Die UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet sehr viele Absichtserklärungen. Aber wenn tatsächlich die Inklusion und die Optionen zur freien Wahl der Teilhabe – beispielsweise in der Schule, beim Wohnort oder bei den Wohnformen, beim Arbeitsplatz, bei der Gesundheitsversorgung und bei der Mo bilität – ausgeweitet werden sollen, scheitert es eben oft an ei ner ausreichenden Finanzierung.
Wir dürfen das gut ausgebaute System der wirksamen Behin dertenhilfe, das wir über viele Jahre aufgebaut haben, nicht ohne Not in ein Unterlassungssystem austauschen, das wir dann mit den Schlagworten Normalisierung, Inklusion und Selbstbestimmung erklären. Dieser Konversionsprozess, den wir eingeschlagen haben, erfordert eben mehr, als nur ein Wohnheim mit 24 Plätzen zu realisieren. Er erfordert auch die gesellschaftliche Integration in die Gemeinschaft der Kom munen, in die Barrierefreiheit, in die Kirchen, in die Vereine. Deswegen sind die Herausforderungen hier eben weitaus grö ßer. Das gilt auch dafür, die Voraussetzungen für eine finan zielle Auskömmlichkeit zu schaffen. Denn es bedarf erhebli cher Mittel für diesen Nachteilsausgleich, für diesen Konver sionsprozess; sonst bleiben wir auf halber Strecke stecken, und dann haben wir weder das eine richtig gemacht noch das andere getan. Das ist eine große Sorge, die derzeit die Kom plexträger in Baden-Württemberg umtreibt.
Die Landesarbeitsgemeinschaft der Angehörigenvertretungen für Menschen mit geistiger Behinderung in Baden-Württem berg hat vor einigen Wochen eine Landeskonferenz durchge führt und die Ergebnisse einer Umfrage zu ihren Themenstel lungen vorgestellt. Ich will nur ein Stichwort ansprechen, und zwar den Bereich der Seniorenbetreuung. Viele Angehörige sehen hier inzwischen Verschlechterungen. Im Protokoll ist zu lesen, dass der Landes-Behindertenbeauftragte, Herr Wei mer, gesagt hat, die Ergebnisse der Umfrage machten ihn
Landesheimbauverordnung: Die Fragen der Finanzierung die ses großen Vorhabens sind derzeit ungeklärt. Ich mahne auch hier zu mehr Augenmaß in Baden-Württemberg, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Die Landespersonalverordnung, die noch in diesem Jahr ver abschiedet werden soll, hat im ersten Entwurf einen erhebli chen Mehraufwand bei den Nachtwachen beschrieben und hat insbesondere viele Fragen der Binnendifferenzierung offen gelassen. Dazu gehört, ob diese pflegeintensiven Tätigkeiten dem Bereich der Pflege oder dem Bereich der Eingliederung zuzuordnen sind und jeweils unterschiedliche Personalbedar fe auslösen. Außerdem weist dieser Entwurf eine Leerstelle beim Personal aus, das für Teilhabeleistungen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention einzusetzen wäre.
Das Thema Barrierefreiheit habe ich angesprochen. Das ist ei nes der wichtigsten Themen im Bereich der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Sowohl mit Blick auf Busse als auch auf Bahnen ist das ein wichtiges Thema, das wir in Baden-Württemberg nicht nur bei neuen Projekten, sondern auch beim Bestand unserer Infrastruktur beachten sollten.
Schutz vor Diskriminierung beinhaltet auch Schutz vor Ge walt und Schutz vor Zwangsheirat. Kaum im Bewusstsein ist bis heute, dass auch Frauen und Männer mit Behinderungen Opfer von Gewalt oder Zwangsheirat werden können. Dies wurde auch ganz aktuell auf einer Fachtagung des Integrati onsministeriums deutlich. Noch immer sind viele der Bera tungsstellen nicht barrierefrei und damit für Menschen mit Behinderungen nicht ohne Weiteres zugänglich. Es gibt ein zelne Angebote. Dazu gehört auch das bundesweite Hilfete lefon „Gewalt gegen Frauen“. Dafür haben u. a. auch libera le Frauen im Bundestag sehr engagiert gekämpft, dass dieses bundesweite Hilfetelefon inzwischen in Betrieb ist.
