Protokoll der Sitzung vom 04.02.2015

Mit seinem sogenannten Realschulweiterentwicklungskon zept gibt der Kultusminister zu erkennen, dass er der Haupt- und Werkrealschule insgesamt keinerlei Zukunftsperspektive mehr gibt. Stattdessen legt er damit neues Dynamit an das ge samte Bildungssystem an.

Die Praktiker aber haben diesen Mummenschanz des Kultus ministers längst durchschaut. Nach dem VBE zerpflücken nun auch zahlreiche Realschuldirektoren – wie vergangene Wo che in Südbaden – sein Konzept. Mit Ressourcen und der Möglichkeit, zusätzlich den Hauptschulabschluss anzubieten, soll den bockigen Realschulen der Weg unter die Haube der Gemeinschaftsschule versüßt werden. Im Gegenzug müssen die Realschulen zukünftig die Pädagogik der Gemeinschafts schule übernehmen und dürfen beispielweise in der Orientie rungsstufe niemanden mehr sitzen bleiben lassen und nur in den Klassen 7 und 8 eingeschränkt Unterricht auf unterschied lichen Niveaus anbieten. Dabei wären gerade weitere Diffe renzierungsmöglichkeiten wichtig, wenn man an der Real schule den Haupt- und den Realschulabschluss erwerben kann. Denn jeder Abschluss erfordert eine eigene fundierte Vorbe reitung und mindestens in den Kernfächern Kurse auf unter schiedlichen Niveaus.

Dem Kultusminister sei eine Reise nach Sachsen empfohlen, wo schon seit Jahren in der Oberschule der Hauptschul- und der Realschulbildungsgang unter einem Dach angeboten wer den.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre Gespräche außerhalb des Plenar saals zu führen,

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Das liegt am Vortragen den! – Abg. Martin Rivoir SPD: Wie es in den Wald hineinruft!)

sodass man hört, was der Kollege Dr. Kern zu sagen hat. – Bitte, Herr Kollege Dr. Kern.

In den Oberschulen in Sach sen wird fundiert auf den Hauptschul- und den Realschulab schluss vorbereitet.

Deshalb fordern wir Freien Demokraten: Wenn eine Schule zwei Abschlüsse anbietet, muss sie differenzieren dürfen und Kurse auf unterschiedlichen Niveaus zur gezielten Vorberei tung auf die Abschlüsse anbieten können.

Anstatt mit Ihrer gesamten Bildungspolitik auf das Ende von anderen Schularten als der Gemeinschaftsschule hinzuarbei ten, sollte Grün-Rot der Haupt- und der Werkrealschule lie ber eine echte Zukunftsperspektive geben. Von der Haupt- und der Werkrealschule sind die Bürgerinnen und Bürger vieler orts überzeugt. Die Verantwortlichen vor Ort sollten anders als jetzt frei über die Zusammensetzung ihres Schulangebots entscheiden können. Denn wenn die Verantwortlichen vor Ort frei entscheiden könnten, hätten auch die Haupt- und die Werk realschule eine Zukunft – vorausgesetzt, alle Schularten und Bildungsgänge wären auskömmlich ausgestattet und würden gleiche Startbedingungen für einen fairen Wettbewerb vorfin den. Das allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von Grün-Rot, wäre das Gegenteil der Privilegierung Ihres Lieb lingskinds, wie wir sie nun schon seit knapp vier Jahren un ter Ihrer Regierung erleben müssen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Für die Landesregie rung erteile ich Herrn Kultusminister Stoch das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zu Beginn meiner Ausführungen, bevor ich auf die Frage des Einsatzes von Haupt- und Werkrealschullehrkräften zu sprechen komme, noch einige Worte zu der grundlegenden Frage: Welche Schularten wird es in Baden-Württemberg zu künftig geben, und aus welchen Gründen wird es diese geben?

Ich glaube, manchem hier im Raum – obwohl hier doch zu mindest eingeschränkt Tageslicht eindringen kann – ist ent gangen, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ganz erheblich verändert hat. Ich glaube, die demografische Entwicklung und das veränderte Schulwahl verhalten aus seiner Realität auszuschließen, wie es der Kol lege Müller und der Kollege Dr. Kern so trefflich können,

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Das tut kein Mensch von uns!)

bringt niemanden weiter. Denn das heißt schlicht und einfach, sich die Realität schönzureden oder schönzudenken.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Trend, dass an den Haupt- bzw. Werkrealschulen unseres Landes immer we

niger Schüler beschult werden, begann nicht erst im Jahr 2011. An den Hauptschulen in unserem Bundesland gehen die Schü lerzahlen bereits seit über zehn Jahren extrem zurück. Wer da vor die Augen verschließt und keinerlei Rezepte zur Lösung dieser Probleme hat, der braucht sich hier nicht als Retter der Hauptschulen aufzuspielen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Einschulungen an unseren Grundschulen – nur einmal als kleines Faktum; viel leicht wäre es ganz wichtig, das einmal in die eigene Denk struktur einzubauen – um rund ein Fünftel gesunken,

(Zuruf des Abg. Peter Hauk CDU)

im Jahr 2012 sogar auf den niedrigsten Wert seit 1987. Alle Prognosen zeigen, dass die Zahl der Schülerinnen und Schü ler an unseren Schulen auch in Zukunft weiter stark zurück gehen wird.

