte Sachverhalte, zumal Verfassungsfragen, bedürfen einer ausgewogenen Beratung. Außerdem

(Ministerpräsident Teufel)

können Referenden durchaus auch extremen Gruppen Tür und Tor öffnen. Drittens ist uns die europäische Integration zu wichtig, um sie unwägbaren Risiken auszusetzen. Aber in dieser Sache kann man unterschiedliche Auffassungen haben. Ich nenne nur einige Gründe, weshalb wir nach meiner Überzeugung nicht zu einer Volksabstimmung kommen sollten.

Herr Kollege Kretschmann, Sie sagten, das Gesetz, das nun zur Daseinsvorsorge in den Gemeinden vorgesehen ist, könne sich auch als Vorteil erweisen. Ich möchte dies ausdrücklich auch als eine Möglichkeit sehen, weil die französische Seite nicht weniger als wir daran interessiert ist, im kommunalen Bereich die Daseinsvorsorge zu sichern. Von ihr ging die Initiative aus.

Aber meine Erfahrung ist: Wenn man in Europa einen Finger reicht, wird einem gleich die ganze Hand genommen. Deshalb bin ich skeptisch. Ich werde den Sachverhalt aber mit Aufmerksamkeit verfolgen und halte die Entwicklung, die Sie als Möglichkeit angesprochen haben, durchaus ebenfalls für denkbar.

Herr Kollege Kretschmann, Sie sagten, Sie hätten gern eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in allen Fragen gehabt. Über Außenpolitik haben wir schon gesprochen. Reden wir beispielsweise einmal über die Finanzierung der Europäischen Union. Wir haben in Deutschland doch die Erfahrung gemacht,

(Abg. Rückert CDU: Länderfinanzausgleich!)

dass wir in Fragen des Länderfinanzausgleichs keinen Boden unter die Füße bekommen, weil die Mehrheit der Länder Empfängerländer und die Minderheit Zahlerländer sind. Wenn in der Europäischen Union jedes beliebige Programm mit Mehrheit beschlossen werden könnte, das dann von ganz wenigen Ländern, vor allem vom Hauptnettozahlerland Deutschland, bezahlt würde, ohne dass wir darauf noch Einfluss hätten, dann kann ich nur sagen: Ich bin gegen jeden Nationalismus, aber in zentralen Fragen darf man nationale Interessen wahrnehmen. Das ist wirklich nicht unzulässig. Das möchte ich an diesem Beispiel klar machen.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Hofer FDP/ DVP)

Europa müsse in der Außenpolitik mit einer gemeinsamen Stimme sprechen. Das wünsche ich mir wirklich! Ich muss aber sagen: Wir sind noch weit davon entfernt, dass sich beispielsweise Großbritannien oder Deutschland in Fragen von Krieg und Frieden, auch nach der Erfahrung des IrakKriegs, einem Votum unterwerfen würden, das nicht ihrer jeweiligen Überzeugung entspricht. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Europäische Institutionen sind hilfreich; aber da müssen wir, glaube ich, noch viele inhaltliche Diskussionen führen.