Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 90. Sitzung des 14. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie. Ich darf Sie bitten, die Plätze einzunehmen und die Gespräche einzustellen.
Urlaub für heute habe ich Frau Abg. Lösch sowie den Herren Abg. Kübler, Stratthaus und Dr. Wetzel erteilt.
Aus dienstlichen Gründen haben sich Herr Minister Professor Dr. Reinhart, Herr Minister Stächele und Herr Minister Pfister entschuldigt.
Meine Damen und Herren, nach § 6 Abs. 3 des Gesellschaftsvertrags der Landesstiftung setzt sich deren Aufsichtsrat je zur Hälfte aus Mitgliedern des Landtags und aus Vertretern der Landesregierung zusammen. Herr Ministerpräsident Mappus, der bisher als Vertreter des Landtags im Aufsichtsrat der Landesstiftung war, wird diesem Gesellschaftsorgan künftig amtsbezogen als Vertreter der Landesregierung angehören, sodass wir einen neuen Vertreter des Landtags zu bestimmen haben. Die CDU-Fraktion, die hierfür das Vorschlagsrecht besitzt, schlägt Herrn Abg. Peter Hauk vor. – Ich gehe davon aus, dass dagegen keine Einwendungen erhoben werden. Dann ist es so beschlossen.
Herr Staatssekretär Dr. Stefan Scheffold, der bisher ebenfalls auf Vorschlag des Landtags Mitglied im Aufsichtsrat der Landesstiftung war, hat mitgeteilt, dass er sein Aufsichtsratsmandat niederlegt. Auch für die Nachbesetzung dieser Position ist die CDU-Fraktion vorschlagsberechtigt. Sie schlägt Frau Abg. Elke Brunnemer vor. Kann ich davon ausgehen, dass Sie auch diesem Wahlvorschlag zustimmen? – Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Herr Abg. Dr. Stefan Scheffold wurde vom Landtag am 26. Juli 2007 als stellvertretendes Mitglied unseres Parlaments in den 3. Verwaltungsrat des Südwestrundfunks entsandt. Die Amtszeit des 3. Verwaltungsrats beträgt fünf Jahre und endet voraussichtlich am 17. Januar 2013.
Mit Schreiben vom 24. Februar 2010 hat Herr Abg. Dr. Scheffold mitgeteilt, dass er aufgrund seiner Ernennung zum Staatssekretär mit sofortiger Wirkung sein Amt als stellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrats des Südwestrundfunks niederlegt.
Nach § 14 Abs. 7 des Staatsvertrags über den Südwestrundfunk ist deshalb vom Landtag für den Rest der Amtszeit des Herrn Abg. Dr. Scheffold im Verwaltungsrat des Südwestrundfunks ein Nachfolger zu bestimmen. Das Vorschlagsrecht für diese Nachbesetzung steht der Fraktion der CDU zu, die dafür Herrn Abg. Helmut Walter Rüeck benennt.
Kann ich davon ausgehen, dass Sie diesem Wahlvorschlag zustimmen? – Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, der erste Jahrestag des Amoklaufs in Winnenden und Wendlingen prägt unsere heutige Plenarsitzung. Es geht um die Folgerungen aus einem grauenhaften Geschehen, das beschreibbar, aber nicht erklärbar ist. Das bedeutet auch: Wir sind in dieser Stunde menschlich und politisch außerordentlich gefordert.
Am 11. März 2009 erschoss ein 17-jähriger ehemaliger Realschüler zunächst in seiner früheren Schule und dann auf der Flucht insgesamt 15 Menschen mit einer Waffe seines Vaters. Er hat Leben ausgelöscht, Unwiederbringliches zerstört. Er hat den Angehörigen unendliches Leid zugefügt, eine Schule traumatisiert und kummervolle Schatten auf zwei Städte gelegt.
Heute Vormittag bei der bewegenden Gedenkstunde mit dem Herrn Bundespräsidenten in Winnenden konnten wir zum Ausdruck bringen, dass unser Entsetzen und unser Mitgefühl nicht verblasst sind. Wir haben denen Beistand geleistet, die angesichts des markanten Datums besonders quälend spüren, dass ihr Dasein niemals mehr sein kann wie zuvor.