Beim Schulwahlverhalten zeigen sich neben der demografi schen Entwicklung weitere wesentliche Veränderungen. Noch Mitte der Siebzigerjahre – deswegen heißt die Hauptschule auch Hauptschule – waren mehr als die Hälfte der Schüler ei nes jeden Jahrgangs auf der Schulart Hauptschule. 2009 – al so zwei Jahre vor der Abschaffung der verbindlichen Grund schulempfehlung – waren es nur noch weniger als ein Viertel der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs.

Zu den absoluten Zahlen: Im Jahr 2001 hatten wir noch 40 000 Hauptschüler in den fünften Klassen – 40 000. Im Jahr 2011 – da gab es die verbindliche Grundschulempfehlung noch; da gab es noch keine Gemeinschaftsschule – waren es noch 23 000. Wer dann glaubt, hier erzählen zu müssen, dass die Prozesse 2011 begonnen hätten, belügt sich selbst und belügt die Menschen in diesem Land, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Nicht zuletzt aus diesem Grund sind bereits in den letzten zehn, 15 Jahren zahlreiche Schulstandorte schlicht von der Bild fläche verschwunden. Wir hatten einmal über 1 200 Haupt schulen, vor allem in ländlichen Räumen, in Kommunen mit 4 000, 5 000, 6 000 Einwohnern.

Wir haben heute – das war auch schon 2011 der Stand – be reits gut 400 Standorte weniger. Diese Standorte sind nicht aufgrund einer regional gesteuerten Schulentwicklung ge schlossen worden. Sie sind im ländlichen Raum einfach von kommunalen Entscheidern, Bürgermeistern, Gemeinderäten nach schwierigen Abwägungsprozessen geschlossen worden, weil keine Schüler mehr da waren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, deswegen bringt es doch uns allen nichts, wenn Sie hier etwas an die Wand ma len, was mit der Realität nichts zu tun hat.

Die Zahl der Haupt- und Werkrealschulen wird heute kleiner, weil die Eltern dieses Schulangebot nicht mehr wollen. Das liegt nicht an den Leistungen der Lehrkräfte an diesen Schu len; es liegt schlicht und einfach an dem Willen der Eltern, für ihre Kinder mindestens den mittleren Bildungsabschluss an zustreben.

Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, bringt es nichts, der Vergangenheit nachzuweinen; vielmehr müssen wir versuchen, die Sorgen der Eltern aufzunehmen und gute Bildungsangebote zu machen, die an allen Schularten – nicht nur am Gymnasium; auch an Realschulen, auch an Gemein schaftsschulen – den guten Weg, den guten Einstieg in eine Bildungsbiografie bedeuten. Dann werden die Eltern diese Schularten auch wählen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Herr Kollege Müller, deswegen halte ich die Frage, die Sie stellen – die Frage: „Was geschieht mit den Lehrern einer Schulart, die es nicht mehr geben soll?“ –, auch für sehr sug gestiv. Herr Kollege Lehmann hat es vorhin bereits angespro chen. Die Frage impliziert, dass hier politisch gezielt auf die Abschaffung einer Schulart hingearbeitet wird. Das weise ich vehement zurück.

(Zurufe von der CDU und des Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP)

Es geht nur darum, dass Sie Entwicklungen nicht negieren. Sie haben nämlich jahrelang versucht, dieser Entwicklung ir gendetwas entgegenzusetzen. Aber dies blieb ohne Erfolg. Die Zahlen, die ich vorhin genannt habe, stammen aus Ihrer Re gierungszeit. Offensichtlich haben Sie die Menschen mit Ih ren Konzepten nicht überzeugt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen jetzt an vielen Stellen in unserem Bildungssystem reagieren, um leis tungsfähige Schulstandorte zu erhalten, und vor allem, um auch im ländlichen Raum die qualitativ hochwertigen Schul standorte gerade im Bereich der weiterführenden Schulen zu halten. Deswegen haben wir auch mit der regionalen Schul entwicklung hier die richtigen Weichen gestellt, und zwar auf Augenhöhe mit den kommunalen Landesverbänden und mit den Städten und Gemeinden in diesem Land Baden-Württem berg.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Dann gehört aber auch zur Wahrheit dazu, dass bei insgesamt zurückgehenden Schülerzahlen nicht jeder Standort wird er halten werden können. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, es macht doch einen großen Unterschied, ob diese Standorte quasi dem Zufall geschuldet schließen oder ob ge meinsam mit der Schulverwaltung nach Konzepten gesucht wird, wie mehrere Schulstandorte, die allein nicht lebensfä hig wären, gemeinsam Konzepte entwickeln, um diese Schu len am Leben zu halten.

