Protokoll der Sitzung vom 06.10.2010

wenn Gegner des Projekts dem Ministerpräsidenten vorwer fen, er wolle Blut sehen, dann steht mehr auf dem Spiel als die Auseinandersetzung um diesen Bahnhof.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der CDU und der FDP/DVP)

Diese Entwicklung reiht sich ein in einen lang anhaltenden Prozess des Vertrauensverlusts in der Bevölkerung, der Des illusionierung der Menschen über Politik und ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen. Dies wird jetzt durch die Debatte über S 21 beschleunigt.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Deswegen sind Sie abgesprungen?)

Schon im vergangenen Jahr hat die Bertelsmann Stiftung fest gestellt, dass 70 % der Bevölkerung im Hinblick auf ihr Ver trauen in die politischen Mandatsträger als „weitgehend re signiert“ eingeschätzt werden müssen. Die Untersuchung spricht von einem „breitflächigen Vertrauensverlust“. Offen bar bedarf es nur wenig, um von dort aus den Schritt zu jener unseligen Aggression zu tun, die in der Debatte über „Lügen pack“, „Demokratiefeinde“ etc. zum Ausdruck kommt.

Deshalb sage ich Ihnen ganz ernsthaft: Wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Demokratie vom Ver trauen der Bürgerinnen und Bürger in das Verfahren lebt, das zu politischen Entscheidungen führt. Dieses Vertrauen ist ge fährdet, wenn sich bei allzu vielen Bürgern der Eindruck fest setzt, dass sie mit ihren Argumenten, mit ihren Ängsten und Einwänden nicht ernst genommen werden.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sind Sie noch für Stuttgart 21?)

Deshalb wollen wir – das sollten wir alle tun – offensiv der Auffassung gegensteuern,

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sind Sie dafür, oder sind Sie dagegen? Sagen Sie es doch einmal!)

dass die Leute über ihre Köpfe hinweg regiert werden. Gera de bei Stuttgart 21 hat sich bei vielen Bürgerinnen und Bür gern nicht nur in Stuttgart die Meinung verfestigt, sie seien nicht befragt worden, sie hätten angeblich keinen Einfluss auf die Entwicklung gehabt. Dabei geht es nach Ansicht vieler Menschen im Land nicht mehr nur um das Für und Wider die ses Projekts, sondern um ein grundlegendes Gefühl des Miss trauens, eine Vertrauensstörung nach dem Prinzip „Wir da un ten, ihr da oben“. Deshalb geht es eben nicht nur um Stutt gart 21.

Ich will aber deutlich sagen: In der Sachfrage stehen wir als SPD weiter zum Projekt Stuttgart 21, zu der Neubaustrecke und den damit verbundenen großen Chancen.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der CDU und der FDP/DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Oh! Schön!)

Genauso deutlich sage ich Ihnen: Kein Bauvorhaben, kein In frastrukturprojekt ist es wert, dass eine Gesellschaft ihren in neren Zusammenhalt verliert.

(Beifall bei der SPD – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Okay!)

Deshalb ist es höchste Zeit, dass die Regierenden einen Schritt auf die Regierten zugehen. Die demokratische Legitimation von S 21 steht außer Zweifel. Aber die Akzeptanz des Pro jekts bröselt und bröselt. Deshalb bedarf es einer zusätzlichen Legitimation für dieses wichtige Infrastrukturvorhaben.

(Zuruf des Abg. Dr. Reinhard Löffler CDU)

Wir von der SPD haben deshalb den Vorschlag gemacht, dass wir mit Ihrer politischen Unterstützung, weil es um die ge meinsame Sache, um unser Land geht, schnellstmöglich eine landesweite, verbindliche Volksabstimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke und die Landesbeteiligung daran durchführen und dass bis dahin ein Baustopp erwirkt wird. Damit haben wir einen Weg aufgezeigt,

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Eiertanz!)

wie dieser Volksentscheid möglich ist.

(Zuruf von der CDU: Das geht doch nicht!)

