Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Zustandekommen dieser Enquetekommission gleicht fast einer Zangengeburt.
Man kann sich schon fragen, meine Damen und Herren, und kann sich einen eigenen Reim darauf machen, warum z. B. niemand von den Grünen in den Sommermonaten auf uns zugekommen ist, obwohl klar ist, dass ich mich seit Monaten, ja seit Jahren mit dem Thema Weiterbildung und der Einsetzung einer Weiterbildungsenquete beschäftige.
Man kann sich auch fragen, warum die FDP/DVP das offensichtlich über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg zwischen CDU und Grünen abgestimmte Papier erst nach der letzten Sitzung des Schulausschusses Mitte September vorliegen hatte. Derartige Kommunikationsdefizite sind wohl kaum der Kategorie „Dumm gelaufen“ zuzurechnen; das Ganze ist auch nicht zufällig so gelaufen. Es ist ein „Techtelmechtel“ – ein Schelm, der Böses dabei denkt!
Für uns jedenfalls war völlig klar, dass wir uns innerhalb unseres Bildungsaufbruchs intensiv und umfassend dem Weiterbildungsbereich zuwenden werden. Die Einsetzung einer Enquetekommission zum Thema Weiterbildung war für mich immer das zentrale Instrument.
Nachdem nun zwei konkurrierende Anträge vorlagen – einer von CDU und Grünen, dem die FDP/DVP dann offenbar beigetreten ist, und einer von uns –, war klar: Zwei Kommissionen kann es nicht geben; das wäre blanker Unsinn. Es musste also ein gemeinsamer, fraktionsübergreifender Einsetzungsantrag her.
Diesem nicht ganz einfachen Unterfangen haben wir uns gestellt. Dabei ist ein Einsetzungsauftrag herausgekommen, der von allen Fraktionen getragen wird. Wir haben wechselweise Federn lassen müssen, aber wir haben es, wie ich meine, geschafft, dass sich alle Fraktionen in den wesentlichen Punkten wiederfinden.
Für uns stehen persönliche Entwicklung, sozialer Zusammenhalt und Beschäftigungsfähigkeit weiterbildungspolitisch in einem engen Zusammenhang. Deswegen sind die allgemeine, die berufliche und die politische Weiterbildung gleichermaßen wichtig und zu berücksichtigen. Aber in kaum einem anderen Politikbereich klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei der Weiterbildung. Fast parallel zu dem immer wieder hervorgehobenen riesigen Bedeutungszuwachs der Weiterbildung und des lebenslangen Lernens wurde die öffentliche Förderung in den letzten zehn, zwölf Jahren in Baden-Württemberg mehr als halbiert. Dabei gibt es
auch von wissenschaftlicher Seite überhaupt keinen Zweifel daran, dass in Deutschland, wenn die Unterinvestition in das lebenslange Lernen weiter anhalten sollte, kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum entstehen kann.
Der Deutsche Volkshochschul-Verband hat schon 2005 die Politik und die Wirtschaft aufgefordert, ausreichend Mittel für eine Weiterbildungsinitiative zur Verfügung zu stellen, damit der größte Bildungsbereich seine „Schubkräfte“ – wie er es genannt hat – für mehr Wachstum, Produktivität und Chancen des Einzelnen in der Gesellschaft voll entfalten kann. Das ist eine Forderung, meine Damen und Herren, die in der Krise noch an Wichtigkeit gewinnt – zumal es in der Weiterbildung eine klare soziale Spaltung gibt. Menschen, die über ein niedriges Niveau an schulischer und beruflicher Ausbildung verfügen, nehmen nur zu 20 % an Weiterbildungsmaßnahmen teil; bei den Menschen mit höherer Bildung sind es über 60 %, und bei Menschen mit Migrationshintergrund liegt der Anteil gerade einmal bei 18 %, wobei es sich im Wesentlichen um die Inanspruchnahme von Sprachkursen handelt.
Mit fortschreitendem Alter nimmt die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen deutlich ab. Was die berufliche Weiterbildung angeht, so sind die Aufgaben der Kindererziehung und die Probleme aufgrund mangelnder Betreuungsangebote für Frauen nachweisbar ein Hemmnis. Zudem gibt es eine einseitige Verschiebung der Finanzierung zulasten der Teilnehmenden. Diese Tendenz führt zu einer schleichenden Privatisierung und zu einer Reduzierung von Angeboten, die sich nicht selbst tragen, die sich, betriebswirtschaftlich gesehen, nicht rechnen, z. B. in der politischen Bildung.