Jetzt möchte ich auf die Auswirkungen auf die Lehrerinnen und Lehrer zu sprechen kommen. Eines ist klar: Die betroffe nen Lehrerinnen und Lehrer, die in unserem Schulsystem tä tig sind, haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hervorragende Arbeit geleistet und müssen im Hinblick auf ihren Status auch nicht um ihren Arbeitsplatz fürchten. Denn sie werden weiterhin gebraucht, und sie werden vor allem auch im Bereich der weiterführenden Schulen, sowohl an den Gemeinschaftsschulen als auch an den Realschulen, gebraucht werden.

Am Montag – das wurde bereits angesprochen – haben wir bekannt gegeben, dass zu den aktuell 209 Gemeinschaftsschu len im Sommer weitere 62 hinzukommen werden.

Zudem bringen aktuelle Entwicklungen und Herausforderun gen neue Aufgaben mit sich. Denken Sie an den Ausbau der Ganztagsangebote an Grundschulen oder auch das Konzept zur Weiterentwicklung der Realschulen.

Auch an den Realschulen soll künftig das grundlegende Ni veau unterrichtet und der Hauptschulabschluss angeboten wer den. Gerade auch dafür werden wir erfahrene Lehrerinnen und Lehrer brauchen, die auch aus den Haupt- und Werkrealschu len kommen und dort aufgrund ihrer fundierten Erfahrung her vorragende Arbeit leisten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wird auch im Rah men der Inklusion zu neuen Aufgaben für unsere Schulen und unser Bildungssystem kommen. Deswegen hat die Schulver waltung die Prämisse – diese Prämisse verfolgt die Schulver waltung seit Jahren, auch schon während Ihrer Regierungs zeit, in der auch schon Schulstandorte geschlossen wurden –, dass für jeden Einzelfall, für jede Lehrerin und für jeden Leh rer aufgrund der individuellen Bedürfnisse die bestmögliche Lösung gefunden wird.

Wir wollen die Lehrerinnen und Lehrer auf diesem Weg an eine neue Schule, an einen neuen Schulstandort auch entspre chend unterstützen. Wir wollen die Lehrerinnen und Lehrer durch ein umfassendes Fortbildungskonzept – es wird derzeit erarbeitet und soll noch in den nächsten Monaten starten – un terstützen, diesen neuen Einsatz erfolgreich gestalten zu kön nen. Ziel des Konzepts ist es, dass die Lehrerinnen und Leh rer bestmöglich auf ihre neue Aufgabe vorbereitet werden, da mit sie ihre über Jahre hinweg entwickelten Kompetenzen auch gut an ihrer neuen Schule einbringen können.

Dazu werden wir schulartspezifische Fortbildungsreihen an bieten, je nachdem, ob zukünftig ein Einsatz in einer Grund schule, in einer Realschule, in einer Gemeinschaftsschule oder in einer Sonderschule geplant ist. Neben den fachlichen In halten werden den Teilnehmern in speziellen Modulen auch andere schulartspezifische Informationen und Regelungen ver mittelt.

Darüber hinaus sind im Rahmen des Konzepts begleitende Angebote geplant, um die Lehrerinnen und Lehrer bei dem Wechsel in eine neue Schulart so gut wie möglich zu unter stützen. Geplant sind u. a. Supervisionsgruppen, in denen sich Lehrerinnen und Lehrer, die vor der gleichen Herausforde rung stehen, auch untereinander austauschen und sich vernet zen können.

Zusätzlich wird die Entwicklung von Qualifizierungsangebo ten geprüft, um Leistungsträgern, die in einer anderen Schul art eingesetzt werden, auch einen Laufbahnwechsel zu ermög lichen. Auch die besoldungsrechtlichen Aspekte wurden be reits vom Kollegen Käppeler und vom Kollegen Lehmann an gesprochen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen den Leh rerinnen und Lehrern, die in den letzten Jahren an ihren Schu len – insbesondere auch an den Haupt- bzw. Werkrealschulen – hervorragende Arbeit geleistet haben, sehr gute weitere Ver wendungsmöglichkeiten in unserem Schulsystem anbieten. Wir brauchen diese Lehrerinnen und Lehrer vor allem auf grund der Kenntnisse, die sie im Bereich der Förderung sozi aler Interaktion und der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Schü lerinnen und Schüler haben.

Die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer in unserem Land be einflusst die Lernmotivation der Kinder und Jugendlichen ganz wesentlich. Deshalb müssen wir uns mit aller Kraft da für einsetzen, die Erfahrung dieser kompetenten Lehrerinnen und Lehrer für unser Bildungssystem zu erhalten – nicht nur aus persönlichen Gründen, sondern weil wir es uns überhaupt nicht leisten können, unser Bildungssystem und unser Schul system ohne diese Lehrerinnen und Lehrer erfolgreich in die Zukunft zu führen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)