Protokoll der Sitzung vom 28.10.2015

Für die Fraktion der FDP/DVP erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Kern.

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst eine, wie ich finde, überaus treffende Analyse der Situation der Gemein schaftsschulen in Baden-Württemberg aus dem Jahr 2013 vor tragen, also genau aus dem Jahr, dessen Übergangszahlen auf die weiterführenden Schulen heute Gegenstand der Debatte sind. Zitat:

Es ist strukturell nicht erkennbar, wie eine wirklich hete rogene Schülerschaft für die Gemeinschaftsschulen ge wonnen werden kann, wenn Gemeinschaftsschulen unver ändert mit Realschulen und Gymnasien konkurrieren.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja!)

Damit läuft die Gemeinschaftsschule Gefahr, als Stand ortrettung missverstanden zu werden, und ist damit lang fristig (u. a. aufgrund der geringen Schülerzahlen) in ei nem unklaren und möglicherweise fragilen Zustand.

Man könnte annehmen, dieses Zitat stamme von einem fun damentalen Kritiker der Gemeinschaftsschule. Doch weit ge fehlt: Das Zitat stammt von keinem Geringeren als Professor Thorsten Bohl, dem Vordenker der Gemeinschaftsschule, den die grün-rote Landesregierung sogar mit der Evaluation der Gemeinschaftsschule betraut hat.

In etwas einfachere Worte übersetzt hat Ihnen Ihr Gemein schaftsschulexperte Folgendes ins Stammbuch geschrieben: Die Gemeinschaftsschule wird nur dann Erfolg haben, wenn

ein Gutteil ihrer Schülerschaft aus Realschülern und Gymna siasten besteht.

Das war damals ein vernichtendes Urteil für die grün-rote Ge meinschaftsschule. Denn um die Verkaufszahlen Ihres Presti geprojekts hochzutreiben, hatten Sie schlicht auf die demo grafische Not der Kommunen gesetzt. Allein um ihren Schul standort zu retten, sind ganz überwiegend die kleinen Haupt- und Werkrealschulen auf den Gemeinschaftsschulzug aufge sprungen. Von diesem Gleis war die Gemeinschaftsschule nicht mehr herunterzubringen.

Dabei ist es ja nicht so, dass Sie von Grün-Rot es nicht auch anders versucht hätten. Bis zum heutigen Tag aber wollte sich noch kein einziges Gymnasium finden lassen,

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Hört, hört!)

das zu einer Umwandlung in eine Gemeinschaftsschule bereit war. Zu gern würde diese Koalition auch den Gymnasien of fen zu Leibe rücken. Aber das ist Grünen und Sozialdemokra ten wahltaktisch zu gefährlich. Immerhin war in Hamburg schon einmal ein Teilübernahmeversuch der Gymnasien am Widerstand der Eltern krachend gescheitert.

Es bleiben also noch die Realschulen. Aber auch die zeigten sich aus grün-roter Sicht bockig. Unter den 271 Gemein schaftsschulen finden sich gerade einmal 25 ehemalige Real schulen – nicht einmal 10 %. Daraus folgt: Über 90 % – 409 – der staatlichen Realschulen in Baden-Württemberg wollten eben nicht auf den Gemeinschaftsschulzug aufspringen.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr rich tig!)

Es blieb Grün-Rot nichts anderes übrig, als die Gemeinschafts schule durch die Hintertür an den Realschulen einzuführen. Das entsprechende Gesetz hat die grün-rote Regierungsmehr heit gerade erst beschlossen.

Immer deutlicher wird ferner, dass kaum eine Gemeinschafts schule eine eigene Oberstufe wird bilden können. Stand heu te hätte nur eine einzige Gemeinschaftsschule tatsächlich ge nügend Schüler, um wenigstens theoretisch eine eigene Ober stufe zu bilden.

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Tübingen!)

Das Arbeitspapier „Gymnasium 2020“ war der verzweifelte Versuch, das zentrale Abiturversprechen der Gemeinschafts schule dennoch irgendwie zu halten. Damit die Gemeinschafts schüler regulär aufs G-8-Gymnasium übergehen können, senkt man dort einfach das Niveau. Dieser Vorgang zeigt eindrück lich, wie wenig der grün-roten Koalition die hohe Qualität der Bildungsangebote in Baden-Württemberg wert ist.