Unter den gegebenen Bedingungen verschärft Weiterbildung eher die Auslese und verstärkt Ungleichheit, statt sie auszugleichen – und dies vor dem Hintergrund, dass Weiterbildung bei uns Verfassungsrang hat. Es muss uns allen also um Chancengleichheit gehen, um bessere Bildung für alle, wie wir das auch in unserem Papier „Bildungsaufbruch in Baden-Würt temberg“ formuliert haben. Das übergeordnete Ziel muss sein, die Beteiligung der Menschen an Weiterbildung zu steigern, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihrem Milieu, ihrem Geschlecht, ihrem Einkommen oder ihrem Alter.
Alle Menschen in Baden-Württemberg sollen ihre individuellen Begabungs- und Leistungspotenziale besser entfalten können. Das meine ich in einem sehr umfassenden Sinn. Ich warne deswegen als Bildungspolitiker und auch als jemand, der im kirchlichen Raum engagiert ist, davor, Bildungsdebatten und auch Weiterbildungsdebatten einseitig durch funktionale Optimierungsstrategien dominieren zu lassen.
Natürlich ist der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit auch für uns ein zentrales Anliegen. Darauf haben sich unsere Anstrengungen zu richten. Aber es geht eben auch – und, meine Damen und Herren, ich meine, nicht zuletzt – um ein individuell gelingendes Leben. Unter dieser Gesamtperspektive ist Weiterbildung ein Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Die Weiterbildungslandschaft in Baden-Württemberg braucht hierfür entsprechende Rahmenbedingungen: plurale Trägerstrukturen, passgenaue Angebote und eine solide Finanzierung. Darum muss es gehen.
Erfolg wird diese Enquetekommission bei dem vorgegebenen engen Zeitlimit nur dann haben, wenn sie systematisch vorgeht. Dazu gehört eine ehrliche Bestandserhebung, die auch Problemanzeigen einschließt und sich an den neuralgischen Punkten der Finanzierung nicht vorbeimogelt. Dazu gehört auch eine umfassende Bedarfsanalyse, wobei die Ermittlung von Bedarf nicht dasselbe ist wie das Aufsummieren unterschiedlicher Bedürfnisse von Individuen oder von Interessengruppen.
Und schließlich geht es um eine Sammlung von zukunftweisenden Maßnahmenvorschlägen, an denen die Akteure beteiligt werden und die auch über reine Parlamentsroutine hinausgehen.
Herr Abg. Bayer, Sie haben gerade gesagt, nach Meinung der SPD und nach Ihrer Meinung solle Weiterbildung Teil der Daseinsvorsorge sein. Ist es denn richtig, dass der Anwalt die Weiterbildung und die Fortbildung künftig vom Staat bezahlt bekommt?
Ich denke, das brauche ich in Anbetracht dessen, was ich gesagt habe, nicht zu kommentieren. Ich habe gesagt: Unter dieser Gesamtperspektive ist Weiterbildung ein Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Sie ist ein Bestandteil davon – neben vielem anderen auch, genauso wie die Öffentlichkeit einen Gesamtbildungsauftrag hat.
Ich möchte, meine Damen und Herren, quasi als Leitplanken für die Arbeit in der Kommission abschließend fünf Fragenkomplexe nennen.
Erstens: Wie kommt man zu einer Angebotsstruktur, die sich mehr an Kompetenzen als an Themen orientiert? Das ist ein Paradigmenwechsel, der in anderen Bildungsbereichen, z. B. in der Schule, schon eingeleitet wurde. Denn es gibt einen zunehmenden Bedarf an persönlichen, sozialen und interkulturellen Kompetenzen, nicht nur, aber auch als Grundlage für Fachkompetenz. Dies kann nur in einer Verzahnung von allgemeiner und beruflicher Weiterbildung passieren.
Zweitens: Wie erreicht man in der Aus- und Weiterbildung besser – und nicht nur besser, sondern auch nachhaltig – bildungsferne Schichten? Wie kann in diesem Zusammenhang der zweite Bildungsweg gesichert und ausgebaut werden, und welche Rolle können die beruflichen Schulen dabei übernehmen?
Drittens: Wie kommen wir in Baden-Württemberg von der Schlusslichtposition in der öffentlichen Finanzierung weg und erreichen auf Sicht zumindest einen bundesdeutschen Durch
schnittswert? Auch die Frage nach einer besseren sozialen Absicherung für freiberufliche Dozentinnen und Dozenten und nach einer Reduzierung der großen Anzahl von prekären Beschäftigungsverhältnissen muss meines Erachtens auf den Tisch.