Vor allem haben wir einen Weg aufgezeigt, wie in diesem Land wieder Vernunft, Sachargumente und Versöhnung vor herrschen können.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Meine Erwartung an die Landesregierung – an Sie, Herr Map pus – ist, dass Sie sich nicht hinter juristischen Argumenten verschanzen, sondern sagen, ob Sie eine Volksabstimmung wollen oder ob Sie sie nicht wollen. Es handelt sich in dieser Situation um eine eminent politische Entscheidung.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Auf dem Weg zu einer solchen Volksabstimmung ist neben ei nem Baustopp selbstverständlich jedes Dialogforum und je der Schlichter willkommen. Insofern begrüße ich auch, dass sich Herr Geißler bereit erklärt hat, hier einzusteigen.

Es ist wichtig, dass Kosten, Argumente, Gutachten und Ge gengutachten auf den Tisch kommen, dass man sie gemein sam in Augenschein nimmt, dass sich die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes damit in der Sache auseinandersetzen können.

Ich sage aber genauso deutlich: Dies darf kein Scheinangebot und kein Placebo sein, sondern muss dazu führen, dass die Menschen auch das letzte Wort über diese Entscheidung be kommen. Denn wer gute Argumente hat, meine sehr verehr

ten Damen und Herren, braucht sich vor dem Volk nicht zu verstecken.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Nach nüchterner Abwägung ist die SPD unverändert der Auf fassung, dass es für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke gute Argumente gibt. Der Herr Ministerpräsident hat sie in einem Kompendium dankenswerterweise dargestellt.

Ich will nur noch einmal deutlich machen, dass für uns Stutt gart 21 und die Neubaustrecke in ein Konzept eingebettet sind, bei dem es darum geht, den Schienenverkehr im gesamten Land voranzubringen, und zwar nicht nur durch S 21 selbst und die damit verbundene Verkürzung von Fahrzeiten, son dern auch durch den Ausbau der Rheintalschiene – drittes und viertes Gleis – und den schrittweisen Ausbau von Südbahn und Gäubahn.

Wir brauchen ein Gesamtkonzept für die Schieneninfrastruk tur im gesamten Land. Wir von der SPD werden beim Bund auch deutlich machen: Ja, S 21 ist wichtig, die Neubaustrecke ist wichtig. Aber wir kämpfen genauso für die Rheintalschie ne, für eine menschenfreundliche Trassenführung dort, für die Strecke Mannheim–Frankfurt, für die Südbahn und die Gäu bahn. Unser Wirtschaftsstandort kann auf eine ausreichende Schieneninfrastruktur nicht verzichten, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der CDU und der FDP/DVP)

Ich habe die Fahrzeitverkürzung schon als einen wesentlichen Punkt genannt, weshalb wir S 21 unterstützen. Die Kapazität des Bahnknotens Stuttgart wird nach unserer Überzeugung durch den Umbau des Bahnhofs verbessert. Der Kopfbahnhof ist schon aufgrund der Zahl der Zufahrtsgleise nicht so leis tungsfähig. Wir glauben, dass der neue Bahnhof auf den Fil dern für den Fernverkehr, aber vor allem auch für den Regio nalverkehr eine wichtige Verbesserung bringt.

Schließlich sollten wir gerade auch in unserer Landeshaupt stadt die Chancen für die Stadtentwicklung, die durch S 21 geboten werden, offensiv nutzen. Gerade hier offenbart sich das gesamte Versagen des Oberbürgermeisters Schuster; denn in den letzten Jahren haben viele Stuttgarterinnen und Stutt garter den Eindruck gewonnen, dass die Neugestaltung von Stadtquartieren mehr von Großinvestoren als von den Bürge rinnen und Bürgern dieser Stadt vorangetrieben wird. Dieser Eindruck führt auch dazu, dass die Chance von Stuttgart 21 für den Städtebau gar nicht gesehen wird. Vielmehr haben die Bürgerinnen und Bürger Angst davor, dass weiterhin Beton klötze in die Stadt hineingelegt werden.