Menschen mit Behinderungen und Arbeit: Die Arbeitslosen quote bei Menschen mit Behinderungen ist immer noch deut lich höher als bei Menschen ohne Behinderungen. Auch das sollte uns eine Leitplanke sein bei unserer weiteren Arbeit zur Beseitigung von Diskriminierung von Menschen mit Behin derungen am Arbeitsplatz.
Fazit: Manches ist in vier Jahrzehnten erreicht worden, aber manche Barrieren bestehen immer noch – in den Köpfen, in Gebäuden, in der Sprache, bei Bussen und Bahnen. Es gibt noch einiges zu tun.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf heu te Morgen hier im Landtag von Baden-Württemberg vertre tungsweise für die leider erkrankte Sozialministerin Katrin
Altpeter sprechen. Ich freue mich, dass die SPD-Landtags fraktion durch Sie, liebe Frau Kollegin Wölfle, das Thema „40 Jahre Erklärung über die Rechte der Behinderten – wo steht Baden-Württemberg bei der Inklusion?“ zum Gegenstand der heutigen Debatte gemacht hat.
Ich denke, wir sind bei der Umsetzung der UN-Behinderten rechtskonvention mit dem Leitbild der Inklusion in BadenWürttemberg auf einem guten Weg. Die Verwirklichung der uneingeschränkten Teilhabe von Menschen mit Behinderun gen am alltäglichen Leben ist – das ist uns allen klar, und zwar über die Grenzen aller Fraktionen hinweg – eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Dieser Herausforderung ha ben wir uns in der vergangenen Legislaturperiode auch mit großem Engagement gestellt. Wir haben zwar noch einen lan gen Weg vor uns, aber die Weichen zeigen jetzt dank unserer entschlossenen Maßnahmen in die richtige Richtung. Ich den ke, darauf können wir zu Recht stolz sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, als eine der wichti gen Maßnahmen in diesem Bereich darf ich zur Verbesserung der inklusiven Rahmenbedingungen in Baden-Württemberg natürlich das Landes-Behindertengleichstellungsgesetz nen nen, das die Rahmenbedingungen für Menschen mit Behin derungen deutlich und entscheidend verbessert hat. Das Ge setz ist jetzt seit gut einem Jahr in Kraft und bildet damit den Rahmen für die Gleichstellung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Die in unserem Gesetz verwendete mo derne Definition von Behinderung der UN-Behindertenrechts konvention ist eben gerade nicht defizitbezogen, sondern stellt auf die einstellungs- und umweltbedingten Barrieren ab. Des wegen wurde durch das Landes-Behindertengleichstellungs gesetz auch entscheidend auf den Abbau von Barrieren einge wirkt, die es gerade unmöglich gemacht haben, dass Men schen mit Behinderungen an vielen Bereichen des gesell schaftlichen Lebens teilgenommen haben.
Da ist es manchmal aus Sicht der Nichtbehinderten durchaus schwierig, diese Barrieren auch selbst wahrzunehmen und zu sehen. Aber ich glaube, umso wichtiger ist es, dass wir durch den Blick und durch engen Kontakt und Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen dieses Bewusstsein bei allen Menschen schaffen. So müssen die Behörden in Zukunft den Menschen mit Sehbehinderungen und den Blinden Schriftstü cke in geeigneter Form zur Verfügung stellen, wenn sie dies verlangen. Zudem haben wir die Kommunen neu in den Gel tungsbereich des Gesetzes aufgenommen. Damit ist BadenWürttemberg das erste Bundesland, das die Stadt- und Land kreise verpflichtet, kommunale Behindertenbeauftragte zu be stellen.
Aber damit noch nicht genug. Wir haben auch Anreize dafür geschaffen, dass vor allem Menschen mit Behinderungen als Experten in eigener Sache das Amt der oder des Behinderten beauftragten übernehmen. Damit die kommunalen Behinder tenbeauftragten auch wirklich gute Arbeit leisten können, stel len wir knapp 3 Millionen € aus der Landeskasse für diese Aufgabe zur Verfügung. Noch sind nicht in allen Stadt- und Landkreisen die kommunalen Behindertenbeauftragten be stellt, aber die Frist für die Besetzung, nämlich Januar 2016, ist ja auch noch nicht abgelaufen.