Viertens: Wie können drittmittelfinanzierte Modelle verstetigt werden, damit es in der Fläche und nicht nur in den Ballungsräumen gerade in neuen und stark anwachsenden Aufgabenfeldern zu Strukturen kommt? Ich nenne hier ausdrücklich zwei Aspekte: erstens eine systematisch zu implementierende Elternbildung und zweitens eine Bildungsberatung oder Bildungsbegleitung – unabhängig, biografieorientiert und öffentlich mitfinanziert, Herr Kollege.
Schließlich fünftens: Wie kommen wir in Baden-Württemberg zu verbesserten gesetzlichen Rahmenbedingungen, die z. B. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen bezahlten Bildungsurlaub ermöglichen, wie dies in zwölf von 16 Bundesländern der Fall ist?
Meine Damen, meine Herren, bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen während der konkreten Kommissionsarbeit ist mir eines besonders wichtig: Eine Wiederholung der faktischen Folgenlosigkeit der Tätigkeit wie bei der letzten Enquetekommission „Demografischer Wandel“ mit ihrer Ansammlung von unverbindlichen Prüfaufträgen und ohnehin schon geplanten Aktivitäten darf es nicht geben. Wir wollen mit dieser Enquetekommission eine Initialzündung – eine Initialzündung! – für eine umfassende Weiterbildungsoffensive, die die allgemeine, die politische und die berufliche Weiterbildung gleichermaßen mit einschließt. Dafür werden wir uns starkmachen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen dafür danken, dass wir es auf den letzten Metern geschafft haben, einen gemeinsamen Einsetzungsantrag hinzubekommen, und heute die Enquetekommission zur beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie zur Allgemeinbildung einsetzen werden.
Ich möchte – weil Sie, Herr Bayer, das angesprochen haben – noch eines betonen: Es war sicher ein steiniger und holpriger Weg, bis wir zu diesem Antrag gekommen sind. Der Antrag ist meines Erachtens inhaltlich sehr gut; der Streit um diesen Antrag hat sich rentiert. Ich denke, es war auch richtig, dass wir nicht weiter den Weg beschritten haben, den Slogan eines großen Schweizer Kräuterbonbonherstellers weiterzuverfolgen,
sondern gesagt haben: Wir formulieren einen gemeinsamen Antrag und bringen ihn hier ein. Das ist wichtig.
Herr Kollege Bayer, mir ist auch ein weiterer Punkt wichtig: Diese Legislaturperiode ist meine erste in diesem Landtag, und mein politisches Selbstverständnis, was die Offenheit und
die Diskussionsfreudigkeit auch über Fraktionsgrenzen hinweg angeht, ist bei mir so ausgeprägt, dass ich nicht unbedingt immer in den Kategorien Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen denke. Ich meine, für uns als Parlament insgesamt ist es wichtig, dass wir, wenn wir gemeinsame Interessen verfolgen, die Sprachlosigkeit, die manchmal besteht, überwinden.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Bei uns gibt es auch nette Menschen! – Zustimmung der Abg. Hei- derose Berroth FDP/DVP)
Dazu muss ich auch sagen: Wir als Grüne sind nicht das Anhängsel der SPD, sondern wir sind in diesem Punkt auch offen, die Diskussion zu führen.
Das möchte ich einfach vorausschicken. Denn es hilft uns nicht weiter, hier vergangene Schlachten zu schlagen.
Warum ging es uns darum, diese Enquetekommission auch sehr stark aus unserer Fraktion heraus voranzutreiben? Warum ist eine weiterbildungsaktive Gesellschaft für die Menschen und auch für unser Land so wichtig? Dies ist die entscheidende Frage, um die es hier geht. Kein anderes Bundesland ist heute so stark von Industrie und von Export geprägt wie Baden-Württemberg und damit auch besonders von den rasanten technologischen und weltwirtschaftlichen Veränderungsprozessen betroffen. Obwohl Baden-Württemberg im Vergleich zu den anderen Bundesländern den höchsten Anteil an Un- und Angelernten unter den Beschäftigten hat, haben die Umbrüche im industriellen Sektor bisher noch nicht zu einer vergleichbaren Beschäftigungskrise wie in den anderen Bundesländern geführt. Das muss man einfach feststellen.