(Zuruf der Abg. Beate Böhlen GRÜNE)

Das ist unverständlich, weil mit den beruflichen Gymnasien eine dreijährige Oberstufe bereitsteht, die geradezu der natür liche Anschluss an die mittlere Reife auch für die Schüler der Gemeinschaftsschulen ist.

All das löst das zentrale Problem der Gemeinschaftsschulen nicht, dass ihnen die Realschüler und die Gymnasiasten feh

len. Aber wie sollen denn in heterogenen Lerngruppen, wie die zwangsgemischten Klassen an den Gemeinschaftsschulen heißen, die schwächeren Schüler von den stärkeren lernen, wenn Letztere fehlen? Wenn der bereits erwähnte Professor Bohl der Geschwister-Scholl-Gemeinschaftsschule in Tübin gen ein verheerendes Zwischenzeugnis ausstellt, obwohl der Realschüler- und Gymnasiastenanteil überdurchschnittlich hoch ist, müsste das für die Landesregierung allerhöchste Alarmstufe sein.

Kultusminister Stoch sollte zügig die Ergebnisse der zehn Ge meinschaftsschulstudien öffentlich machen – selbstverständ lich unter Wahrung des Datenschutzes – und sich einer offe nen Debatte über die weitere Zukunft der Gemeinschaftsschu le nicht länger verschließen, zumindest nicht, wenn ihm an der Zukunft der von ihm so präferierten Schulart und vor al lem an der Zukunft der Schülerinnen und Schüler gelegen ist.

Geben Sie mehr Freiheit – auch für die Gemeinschaftsschu len. Lassen Sie dort heterogene Lerngruppen zu. Das Gleiche sollten Sie bei den Realschulen machen. Dann hätten Sie sich tatsächlich das Etikett „Freiheitliche Bildungspolitik“ ver dient.

Sie verbieten das alles. Deshalb lehnen wir das ab. Aber der Spuk hat im März nächsten Jahres ein Ende.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Für die Landesregierung erteile ich Herrn Kultusminister Stoch das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich wün sche mir, lieber Herr Kollege Kern, dass der Spuk, dass Sie hier am Pult stehen, nächsten März ein Ende hat.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich freue mich, dass wir heute ein weiteres Mal Gelegenheit haben, uns mit dem The ma Gemeinschaftsschule zu beschäftigen, wenngleich das Thema „Übergangszahlen an die weiterführenden Schulen“ selbst sehr wichtig ist. Denn viele Fragen, die mit dem The ma Bildungsgerechtigkeit, gerade was die Verfügbarkeit von guten schulischen Standorten im ländlichen Raum angeht, zu sammenhängen, hängen zu einem ganz wesentlichen Teil von den Übergangszahlen an die weiterführenden Schulen ab.

Das, was Sie heute wieder geboten haben, Herr Kollege Mül ler, zeigt mir, dass Sie sich abermals nur einen Ausschnitt aus gesucht haben, ohne das eigentliche Thema „Übergangszah len an die weiterführenden Schulen“ zu berühren. Wir wissen alle, dass wir in Baden-Württemberg im Bereich der Grund schulen, nämlich der Klassen 1 bis 4, alle Schüler, also Schü ler aller Leistungsstärken, zusammen unterrichten. Die Päda goginnen und Pädagogen an den Grundschulen leisten dies auch in hervorragender Weise. Dann steht beim Übergang an die weiterführenden Schulen eine Entscheidung an, die jetzt von den Eltern zu treffen ist.

Ich habe mir natürlich auch angeschaut, was Sie im Hinblick auf den Wahlkampf als programmatische Eckpunkte vorge

legt haben. Dort erscheint es mir so, dass auch innerhalb der CDU die Überzeugung gewachsen ist, dass es richtig ist, dass die Eltern diese Entscheidung treffen. Das heißt, von der Wie dereinführung einer verbindlichen Grundschulempfehlung ist dort nicht die Rede.

Wenn ich dies voraussetze, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, werden wir auch zukünftig die Frage haben, wie sich die Schüler bei insgesamt zurückgehenden Schülerzahlen – das Thema Demografie wird auch weiterhin ein wichtiges Thema sein –

(Zuruf des Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP)

auf die verschiedenen Schularten verteilen. Ich glaube, jeder von uns kennt die Gutachten, die auch der CDU-Landtags fraktion schon vor der Wahl 2011 bekannt waren – u. a. von Professor Bargel im Auftrag der GEW, der ermittelt hat, dass im Rahmen des dreigliedrigen Schulsystems über drei Viertel der im ländlichen Raum liegenden Standorte weiterführender Schulen nicht gehalten werden können. Deswegen lässt sich hieraus, wie ich glaube, zu Recht ein Handlungsauftrag ablei ten. Diesen Handlungsauftrag haben die Regierungsfraktio nen und die Landesregierung angenommen und aufgenom men.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

In diesem Zusammenhang stellt sich die zweite Frage, die im Kern lautet: Wie werden wir den Kindern, den Jugendlichen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht und geben ihnen die Mög lichkeit, den für sie bestmöglichen Bildungsabschluss zu er reichen?

