Protokoll der Sitzung vom 21.12.2011

(Beifall bei der CDU – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sehr gut!)

Das Wort für die Frak tion GRÜNE erteile ich Frau Abg. Boser.

Herr Präsident, liebe Kollegin nen und Kollegen, meine Damen und Herren! Mit der beab sichtigten Gesetzesänderung gehen wir die notwendigen Ver besserungen an den Haupt- und den Werkrealschulen an. Da mit geben wir vor allem kleinen Hauptschulen im ländlichen Raum eine neue Perspektive, sich den kommenden Verände

rungen in der Schullandschaft gemäß weiterzuentwickeln. Die Möglichkeit für einzügige Hauptschulen, künftig eigenstän dig oder durch Kooperation den Werkrealschulabschluss an zubieten, schafft gleiche Verhältnisse und hebt die künstliche Konkurrenz zwischen Haupt- und Werkrealschulen auf.

Dabei wird der bisherige Bildungsplan beibehalten. Die Wahl pflichtfächer bleiben bestehen, die berufliche Orientierung kann über die Kooperation mit den beruflichen Schulen abge deckt werden oder über Kooperationen mit den Betrieben er folgen. Die berufliche Orientierung wird weiterhin ein we sentlicher Bestandteil an den Haupt- und Werkrealschulen bleiben.

Wir geben den Schulen mit der neuen Gesetzesgrundlage die Möglichkeit, berufliche Orientierung den örtlichen Vorausset zungen gemäß anzubieten.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Damit geben wir den Schülerinnen und Schülern wichtige Zeitressourcen vor allem für die Kernkompetenzen in Deutsch und Mathematik zurück, bei denen sie in der alten Konzepti on der Werkrealschule im zehnten Schuljahr gravierende Ein schnitte hätten hinnehmen müssen. Denn es ist unbestritten, dass mit Einführung der verpflichtenden Kooperation mit den beruflichen Schulen Kürzungen im Bereich der Fächer Deutsch und Mathematik erfolgt wären, und das, obwohl bei den Schulabgängern oftmals erhebliche Schwächen gerade in Deutsch und Mathematik kritisiert werden und 20 % der Ab gänger der sogenannten Risikogruppe angehören, die so grundlegende Probleme in diesen Fächern haben, dass sie auf dem Ausbildungsmarkt so gut wie keine Chance haben.

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Die werden in dieser Schulform noch größer!)

Damit diese besorgniserregende Entwicklung nicht weiter ver stärkt wird, ist es die richtige Entscheidung, keine verpflich tenden Kooperationen mit den beruflichen Schulen einzufüh ren und die berufliche Orientierung auf anderem Weg anzu bieten.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Auf welchem?)

Wir geben mit dieser Gesetzesnovelle zudem allen Schülerin nen und Schülern die Möglichkeit, den Weg des von ihnen ge wählten Bildungsgangs zum mittleren Bildungsabschluss oh ne künstliche Hürden zu gehen.

Frau Kollegin Kurtz, diese Schülerinnen und Schüler sind während der Schuljahre 5 bis 9 ebenfalls zusammen an der Schule. Das heißt, die Lehrer haben schon vor der zehnten Klasse sehr heterogene Klassen: Sie haben davor Schüler, die von der Förderschule auf die Hauptschule wechseln, sie ha ben davor Schüler, die den Hauptschulabschluss nach der neunten Klasse angehen werden, und sie haben Schüler, die nach der zehnten Klasse den Werkrealschulabschluss ange hen. Diese Schülergruppen haben Sie schon heute an den Werkrealschulen. Das bedeutet keine neue – –

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Da sind aber noch andere dabei! – Abg. Sabine Kurtz CDU: Woher die ser Sinneswandel?)

Sie haben schon bisher dieselbe Zusammensetzung der Schü lerschaft an den Werkrealschulen, und Sie haben in der zehn ten Klasse keine neue Situation für die Lehrer.

(Abg. Volker Schebesta CDU: Natürlich!)

Mit dem Wegfall der Notenhürde in Klasse 9 schaffen wir die Durchlässigkeit, wie sie an anderen Schulen üblich ist. Wer den Schritt in die zehnte Klasse gehen möchte, soll dies auch zu den üblichen Bedingungen, wie sie an anderen Schularten gelten, tun können. Gerade die Schülerinnen und Schüler der Haupt- und Werkrealschule profitieren von einer erhöhten Durchlässigkeit durch eine Verbesserung des Hauptschulab schlusses oder durch das Erreichen des mittleren Bildungsab schlusses.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Gymnasium!)