Ein weiteres Gesetz macht deutlich, dass wir in letzter Zeit bei der Frage der Gleichstellung von Menschen mit Behinde rungen einen deutlichen Schritt weitergekommen sind. Ich spreche von der Änderung des Schulgesetzes, die wir in die sem Jahr vollzogen haben. Ich glaube, dass wir hier einen ganz entscheidenden Markstein gesetzt haben, wenn wir sagen kön nen: Die Sonderschulpflicht aus dem Schulgesetz, die sich nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention verträgt und in Einklang bringen lässt, ist endgültig aus den gesetzlichen Grundlagen Baden-Württembergs verschwunden – und das ist gut so, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Aber gerade bei Themen wie der schulischen Bildung, der schulischen Teilhabe wird eines deutlich: Wir sind beim The ma Inklusion jetzt nicht auf Knopfdruck in der heilen neuen inklusiven Welt angekommen, sondern wir müssen jetzt dar auf schauen und Sorge dafür tragen, dass Inklusion auch in all unseren Institutionen, vor allem in den Bildungseinrichtun gen unseres Landes, Wirklichkeit werden kann. Dies bedeu tet, dass wir die Menschen gut auf diese Aufgabe vorbereiten müssen. Dies bedeutet aber auch, dass wir die zusätzlichen Ressourcen für diesen Prozess zur Verfügung stellen müssen.
Ich darf doch an einer Stelle auf ein ganz erhebliches Defizit der Vergangenheit hinweisen – lieber Herr Kollege Raab, ge statten Sie mir diesen Hinweis –: Der Modellversuch, in ver schiedenen Schulamtsbezirken in Baden-Württemberg Inklu sion möglich zu machen, der von Ihrer Regierung noch ein geleitet wurde, hatte vorgesehen, dass dieses inklusive Ange bot keinen zusätzlichen Ressourcenbedarf auslösen darf.
Ich sage Ihnen eines deutlich: Wenn Sie den Anspruch haben, die Wahlfreiheit, die Sie auch benannt haben, zu gewährleis ten, das heißt leistungsfähige Sonderschulen zu erhalten und gleichzeitig Inklusion aufzubauen, inklusive Strukturen auf zubauen, dann kostet das zusätzliche Ressourcen, dann brau chen wir dafür zusätzliche gut ausgebildete Sonderpädago ginnen und -pädagogen. Deswegen hat diese Landesregierung die Entscheidung getroffen, über 1 300 zusätzliche Lehrerstel len genau für diesen Bereich zu schaffen. Anders können wir Inklusion in hoher Qualität nicht gewährleisten.
Herr Minister, Sie haben eben die inklusive Beschulung angesprochen. Sie kennen das Beispiel Kronau. Da waren wir sehr intensiv miteinander im Gespräch. Dort ist es in einer hervorragenden Weise gelungen – was be weist, dass es möglich war. Das möchte ich sagen. Natürlich muss man überall den Einzelfall sehen. Ich wollte nur Ihrer verallgemeinerten Aussage entgegenhalten: Es hat auch posi tive Beispiele gegeben.
dass es in manchen Fällen nahezu ressourcenneutral möglich war. Aber anzunehmen, dass dieser Aufbau inklusiver Struk turen quasi mit einer Idee kommunizierender Röhren im All gemeinen ohne zusätzliche Ressourcen möglich ist – das war leider in diesem Schulversuch angelegt –,
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben nicht nur mit dem Landes-Behindertengleichstellungsgesetz und dem Schulgesetz neue Gesetze auf den Weg gebracht, wir haben auch eine ganze Reihe großer und kleiner Inklusionsprojekte ins Leben gerufen, die ich ebenfalls beispielhaft benennen darf. So fördern wir beispielsweise mit dem Programm „Im pulse Inklusion“ Leuchttürme der Inklusion in Baden-Würt temberg, das heißt Beispiele, an denen sich andere orientie ren können, die anderen auch Mut machen können, das The ma Inklusion in die Hände zu nehmen. In den letzten drei Jah ren haben wir mit diesem Programm weit über 100 Projekte mit 4 Millionen € gefördert. Dies reicht von Theater- und Mu sikprojekten über Nachbarschaftsprojekte bis hin zu spannen den Initiativen des Miteinanders von Jugendlichen in Freizeit und Sport.