Deshalb ist es unerlässlich, dass wir bei dieser Neuordnung des Stadtquartiers endlich auch die Bürgerinnen und Bürger zu Wort kommen lassen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Schließlich ist es auch für das Gesamtgefüge der Stadt gut, wenn der Schienenriegel, den das Bahnhofsvorfeld in die Stadt gelegt hat, aufgegeben wird.

Ich möchte aber auch deutlich sagen, dass wir die Alternativ konzepte, die in den verschiedenen Stadien diskutiert worden sind, ernst genommen haben. Aber wir müssen feststellen, dass sich die sogenannten K-21-Befürworter in Widersprüche verheddern und dass immer wieder unterschiedliche Varian ten auf den Tisch gelegt worden sind.

Deshalb stellen sich z. B. die Fragen: Gibt es Schnellzüge zum neuen Flughafenbahnhof oder doch nur die S-Bahnen?

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Es gibt nur die S-Bah nen!)

Ist der Abstellbahnhof weiterhin in der Stadt, oder wird er doch in Untertürkheim sein? Diese beiden Beispiele sollen reichen. K 21 ist nicht ausgereift und hat den Status einer Blei stiftskizze nicht verlassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU)

Aufgrund der Planungen ist inzwischen deutlich geworden, dass S 21 mit der Neubaustrecke Ulm–Wendlingen verknüpft ist. Ich bedaure es daher sehr, dass die Grünen von dem Pro jekt dieser Neubaustrecke inzwischen Abstand genommen ha ben. Denn noch im August vergangenen Jahres hieß es, dass die verkehrliche Notwendigkeit der Schnellbahntrasse nach Ulm unbestritten sei und dass sich die Grünen dazu bekennen. Inzwischen gibt es ein Gutachten, dessen Qualität sehr unter schiedlich eingeschätzt wird.

Die Grünen sind vom Konzept dieser wichtigen Neubaustre cke abgerückt. Daher müssen sie sich fragen lassen: Was wollt ihr denn? Wollt ihr weiterhin ICEs und weitere Züge über die alte Filstaltrasse fahren lassen? Wollt ihr eine neue Variante des Projekts der Neubaustrecke, und, wenn ja, wie? Oder wollt ihr nicht doch eine Neubaustrecke haben, die zugegebener maßen Geld kostet, weil es bei uns nun einmal die Schwäbi sche Alb gibt und nicht die norddeutsche Tiefebene?

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Über all dies, über das Für und Wider, könnten sich, so mei ne ich, die Bürgerinnen und Bürger ein eigenes Bild machen. Wenn es uns gelingt, dass es nicht mehr um die Fragen geht, ob sich Menschen machtlos fühlen, ob über ihre Köpfe hin weg entschieden wird, sondern wenn es um Sachargumente geht und diese dann das letzte Wort haben, dann bin ich da von überzeugt, dass die Bühne frei für gute Argumente ist.

Dann müssen wir auch über den Bauzustand der Neubaustre cke und des Projekts S 21 abstimmen. Dann wird nicht über ominöse Alternativtrassen abgestimmt, sondern dann wird über den Ausstieg aus diesem begonnenen Projekt abge stimmt. Ich bin der Überzeugung, dass die Bürgerinnen und Bürger des Landes meinen, dass es besser ist, viel Geld – zu gegeben – für einen neuen Bahnhof und eine Neubaustrecke auszugeben, als viel Geld für den Abbruch des Projekts aus zugeben, dessen Kosten am Land hängen bleiben.

Deshalb meine ich: Wir sollten mit den Bürgerinnen und Bür gern in diesem Punkt ehrlich umgehen. Dies fordere ich auch von den Gegnern, auch von den Grünen ein.

Die Proteste haben ihre Legitimation und ihre Argumente. Aber die Grünen haben die Gegner ein Stück weit ins politi

sche Niemandsland geführt, weil sie nicht deutlich gemacht haben, wie der Weg mit einer Bürgerbeteiligung aussieht, und nicht deutlich gemacht haben, dass ein Ausstieg natürlich mit Kosten verbunden ist. Auch haben sie nicht gesagt, wie ein Ausstiegsszenario konkret aussehen soll.