Aber der europapolitische Bericht der Landesregierung ver dient, denke ich, auch eine Würdigung, weil er auf eindrück liche Weise das Engagement unserer Landesregierung auf den verschiedenen Politikfeldern und im Bereich der Instrumen te der Europäischen Union darstellt. Diese Instrumente und Politikfelder haben nämlich alle das eine Ziel: gleiche Lebens bedingungen in den 28 Mitgliedsstaaten zu erzielen. Dazu ge hören z. B. die Alpenraumstrategie, die Donauraumstrategie, aber besonders auch die Strukturfonds. All diese Maßnahmen basieren auf den gemeinsamen Werten Solidarität und Gerech tigkeit, die wir im Jahr 2009 mit dem Vertrag von Lissabon gemeinsam unterzeichnet haben. Oder sollte man vielleicht besser sagen: hatten? Denn bei der Flüchtlingsfrage scheinen genau diese Werte von vielen Mitgliedsstaaten vergessen zu werden.
Die Europäische Union befindet sich in einer Krise, weil sie angesichts des Zustroms von Flüchtlingen in die EU nicht in der Lage ist, gemeinsam gerecht und solidarisch zu handeln. Der Rückfall in nationale Abschottung greift um sich. So kon statiert auch der Minister in seinem Bericht, dass die Maßnah men zur Lösung der Flüchtlingskrise auf EU-Ebene bislang nicht zufriedenstellend sind. Vor allem das Problem mit dem Instrumentenkasten der Kommission bei Nichteinhaltung der geltenden Regeln sowie die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Fluchtursachen werden von der Landesregierung benannt.
Aber besonders die Dublin-Regelungen waren schon früher in höchstem Maß weder solidarisch noch gerecht. Die Euro päische Union hat Griechenland und Italien mit den Flücht lingen viel zu lange alleingelassen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Dublin-Regelun gen sind auf der ganzen Linie gescheitert. Ungarn, Polen und Österreich scheinen Solidarität und Gerechtigkeit neu definie ren zu wollen, indem sie zwar die Vorzüge der Kohäsions fonds als solidarischen Akt gern nutzen,
aber auf der anderen Seite die Belastungen der Migrationsbe wegungen egozentrisch auf die europäischen Nachbarn ab wälzen wollen.
So kann die EU keine Zukunft haben. Auch unsere Bundes regierung handelt da nicht ganz konsequent solidarisch. Denn Deutschland wird durch seine Waffenlieferungen in den Na hen Osten die Fluchtursachen nicht bekämpfen. Wir müssen diese Lieferungen sofort stoppen.
Deutschland und alle anderen EU-Mitgliedsstaaten müssen endlich ihren Verpflichtungen nachkommen, genügend Mit tel für das UNHCR und das World Food Programme zur Ver fügung zu stellen. Damit bekämpft man Fluchtursachen und ermöglicht eine schnelle Rückkehr der vielen Kriegsflüchtlin ge in ihre Heimat nach dem Ende der Kriege in Nahost.
Mit der rechtzeitigen Überweisung der zugesagten Mittel im letzten Jahr wäre die Zahl der Flüchtlinge nicht so hoch ge wesen, wie sie heute ist. Die Zusagen der Geberkonferenz in der letzten Woche in London sind ein richtiger Ansatzpunkt. Die Bundesregierung hat dafür 2,3 Milliarden € für die nächs ten drei Jahre zugesichert. Das Geld muss aber nun weiterge geben werden und darf nicht bei unseren Banken liegen blei ben.
Was den Umgang mit Flüchtlingen angeht, die vor Krieg und Verfolgung fliehen und Zuflucht und eine Perspektive in der Europäischen Union suchen, ist die Gretchenfrage an jeden einzelnen Mitgliedsstaat, auch an jeden einzelnen Politiker und jede einzelne Politikerin: Wie hältst du es nun mit der Ge rechtigkeit und der Solidarität in Europa?