Meine Damen und Herren, die Veränderungen der Regelun gen zur Werkrealschule sind nur ein Baustein unserer Bil dungsreform, deren Ziel es ist, die Schule vom Kind und vom Jugendlichen her zu denken und beste Voraussetzungen für eine gute Entwicklung und Leistung zu ermöglichen.

Wir sehen noch weiteren Handlungsbedarf, um ein chancen gerechteres Schulsystem in Baden-Württemberg zu schaffen. Dabei ist es uns ein wichtiges Anliegen, an allen Schulen die Möglichkeiten für individuelle Förderung zu verbessern. Wir werden im kommenden Haushalt zielgenau die entsprechen den Ressourcen zur Verfügung stellen, um mehr individuelle Förderung über alle Schularten hinweg möglich zu machen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Für die SPD-Fraktion erteile ich Herrn Abg. Kleinböck das Wort.

(Abg. Gerhard Kleinböck SPD fährt das Rednerpult nach oben. – Abg. Karl Zimmermann CDU: Hoi, das ist aber hoch!)

Für Große geht es hoch. – Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine Da men und Herren! Wir reden jetzt bei diesem Tagesordnungs punkt über die Werkrealschule. Den Rundumschlag der neu en Bildungspolitik haben wir heute Morgen schon hinter uns gebracht. Es ist in der Tat so, dass wir mit dieser Gesetzesvor lage einen weiteren Baustein auf den Weg bringen, um Ba den-Württemberg mit neuen Schulstrukturen zukunftsfähig zu machen.

Zunächst werden wir mit dieser gesetzlichen Änderung die Schule im Dorf lassen – auch wenn wir nicht so blauäugig sind, zu glauben, dass wir damit letztlich alle Schulen retten könnten. Aber es werden wohl doch mehr Standorte erhalten bleiben können, wenn wir die Einzügigkeit zulassen.

Ich bin überzeugt, dass sich in den nächsten Jahren viele Werkrealschulen auf den Weg machen, um sich zu Gemein schaftsschulen zu entwickeln. Sie haben völlig recht: Auf der Basis des geplanten Gesetzes ist eine solche Weiterentwick lung ausdrücklich möglich. Aber über die Gemeinschaftsschu

len werden wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, im neuen Jahr nochmals zu reden haben.

(Abg. Volker Schebesta CDU: Unseretwegen nicht!)

Aber wir werden hier darüber reden.

Die Aufhebung der zwingenden Zweizügigkeit und der ver pflichtenden Zusammenarbeit mit den Berufsfachschulen sind als wesentliche Punkte des Gesetzentwurfs hier bereits ange sprochen worden. Natürlich haben wir auch im Ausschuss da rüber debattiert und uns über die Details verständigt. Deshalb möchte ich hier nur noch ganz wenige Anmerkungen machen.

Mit dem Prinzip der zwei Geschwindigkeiten – der Haupt schulabschluss kann in neun oder in zehn Jahren erreicht wer den – sollen auch die schwächeren Schüler bzw. die Spätent wickler eine Chance bekommen. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, soll da mit weiter gesenkt werden.

Liebe Kollegin Kurtz, das, was Sie hier zur Binnendifferen zierung gesagt haben, können wir uns in der Praxis nicht vor stellen. Ich darf Sie hierzu an meine Einlassungen im Bil dungsausschuss erinnern: Als Lehrer an beruflichen Schulen kennen wir die Binnendifferenzierung. Wir haben in ein und derselben Klasse Hauptschüler, Realschüler, Werkrealschüler und Abiturienten; alle diese Schüler müssen in zwei, zweiein halb oder drei Jahren zum Abschluss kommen. Ich bin daher ganz zuversichtlich: Die Lehrerinnen und Lehrer können das; da habe ich gar keine Bedenken.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Im Übrigen wird der Bildungsplan weiterhin bis Klasse 10 gelten. Was die Schulbezirke betrifft, so ist klar, dass wir ab 2016 keine Schulbezirke mehr haben werden.

Natürlich wissen wir, dass wir mit dem Angebot einer struk turellen Veränderung – zehnte Klasse Werkrealschule und/ oder Gemeinschaftsschule – nicht plötzlich neue Schülerin nen und Schüler bekommen werden. Für manche bleibt es in der Tat angeraten, nach Klasse 9 einen Schulwechsel vorzu nehmen. Deshalb werden die beruflichen Schulen wohl auch nur vorübergehend einen Einbruch bei den Berufsfachschu len erleben.