Gerade weil der Täter so jung war, hat seine Tat grundsätzliche Fragen gestellt: Fragen nach den tieferen Ursachen, Fragen nach der Verantwortung im weitesten Sinn. Uns, dem Landtag von Baden-Württemberg, oblag auf spezifische Weise, mögliche Kausalketten aufzudecken, komplexe Denk- und Handlungsmuster zu durchleuchten, gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu benennen, konkrete Gegenstrategien und Maßnahmen zu identifizieren. Wir haben deshalb am 22. April 2009 den Sonderausschuss „Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen: Jugendgefährdung und Jugendgewalt“ eingesetzt.
Dass wir heute, am 11. März 2010, den Bericht des Sonderausschusses erörtern und über die erarbeiteten Beschlussempfehlungen befinden, nimmt uns zusätzlich in die Pflicht, nichts abzuhaken, nichts als erledigt anzusehen und sensibel zu bleiben.
Bericht und Beschlussempfehlung des Sonderausschusses „Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen: Jugendgefährdung und Jugendgewalt“ – Drucksache 14/6000
Ich darf zu diesem Tagesordnungspunkt vor allem die heute an unserer Sitzung teilnehmenden Angehörigen der Opfer sehr herzlich willkommen heißen.
Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Kernthema der Politik ist, den bei uns lebenden Menschen größtmögliche Sicherheit zu gewährleis ten. Leib und Leben eines jeden Einzelnen zu schützen und somit das Ganze zu sichern war in der Antike Anstoß zur Gründung der griechischen Polis, von der sich die Worte Politik und Politiker direkt herleiten. Die Gefahr, vor der der Einzelne durch die Gemeinschaft geschützt werden sollte, lag einst in erster Linie in äußeren Aggressoren. Bei Amokläufen haben wir es mit einer Bedrohung zu tun, die innerhalb der Gesellschaft entsteht.
Selten geht es in der Parlamentsarbeit so konkret um diesen politischen Nukleus. Oft, allzu oft sind wir aufgefordert oder fordern uns selbst auf, Lebensbereiche, die bereits stark ausdifferenziert sind, weiter zu optimieren.
Keiner von uns hätte noch vor einem Jahr und einem Tag daran gedacht, dass wir uns dieser Aufgabe stellen mussten und weiterhin müssen. Wir taten dies als direkte politische Reaktion auf einen Amoklauf – im Übrigen als erstes Parlament in Deutschland in dieser Tiefe und Breite.
Leben zu schützen rechtfertigt höchsten Einsatz. Einsatz zu bringen waren die 18 Mitglieder des Sonderausschusses „Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen: Jugendgefährdung und Jugendgewalt“ in den vergangenen zehn Monaten gern bereit, auch wenn wir alle auf den schrecklichen Anlass sehr, sehr gern verzichtet hätten.
Der Amoklauf in Winnenden und Wendlingen, der vor genau einem Jahr stattgefunden hat, ist noch immer unfassbar und unbegreiflich. Nichts ist mehr, wie es war – auch wir sind es nicht.
Geleitet von der Trauer um die unschuldigen Opfer, vom Mitgefühl mit den Hinterbliebenen, vom Respekt vor der Arbeit der professionellen und ehrenamtlichen Helfer und von der Verantwortung für die in Baden-Württemberg lebenden Menschen – speziell für die Lernenden und Lehrenden – hat der Landtag den Sonderausschuss im April letzten Jahres einstimmig eingesetzt.
Die Mitglieder des Sonderausschusses haben ihren Beitrag ebenfalls ganz in diesem Geist geleistet. Uns war und ist bewusst, dass die Aufarbeitung des Amoklaufs in Winnenden und Wendlingen für parteipolitisches Kalkül oder gar politisches Taktieren denkbar ungeeignet ist. Deshalb haben wir die Ausschussarbeit gemäß dem Einsetzungsbeschluss konsensual angelegt und so auch weitestgehend durchgeführt.
Dort, wo wir die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Haltung aller sahen, haben wir die Chance ergriffen und den Konsens gesucht und gefunden, auch wenn es mehr als einmal ein zähes Ringen um die beste Lösung war.
