Protokoll der Sitzung vom 29.01.2020

Antrag der Fraktion der AfD und Stellungnahme des Staats ministeriums – Beendigung der EU-Beitrittsgespräche und der EU-Heranführungshilfen für die Türkei – Drucksache 16/2175

Auch hier gilt laut Präsidiumsbeschluss eine Redezeit von fünf Minuten für die Begründung und in der Aussprache eine Re dezeit von fünf Minuten je Fraktion.

Zuerst spricht Herr Abg. Sänze für die AfD.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Zunächst bin ich erfreut, dass wir in diesem Parla ment mit einem solchen Affenzahn arbeiten; wir behandeln heute unseren Antrag vom 4. Juni 2017. Allerdings ist dieser nach wie vor aktuell.

(Abg. Nicole Razavi CDU: Das ist hoffentlich keine Beleidigung! – Abg. Carola Wolle AfD: Das ist eine Tatsache!)

Das ist keine Beleidigung, sondern eine Aussage über Effi zienz.

Die Türkei und Deutschland sind schon sehr lange miteinan der verbunden. Ob es gut oder schlecht war, ausgerechnet tür kische Gastarbeiter in den Sechzigerjahren nach Deutschland anzuwerben, sei dahingestellt; das Urteil überlasse ich der Historie. Vielleicht wäre es besser gewesen, die eigene Iden tität verstärkt zu reflektieren und eine nationale Debatte dar über zu führen, was es bedeutet, unterschiedliche Kulturen zu sammenzubringen, wie die Langzeitwirkung ist und in wel cher Weise das für eine Gesellschaft überhaupt tragbar ist.

Vielleicht war die damalige Bundesregierung von der deut schen Romantik und hochstilisierten Mystik des Osmanischen Reiches doch zu sehr fasziniert; vielleicht aber war es auch nur die simple Waffenbrüderschaft mancher Regierungsmit glieder aus dieser Zeit.

(Beifall bei der AfD)

Diese Mystik in Bezug auf das deutsch-türkische Sozialver sicherungsabkommen verstärkt das Ganze noch; dies wird uns mit der Türkei – mehr oder weniger – auf ewig verbinden. Al lerdings meinen wir, dass wir uns zwischenzeitlich eine fünf te Kolonne ins Land geholt haben. Vergessen Sie aber nicht: Fakt ist, dass sich die Türkei in den letzten Jahren selbst ins politische Aus manövriert hat, zumindest was den EU-Beitritt angeht. Denn durch das türkische Verfassungsreferendum, durch die Gleichschaltung der Medien, durch die enorme Ver haftungswelle hat sich die Türkei schließlich zu dem entwi ckelt, was sie heute ist: eine Autokratie. Der Laizismus – von Kemal Atatürk eingeführt – liegt am Boden. Erdogan hat den politischen Islam zur Staatsdoktrin erhoben. Die Türkei hat sich somit selbst ins Aus bugsiert.

Zwischenzeitlich scheint dies wohl auch das EU-Parlament erreicht zu haben. Es hat einer Aussetzung der Beitrittsver handlungen zugestimmt. Die Kommission attestiert der Tür kei ein mangelhaftes Zeugnis bezüglich der Beitrittskriterien.

Antizipieren wir die derzeitige Lage in der Türkei, also schau en wir voraus: ein zu 99 % islamischer Staat, der in einigen Jahren 90 Millionen und mehr Einwohner haben wird, dessen Staatsführung das Osmanische Reich wiederauferstehen las sen will, ein Staat, der mit fast allen Nachbarn im Clinch liegt, ein Staat, der das eigene Volk terrorisiert, ein Staat, der Glau bensgemeinschaften schwer akzeptieren kann, ein Staat, der alle islamischen Balkanstaaten mit Infrastrukturmaßnahmen inklusive Moscheebau unterwandert und abhängig macht. Meine Damen und Herren, spätestens jetzt könnten Sie Ihre EU-Träume endgültig begraben, und zwar schneller, als Sie Amen – Verzeihung, ich meine natürlich Amin – sagen kön nen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Dann müssten Sie mir erklären, wie die Türkei den Green Deal der EU umsetzt. Diese Frage ist dann offen.

Wir könnten auch Beitrittsverhandlungen mit den MaghrebStaaten aufnehmen, und warum nicht gleich mit allen Staaten entlang der Seidenstraße?

(Abg. Dr. Heiner Merz AfD: Bringen Sie die anderen auf keine Idee! – Gegenruf der Abg. Dr. Christina Baum AfD – Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD)

Da muss ich mich entschuldigen. Vielleicht ist der Gedan ke schon manifestiert, und sie denken schon darüber nach.

Die AfD-Landtagsfraktion steht weiterhin dafür, jegliche Bei trittsgespräche sowie Heranführungshilfen für die Türkei ein zufrieren,

(Beifall bei der AfD)

die Hermesbürgschaften zu kündigen und Erdogans Agenten sofort auszuweisen, und zwar ohne Wenn und Aber, wider al le Träume von einem osmanischen Großreich.

Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD und des Abg. Dr. Wolfgang Ge deon [fraktionslos] – Abg. Dr. Christina Baum AfD: Bravo!)

Für die Fraktion GRÜNE spricht Herr Abg. Frey.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Da men und Herren! Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Rom im Jahr 1957 wurde das Fundament für die Europäische Union, wie sie heute existiert, geschaffen. Schon damals war die primäre Motivation der Gründung die langfristige Siche rung des Friedens. Nach jahrzehntelangem Grauen, ausgelöst durch zwei Weltkriege, die auf europäischem Boden getobt hatten, sehnten sich die Menschen in Europa nach Sicherheit und Stabilität. Seither schreitet die europäische Integration fort und garantiert uns täglich ein friedliches und solidarisches Miteinander sowie anhaltenden wirtschaftlichen Erfolg.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen – Zuruf von der AfD: Halleluja!)

Als letztes Land ist Kroatien der EU beigetreten. Das Verfah ren für den Beitritt zur EU ist heute klar geregelt. Um der EU beitreten zu können, muss ein Staat die Kopenhagener Krite rien erfüllen, die z. B. institutionelle Stabilität beinhalten. Fällt ein Staat in die Kategorie der EU-Beitrittskandidaten, kann er durch das Instrument für Heranführungshilfe – kurz IPA ge nannt – bei der Erfüllung genau dieser Kriterien unterstützt werden. IPA umfasst Mittel für die Unterstützung in den Be reichen des Institutionsaufbaus, der Demokratisierung, der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, der Zivilgesellschaft, der regionalen Entwicklung sowie der Entwicklung des länd lichen Raums. Die Türkei steht seit Oktober 2005 in Beitritts verhandlungen mit der EU.

Die AfD fordert nun heute in ihrem Antrag die Landesregie rung auf, sich auf Bundes- und europäischer Ebene für den kompletten Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Tür kei einzusetzen.

(Zuruf von der AfD: Worauf warten Sie denn noch?)

In Anbetracht der sich verschlechternden politischen Lage in der Türkei muss man einige Fakten dazu berücksichtigen. Der Finanzrahmen von 2014 bis 2020 sieht Hilfsmittel – diese

IPA-Hilfsmittel – für alle Beitrittskandidaten in Höhe von ins gesamt 11,5 Milliarden € vor. Davon wurden ursprünglich – über die sieben Jahre verteilt – 3,4 Milliarden € für die Tür kei bereitgestellt. Diese Mittel wurden jedoch seit 2018 ge kürzt, wie es eben auch sein muss,

(Abg. Carola Wolle AfD: Der Antrag ist ja auch von 2017!)

wenn die Bedingungen nicht eingehalten werden. Im Jahr 2020 werden sie sogar um 75 % gekürzt, sodass sich die Mit tel in diesem Jahr nur noch auf 168 Millionen € belaufen.

Die verbleibenden Vorbeitrittshilfen fließen heute zum größ ten Teil in den Bereich „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, aber auch teilweise in ein Programm für den ländlichen Raum in der Türkei.

(Zuruf des Abg. Stefan Räpple AfD)

Angesichts rückschrittlicher Entwicklungen wäre es der fal sche Weg, die Türkei außenpolitisch komplett zu isolieren und sie dazu zu bringen, sich vollständig von Europa abzuwen den.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und des Abg. Peter Hofelich SPD)

Stattdessen muss die EU in ihrem eigenen Interesse gerade jetzt dafür sorgen, dass in der Türkei Reformprozesse, demo kratische Kräfte und die Zivilgesellschaft weiterhin gestärkt werden.

(Lachen bei Abgeordneten der AfD)

Die EU kann so Einfluss ausüben, damit z. B. gewählte Bür germeisterinnen und Bürgermeister nicht deshalb abgesetzt werden, weil sie dem Präsidenten gerade nicht passen. Es muss ein kritischer Dialog gefördert werden, und die zur Ver fügung stehenden Mittel müssen effektiv genutzt werden, um in der Türkei positive Entwicklungen hervorzurufen.

Der Antrag der AfD, aber auch die Rede von Herrn Sänze sind klar davon motiviert, eine europäische Identität von einer tür kischen Identität abzugrenzen –

(Zuruf des Abg. Dr. Heiner Merz AfD)

ganz im Sinne der rassistischen Aussage Ihres Parteichefs Gauland,

(Abg. Daniel Rottmann AfD: Der ist nicht mehr Par teichef!)

die türkischstämmige ehemalige Staatsministerin Aydan Özo guz – ich zitiere – „in Anatolien zu entsorgen“.

(Abg. Anton Baron AfD: Oh!)

Ihr Antrag setzt auf Ausgrenzung und Konfrontation.

Ein Abbruch der Kommunikation zwischen der EU und der Türkei würde den Frieden in Europa gefährden.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen – Lachen bei Abgeordneten der AfD)

Wohin Ausgrenzung und Rassismus aber führen, können wir gerade an einem Tag wie heute besonders gut nachvollziehen.

(Oh-Rufe von der AfD)

Deshalb lehnen wir Ihren Beschlussantrag ab.