Dass angesichts solcher Ungewissheiten ein Stellenbedarf nur prognostiziert werden kann, versteht sich meiner Meinung nach von selbst. Heute gehen wir von einem zusätzlichen Be darf von 250 Stellen für das zehnte Schuljahr an der Werkre alschule aus. Eine Nachsteuerung kann durchaus notwendig werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rolle der Berufsfach schule im Übergangssystem – Stichwort Werkrealschule als „Rettungsanker“ – will ich heute gar nicht thematisieren. Nur noch so viel: Bei der Abschaffung und der Auslagerung an die Berufsfachschule geht es nicht nur um die in der Vorlage be reits aufgeführten Beförderungskosten – die sich sicherlich in erheblichem Umfang ansammeln würden. Wie sollte das denn funktionieren? Man stelle sich vor, dass vor der Schule an zwei Tagen in der Woche Kleinbusse oder vielleicht sogar Ta xis stehen, um die Schülerinnen und Schüler in die verschie denen Berufsschulen zu bringen!

Ich glaube, vielen hier ist gar nicht bekannt, in welchen Struk turen diese Berufsfachschulen nach dem Schulgesetz möglich sind. Wir haben im kaufmännischen Bereich zwar nur eine Be rufsfachschule, aber im gewerblich-technischen Bereich gibt es die Richtungen Bautechnik, Metalltechnik, Holztechnik, Elek trotechnik, Farbtechnik und Raumgestaltung, Fahrzeugtechnik, Labortechnik. Im Bereich Ernährung und Gesundheit gibt es ebenfalls eine Differenzierung in drei Unterarten.

All diese Berufsfachschulen gibt es heute an den beruflichen Schulen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, je nach Region wä ren dann mindestens zwei, wahrscheinlich aber drei oder vier oder vielleicht sogar noch mehr Berufsschulen anzufahren ge wesen. Oder wollten Sie vielleicht mit dem alten Gesetz alle Werkrealschüler und -schülerinnen in eine Berufsschule schi cken? Ich glaube, das kann nicht ernsthaft gemeint gewesen sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich teile auch die Meinung eines Schulleiter- und Lehrerkollegen, der mir geschrieben hat, die Auslagerung des Unterrichts im zehnten Schuljahr an zwei Tagen an die Berufsfachschule hätte zu einem pädago gischen Chaos und auch zu einer Überforderung der Schüle rinnen und Schüler geführt. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an unsere Debatte am 13. Oktober hier im Haus, als Kol lege Käppeler die Reaktionen von Schulleitern und Schulbe hörde beschrieben hat: Fassungslosigkeit und allseitiges Kopf schütteln über diese organisatorische Fehlkonstruktion. Ich glaube, der damals gewählte Begriff war noch etwas drasti scher.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Lehrer an beruflichen Schulen kennen wir die Dysfunktionalität, die auf dem Aus bildungsmarkt besteht. Einerseits fehlt bei vielen Jugendli chen die Ausbildungsreife; das wissen wir. Andererseits gibt es zunehmend mehr Anforderungen an Auszubildende. So kommt es eben auch dazu, dass offene Ausbildungsplätze ei ner nicht versorgten Anzahl von jungen Menschen ohne Aus bildungsstelle gegenüberstehen. Die Erwartung der Auszubil denden an die Berufsausbildung korrespondiert eben auch nicht hinreichend mit den angebotenen Strukturen. Denken Sie nur an die Zahl der Ausbildungsabbrecher.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Problem dieser Dys funktionalität zwischen Bildungssystem...

(Glocke des Präsidenten)

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.

... – sofort, ja – und Beschäf tigungssystem wird mit den bisherigen Ansätzen der Berufs orientierung sicher nicht gelöst. Wir brauchen hierfür neue Konzepte, und ich denke, wir brauchen endlich auch einen „Rettungsschirm“ für die Bildung. Ich wähle diesen Begriff ganz bewusst, weil Bildung sehr viel mit Finanzen zu tun hat und mittlerweile wohl auch hinreichend bekannt ist, dass es nur eines gibt, was teurer ist als Bildung, nämlich keine Bil dung. Mark Twain hat es einmal ganz treffend formuliert: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn der letzte Dollar weg ist.“ Ich denke, das gilt auch für den Euroraum.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Für die FDP/DVP-Frak tion erteile ich Herrn Abg. Dr. Kern das Wort.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Jetzt kommen wie der ein paar „Kern“-Aussagen!)

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Die grün-rote Landesregierung ist an getreten mit dem Ziel, mehr Bildungschancen zu schaffen.