Dass es ein schmaler Grat sein würde, auf dem wir uns zwischen ganz unterschiedlichen Erwartungshaltungen bewegen würden, war uns klar. Umsetzbare Entscheidungen wollten wir vorbereiten und nicht Wunschvorstellungen nachgehen. Ambitioniert und realistisch zugleich setzten wir uns das Ziel, einen wirksamen Beitrag zu leisten, um Amokläufe zukünftig weniger wahrscheinlich werden zu lassen.
Amokläufe ganz verhindern zu können ist leider unmöglich. Wir wollten nicht einmal den Anschein erwecken, dass wir dies für möglich hielten. Die Täterprofile sind dafür zu unterschiedlich, ebenso die bisherigen Tatverläufe.
Der Sonderausschuss hat sich in seinen Möglichkeiten nicht überschätzt. Ich bitte Sie nun, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Ergebnisse unserer Arbeit aber auch nicht zu unterschätzen. Dass die dem Landtag nun vorgeschlagenen Maßnahmen – bestehend aus den von uns bewerteten Handlungsempfehlungen des Expertenkreises der Landesregierung, eigenen Handlungsempfehlungen und weiter reichenden Handlungsfeldern – geeignet sind, das Risiko eines Amoklaufs zu reduzieren, ist meine feste Überzeugung.
Diese Erkenntnis habe ich in den vergangenen zehn Monaten in den zwölf Sitzungen des Sonderausschusses erlangt, speziell in den fünf öffentlichen Anhörungen mit insgesamt 16 Expertinnen und Experten, aus den Stellungnahmen von einem guten Dutzend Vertreter von Verbänden, Institutionen und Kirchen, bei der intensiven Beschäftigung mit dem Schlussbericht des Expertenkreises unter der Leitung von Herrn Dr. Andriof und in vielen Gesprächen, z. B. mit nicht direkt betroffenen Jugendlichen und nicht zuletzt mit Betroffenen wie Schülern und Lehrern der Albertville-Realschule in Winnen den oder den Mitgliedern des „Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden – Stiftung gegen Gewalt an Schulen“.
Lassen Sie mich an dieser Stelle die emotionale Seite der Ausschussarbeit kurz beleuchten. Natürlich haben wir uns stets bemüht, unsere Arbeit an objektiven Maßstäben und Kriterien auszurichten. Ich bitte aber um Verständnis, wenn ich offen bekenne, dass auch wir Parlamentarier uns von unseren starken Gefühlen der Trauer, der Bestürzung, des Beileids, des Mitleids und des Mitleidens nicht frei machen konnten. Im Übrigen entsteht nach meiner Auffassung die beste Politik mit kühlem Kopf u n d heißem Herzen.
Doch das, was wir an Gefühlen erlebten, ist nichts im Vergleich zu dem, was diejenigen, die den Amoklauf direkt erleben mussten oder als Angehörige der Opfer erlitten und bis heute erleiden, zu ertragen haben.
Immer wieder durchfuhr mich beim Blick auf die anwesenden, konstruktiv mitarbeitenden Vertreter des Aktionsbündnisses und andere Eltern der Opfer der Gedanke, welch unglaubliche Leistung es ist, den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen in so viel positive Energie umzuwandeln, um anderen ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Ihnen allen, verehrte Leidtragende, spreche ich im Namen des Sonderaus
schusses unseren allergrößten Respekt und unsere ungeteilte Anerkennung für Ihre Beiträge zur Amokverhütung aus.
Meine Damen und Herren, wenn man dem komplexen Thema Amok gerecht werden will, muss man jedoch konstatieren, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Türknäufe allein verhindern keinen Amoklauf. Selbst das strengste Waffenrecht der Welt ist keine Garantie gegen eine solch schreckliche Tat.
Ein Amoklauf ist nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft keine Kurzschlusshandlung, sondern eine Tat, die sich lange, lange vor der Ausführung zu entwickeln beginnt. Sie setzt beim Täter eine weit überdurchschnittliche Kränkbarkeit, oft gepaart mit unterdurchschnittlich ausgeprägtem Selbstbewusstsein, voraus. Hinzu kommt eine Handlung, ein Ereignis, das meist nur vom späteren Täter als so verletzend oder kränkend empfunden wird, dass es in ihm über Wochen, Monate oder Jahre derart gärt und er schließlich den Entschluss zur Tat fasst. Dabei ist es dem Amokläufer wichtig, mit seiner Tat möglichst viele Menschen zu töten oder zu verletzen und so großes Aufsehen zu erregen. Seinen eigenen Tod plant er dabei mit ein oder nimmt ihn zumindest billigend in Kauf.