Gerade für dieses Bewusstmachen in der Gesellschaft bei Menschen, die vielleicht nicht unmittelbar mit dem Thema Behinderung konfrontiert sind, ist die Öffentlichkeitsarbeit sehr wichtig. Deswegen haben wir im Rahmen der erfolgrei chen Öffentlichkeitskampagne „DUICHWIR Alle inklusive“ mehr als 120 Veranstaltungen in Städten und Gemeinden in Baden-Württemberg durchgeführt und dadurch viele Men schen erst auf dieses Thema hingewiesen. Wir haben festge stellt, dass z. B. durch unser Inklusionsmobil ganz viele Men schen mit diesem Thema erstmals in Berührung kamen und hier sicherlich ein weiterer Bewusstseinsschritt in der Bevöl kerung und in unserer Gesellschaft gelingen konnte.
Wir haben damit vielen Menschen nahegebracht, was Inklu sion bedeutet und wie sich Menschen mit Behinderungen selbst die Teilhabe an der Gesellschaft wünschen.
Zusätzlich zu den Inklusionsprojekten haben wir eine Reihe großer Inklusionsveranstaltungen ausgerichtet, um Inklusion auch in diesem Kontext sichtbar zu machen. Hier nur zwei Beispiele:
So hat z. B. das Sozialministerium zusammen mit dem Kul tusministerium und dem Landes-Behindertenbeauftragten im Jahr 2013 den Landesinklusionspreis ins Leben gerufen, um Inklusionsbemühungen im Land anzuerkennen und auszu zeichnen. Laufende Inklusionsprojekte wurden dabei 2014 in den Kategorien Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Kultur und Sport sowie Bildung und Erziehung ausgezeichnet.
Der erste Preis war jeweils mit 15 000 € prämiert. Zuletzt fand im Oktober dieses Jahres im Rahmen dieser Öffentlichkeits kampagne im Haus der Wirtschaft in Stuttgart der Landes inklusionstag mit über 500 Teilnehmenden mit und ohne Be hinderungen statt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, darüber hinaus möch te ich auch die über 230 konkreten Maßnahmen des Landes aktionsplans benennen. Denn die Landesregierung hat sich in Sachen Inklusion ein ambitioniertes, aber auch ein realisti sches Arbeitsprogramm für die nächsten Jahre vorgenommen.
Trotz aller Maßnahmen, die wir erfolgreich angestoßen ha ben, gibt es sicherlich noch vieles zu tun, denn die Verbesse rung der Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinde rungen in Baden-Württemberg bleibt auch für die kommen den Jahre, wenn nicht sogar für Jahrzehnte, für alle Beteilig ten eine große Herausforderung. Die Maßnahmen in Sachen Inklusion, die das Land zukünftig anpacken muss, stehen im Aktionsplan der Landesregierung.
Die 230 Maßnahmen verteilen sich dabei auf elf Handlungs felder, z. B. Schutz der Menschenwürde, Gesundheit, Arbeit und Beschäftigung, Wohnen, Barrierefreiheit, Kultur, Freizeit und Sport. Die Maßnahmen zielen dabei nur auf die Landes ebene ab und werden von den jeweils zuständigen Ministeri en verantwortet. Sie sind in den nächsten Jahren eine Selbst verpflichtung für die Landesregierung. Denn hier hat das Land auch eigene Handlungsspielräume.
Aber gleichzeitig wollen wir durch die Maßnahmen des Lan des auch auf kommunaler Ebene Prozesse auslösen, die das Ziel der Inklusion im Blick haben. Deswegen, meine sehr ge ehrten Damen und Herren, müssen diese Landesmaßnahmen immer im größeren gesellschaftlichen Kontext und vor allem in der kommunalen Umsetzung betrachtet werden. Denn ech te Teilhabe fängt beispielsweise beim selbstbestimmten Woh nen und einem Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt an.
Zudem werden wir auch neue inklusive Projekte ins Leben rufen. Auch hier nenne ich nur zwei Beispiele:
Mit dem Projekt „Chancen durch Vielfalt“ wollen wir die be rufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen fördern.