Kanzlerin Merkel ist da eindeutig mit christlich-europäischen Werten unterwegs – allerdings in ihrer Partei recht einsam. Kollege Wolf und die baden-württembergische CDU dagegen weichen der Gretchenfrage aus.
Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herz lich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel da von.
Steht das C innerhalb des Parteinamens CDU eigentlich noch für christliche Nächstenliebe, oder haben Sie sich längst da von verabschiedet?
Ohne Gerechtigkeit und Solidarität wird die Europäische Uni on keinen Bestand haben. Die Wahrung der Einheit der Euro päischen Union stellt damit die größte Herausforderung für uns alle dar. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere ge meinsamen Interessen in der Europäischen Union sehr viel stärker sind als all das, was uns trennt. Solidarität, Gerechtig keit und Verantwortung heißt das Gebot der Stunde.
Die Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital ist ein Integrationsmotor der EU gewesen und ist es
noch. Sie hat Europa und seine Menschen zusammenwachsen lassen. Die offenen Binnengrenzen haben handfeste Vorteile für Gesellschaft und Wirtschaft. Was wäre unser exportstar kes Land Baden-Württemberg ohne den Europäischen Bin nenmarkt? Was wären wir Baden-Württemberger ohne die Freizügigkeit an den Grenzen zu unseren Nachbarn mit allen Projekten der grenzüberschreitenden und interregionalen Zu sammenarbeit?
Wir brauchen eine verantwortungsvolle europäische Strate gie, die auf Gerechtigkeit und Solidarität beruht. Wir brau chen eine effektive Steuerung der Flüchtlingskrise. Die Erst aufnahmezentren in Griechenland und Italien, die immer noch fehlen, müssen eingerichtet werden.
Es bedarf der raschen Verabschiedung des am 15. Dezember vorgelegten Legislativpakets Außengrenzen. Wir brauchen ei ne schnelle und grundlegende Revision der Dublin-Regelun gen. Wir brauchen einen verbindlichen Notfallmechanismus zur gerechten Verteilung der Flüchtlinge auf alle Mitglieds staaten.
Wir brauchen die Umsetzung des EU-Türkei-Aktionsplans von Kanzlerin Merkel, weil es ohne die Türkei keine Lösung für die EU und die Flüchtlinge geben wird. Wir müssen mehr legale Zugangsregeln zur Arbeitsaufnahme in der Europäi schen Union suchen. Wir müssen Fluchtursachen stärker be kämpfen. Wir müssen humanitären Hilfszusagen der EU und der Mitgliedsstaaten jetzt wirklich nachkommen.
Wir müssen Flüchtlinge – auch in der Nähe ihrer Heimat – menschenwürdig unterbringen, wie Baden-Württemberg das auch im Nordirak macht und das anderen Bundesländern vor macht. Denn eine gerechte und solidarische Europäische Uni on muss diese Herausforderungen mit einer gemeinsamen, ge rechten und verantwortungsvollen Politik angehen. Das Land Baden-Württemberg lebt täglich an seinen Außengrenzen und mit seinem internationalen Engagement vor, wie das funktio nieren kann.
Ich hoffe, dass dies die Regierungschefs heute und morgen in Brüssel ebenfalls erreichen. Wir wünschen Frau Merkel da bei viel Erfolg.
Frau Präsidentin, liebe Kolle ginnen und Kollegen! Für mich ist dies heute die letzte Rede im Landtag.
An so einem Tag würde man natürlich, Europa betreffend, richtig viel Optimismus verbreiten wollen. Aber weder die letzten Tage vor diesem Gipfel noch die gestrige Presseerklä rung der Kanzlerin haben dazu wirklich Anlass gegeben. So, wie es aussieht, werden höchstens kleine Schritte vollzogen; für die großen scheint es keine Mehrheit zu geben.
Wie sieht Europa vor diesem Gipfel aus? Europa hat nämlich nicht nur eine Krise, sondern gleich mehrere. Es findet eine
Kollege Reinhart, Sie haben natürlich recht, dass man alles tun muss, Großbritannien in der EU zu halten. Aber ich sage: nicht um jeden Preis. Denn der Preis kann unter Umständen so hoch sein, dass Europa daran zerbricht.