Daher ist es auch extrem schwer, einen potenziellen Amokläufer von seiner Tat noch abzubringen, nachdem er den Tat entschluss gefasst hat.
Zu Beginn der Kausalkette scheint eine Verhinderung eines solchen Verbrechens erfolgversprechender. Deshalb liegt hier auch ein Schwerpunkt der Empfehlungen des Sonderausschusses. Prävention und Früherkennung sind Schlüsselworte. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Kultur des Hinschauens. Niemand darf jemandem gleichgültig sein. Das gilt für diejenigen, die sich professionell mit Kindern und Jugendlichen befassen, das gilt aber genauso für die Gesellschaft insgesamt wie auch für jede und jeden Einzelnen.
Potenzielle Amokläufer sind meist nicht die Lauten und die vordergründig Aggressiven. Mögliche Täter sind verschlossen, zurückgezogen und unauffällig. Deshalb liegt die Schwierigkeit beim Erkennen eines möglichen Amokläufers im Erkennen des Auffälligen im Unauffälligen.
Ich betone nochmals: Hinschauen, Aufmerksamkeit und Zuwendung sind die wichtigsten Aufgaben zur Amokprävention. Dazu braucht es Personen, die dies zu ihrem Beruf machen oder in ihren Beruf einfließen lassen. Hier die richtigen Weichen zu stellen ist Aufgabe der Politik. Es braucht aber auch Anstrengungen aller in unserer Gesellschaft Lebenden. Jeder ist aufgerufen, ganz gleich, ob Eltern, Nachbarn, Freun de, Schul- oder Sportkameraden. Dies zu fördern und zu fordern ist ebenfalls Aufgabe der Politik.
Nun zu den konkreten Ergebnissen des Sonderausschusses: Der Sonderausschuss gelangte während seiner Arbeit zu dem Schluss, dass einzelne, isolierte Maßnahmen nicht ausreichend sein können, sondern dass tiefgreifende Präventionsmaßnah men erforderlich sind. Im Kern steht die Erkenntnis, dass ein enges Miteinander von Schulen, Eltern und Gesellschaft notwendig ist, damit speziell an den Schulen des Landes eine Kultur des Vertrauens, der Anerkennung und des Zuhörens ge
lebt werden kann. Deshalb hat der Sonderausschuss nicht nur 39 eigene, landespolitisch relevante Handlungsempfehlungen erarbeitet, sondern daran anknüpfend auch acht weiter gehende Handlungsfelder aufgezeigt.
Die vom Sonderausschuss in seinem Abschlussbericht gemachten Empfehlungen haben kurz- bis mittelfristig ein Finanzvolumen von gut 30 Millionen €, die jährlich im Landeshaushalt veranschlagt werden sollen. Der Bericht beinhaltet auch eine abschließende Bewertung der vom Expertenkreis der Regierung vorgelegten Handlungsempfehlungen.
Ich kann und will Ihnen hier nicht alle rund 100 Empfehlungen, die Sie dem Abschlussbericht detailliert entnehmen können, erläutern. Dazu ist das mir vorgegebene Zeitbudget zu knapp. Ferner würde ein Herausgreifen einzelner Punkte den Blick auf den eigentlichen Wert unserer Arbeit verstellen. Mit dem Abschlussbericht liegt nämlich erstmals ein umfängliches, ganzheitliches Gesamtkonzept zur Amokverhütung vor.
Auf ein paar besondere Aspekte aus den unserer Arbeit zugrunde liegenden fünf Themenfeldern gehe ich jedoch genauer ein.
Als größere Maßnahmen schlägt der Sonderausschuss die Schaffung von rund 250 zusätzlichen Stellen für Beratungslehrkräfte und Gewaltpräventionsberater sowie 100 zusätzlichen Stellen für Schulpsychologen vor. Bereits zum kommenden Schuljahr 2010/2011 sollen die ersten 30 neuen Schulpsychologen eingestellt werden.