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Durch die Wahl der richtigen Schulart!)

Dieser Bildungsabschluss kann selbstverständlich – deswe gen heißt es auch Zweisäulenmodell – auch schon zu diesem recht frühen Zeitpunkt, nämlich in der vierten Klasse, als der gymnasiale Weg, also der Weg über das allgemeinbildende Gymnasium, prognostiziert werden. Deswegen hat das Gym nasium auch in unserer Planung und in unserer Konstruktion einen festen Platz für die Kinder, die mit relativ hoher Sicher heit den Weg zum Abitur schaffen. Aber wir sollten daneben nicht so tun, als ob es dann noch eine Schule gibt, die quasi für den Rest zuständig ist.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Wenn wir über das Thema Schulstruktur reden, müssen wir natürlich auch fragen: Was sind die Beweggründe von Eltern, wenn sie diese Entscheidung in Klasse 4 treffen? Dann müs sen wir ganz klar sagen: Eltern wollen möglicherweise diese Entscheidung – „Welches ist der richtige Schulabschluss für mein Kind?“ – zu diesem Zeitpunkt noch nicht treffen, weil sie sie vielleicht noch nicht treffen können.

Deswegen halte ich den grundsätzlichen Anspruch, den die Gemeinschaftsschule formuliert, nämlich Schülerinnen und Schüler auch auf unterschiedlichen Leistungsniveaus zu ih rem Bildungsabschluss zu führen, für den grundsätzlich rich tigen und den Begabungen der Kinder angemessenen Weg.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Jetzt auf den Punkt!)

Wenn wir dann über Einzelheiten in der Konstruktion spre chen, stellen Sie fest – genau so, wie wir es in Ihrem Pro gramm gelesen haben –, dass auch bei Ihnen eigentlich nicht die Dreigliedrigkeit des Schulsystems weitergedacht wird. Ei gentlich haben Sie das schon vor sieben, acht Jahren in Ihrer eigenen Fraktion diskutiert, wie ich weiß. Es geht vielmehr um die Frage, wie wir die Kinder pädagogisch am besten in ihrer Unterschiedlichkeit aufnehmen

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja!)

und zu einem Abschluss führen. Da halte ich es für zu kurz gesprungen, wenn grundsätzlich alle Modelle, die pädago gisch angesetzt werden und auf integrativen Lernmodellen ba sieren, wie z. B. bei der Gemeinschaftsschule, von vornher ein als untaugliches Mittel bezeichnet werden.

Die Anmeldezahlen, die wir hier jetzt feststellen, sind für sehr viele Schulen sehr, sehr erfreulich, weil sie deutlich über der Prognose liegen. Sehr geehrter Herr Kollege Müller, es liegen mehr Schulen über der prognostizierten Zahl, als Schulen un ter der prognostizierten Zahl liegen.

Deswegen glaube ich: Eine Prognose wird immer einen Un sicherheitsfaktor bergen. Wir haben festgestellt, dass die Schu len, die erfolgreich arbeiten, auch den Zuspruch der Eltern er halten. Es wäre völlig an der Wirklichkeit vorbei argumentiert – egal, welche Schulart Sie ansprechen –, wenn wir sagen würden: Jede Schule läuft hundertprozentig gut.

In meiner Heimatstadt gibt es allein vier Gymnasien, in de nen sich die Übergangszahlen nach der vierten Klasse im letz ten Jahrzehnt sehr deutlich verändert haben, was ganz einfach auch damit zu tun hat, wie im Ort über die Schulen gespro chen wird, welchen Leumund die Schulen haben, auch wel ches Profil die verschiedenen Schulen haben. Daraus aber ein Urteil über eine Schulart zu bilden, was die Übergangszahlen bei insgesamt zurückgehenden Schülerzahlen anbetrifft, Herr Kollege Müller, ist weder analytisch richtig, noch ist es in der Sache zutreffend.