Klar ist: Die Flüchtlingskrise ist ein Stresstest nicht nur für Europa, sondern auch für die Kanzlerin. Gestern hatte sie zum Thema „Gerechte Verteilung von Flüchtlingen“ gesagt, man würde sich lächerlich machen, jetzt neue Kontingente zu be schließen, wenn schon der erste Verteilungsbeschluss nicht durchgesetzt wurde. Stimmt, es ist nicht weit her mit der eu ropäischen Solidarität. Aber daran sind wir zum Teil – der Kollege hat es gerade gesagt – selbst schuld. Wir haben uns in dieser Hinsicht auch nicht mit Ruhm bekleckert.
Allen voran sehen vor allem die osteuropäischen Staaten die Flüchtlingskrise sowieso als ein deutsches Problem an. Sie wollen weder Flüchtlinge aufnehmen noch für diese zahlen. Wenn man ehrlich ist, sind sie auch nicht an einer starken EU interessiert. Sie wollen die Vorteile des Binnenmarkts und die Fördermittel, und das war’s dann.
Sich in einer solch dramatischen Situation gemeinsamen Lö sungen zu verweigern muss nach meiner Meinung klare Kon sequenzen haben. Die EU darf nämlich nicht eine reine Geld verteilungsmaschine sein. Solidarität ist doch keine Einbahn straße. Deshalb müssen diejenigen mehr Geld bekommen, die mehr Flüchtlinge aufnehmen. Dafür muss an anderer Stelle gekürzt werden.
Warum das mit der Solidarität nicht hinhaut, hat seinen kon kreten Grund in einem Konstruktionsfehler, den auch die EU aufweist.
Das Problem liegt darin: Der Rat hat ein starkes Gewicht, das Parlament nicht. Auf diese Art kommt es zu einer Renationa lisierung. Vor diesem Problem stehen wir. Es gilt, daran etwas zu ändern.
Heute Morgen haben wir das Flüchtlingsproblem ausführlich besprochen. Ich nenne nur noch einmal die Stichworte:
Natürlich braucht es Transitzonen. Es braucht auch die ein heitlichen Standards. Es braucht die Hotspots.
Es bedarf vor allem nicht einer Grenzschließung, weil Schen gen dadurch gefährdet würde. Was wäre Europa ohne den Schengen-Raum? Wir würden zu ökonomischen Zwergen. Das können wir uns, glaube ich, alle nicht leisten. Übrigens führte auch eine Schließung der Grenzen in Mazedonien oder das Schließen der gesamten Balkanroute zu völlig chaotischen Staus und einer Destabilisierung der Länder. Auch das sollte man sich auf gar keinen Fall erlauben. Solche Vorschläge kommen zum einen von den Visegrad-Ländern, aber auf der anderen Seite auch aus Kreisen der CDU, manchmal von der CSU.
Gestern hat die „Stuttgarter Zeitung“ geschrieben, man habe den Eindruck, am Kabinettstisch sitze die Speerspitze der au ßerparlamentarischen Opposition. Aber ich sage Ihnen auch: So viel Chaos und so viel Hilflosigkeit in der Flüchtlingsfra ge kommen bei den Bürgern als totales Politikversagen an. Auch das ist ein Grund für die Zunahme des Rechtspopulis mus.
Was ist in dieser Situation in Europa also zu tun? Im Wesent lichen gibt es zwei Aufgaben. Die wichtigste Aufgabe ist na türlich ein Friedensplan für Syrien – das kann ich hier nicht weiter ausführen –, daneben steht die Bekämpfung von Fluchtursachen. Ich denke aber, wenn wir die Menschen im Nahen Osten auf Dauer dort halten wollen, dann wird so etwas wie ein Marshallplan für den Nahen Osten erforderlich sein. Wenn man so etwas in Europa durchsetzen will, braucht man in der Tat einen Paradigmenwechsel in der gesamten europäischen Politik. Das kostet natürlich Geld und ist nicht einfach durch setzbar.