Der zweite schwere Fehler der Regierung Stoiber und auch der CSU-Mehrheit im Bayerischen Landtag waren schwere Versäumnisse beim Verbraucherschutz. Seit 1994 beantragte die SPD in diesem Hause nahezu jährlich ein Herstellungs– und Verfütterungsverbot für Tiermehl. Jahr für Jahr wurden unsere Anträge abgelehnt,
zuletzt ein Antrag im Jahre 1997, in dem gefordert wurde, wenigstens so lange die Verfütterung von Tiermehl auszusetzen, bis zweifelsfrei geklärt ist, welche Gefahren von Tiermehl ausgehen. Die Antwort von Frau Staatsministerin Stamm lautete damals: „Die Entsorgung der Tierkörper, Tierkörperteile oder des Tiermehls würde weitere Kosten verursachen, die die Erzeuger oder Verbraucher zu tragen hätten, ohne dafür mehr Qualität oder Sicherheit zu erhalten.“ Diese für den Verbraucherschutz katastrophale Haltung hat das Sozialministerium noch bis zum November letzten Jahres aufrechterhalten.
Bei der Sitzung des BSE-Krisenstabes im Bundeslandwirtschaftsministerium am 25. November letzten Jahres sprach sich als letzter und einzig und allein der Vertreter Bayerns gegen einen nationalen Alleingang beim Verbot der Tiermehlherstellung aus. Noch schwerer wiegt, dass in Bayern nicht schon früher ein BSE-Schnelltest eingeführt wurde. Ein solcher wurde am 20. Oktober 1999 von meiner Fraktion beantragt und endgültig von der CSUMehrheit am 18. Mai 2000 abgelehnt. Dabei hatte der Bundeslandwirtschaftsminister bereits im Juni 1999 die Länder darauf hingewiesen, dass diese Schnelltests Möglichkeiten zur Verbesserung der Überwachung auf BSE eröffneten. Jetzt rühmt sich die Staatsregierung damit, BSE-Schnelltests endlich eingeführt zu haben. Dies wäre sehr viel früher notwendig und richtig gewesen, wurde in diesem Hause aber leider zum Schaden Bayerns, seiner Verbraucher und seiner Landwirte von der CSU-Mehrheit abgelehnt.
Unverantwortlich war die Bremserrolle Bayerns in Berlin. Bei aller berechtigten Kritik, die es sicherlich auch an der Bundesregierung zu üben gilt, waren es leider stets die zuständigen bayerischen Minister Stamm und Miller, die sich in Berlin vehement gegen mehr Verbraucherschutz eingesetzt haben.
Als von der Europäischen Kommission schon im Juni letzten Jahres beschlossen wurde, Risikomaterialien, also Gehirn, Rückenmark und Augen, bei der Tiermehlherstellung zu entfernen und gesondert zu beseitigen, weil sie als besonders gefährlich gelten, versuchte Frau Stamm zunächst mit Schreiben vom 15. Juni 2000 an Bundesgesundheitsministerin Fischer, eine ablehnende Haltung Deutschlands in dieser Frage zu erreichen. Wörtlich schreibt Frau Stamm: „... bitte ich Sie, bei den kommenden Beratungen im ständigen Veterinärausschuss und auch im Rat Ihren Einfluss geltend zu machen, dass die von der Europäischen Kommission ins Auge gefasste Regelung nicht zum Tragen kommt.“
Als die Europäische Kommission dankenswerterweise am 29. Juni beschlossen hatte, entgegen dem Wunsch Bayerns gesundheitsgefährdende Risikomaterialien aus der Tierfutterproduktion herauszunehmen, protestierte ausgerechnet die für Verbraucherschutz und Gesundheit
zuständige bayerische Ministerin Stamm erneut, diesmal mit Schreiben vom 23. August 2000 an Bundeslandwirtschaftsminister Funke, gegen die beschlossenen Maßnahmen, weil sie, so wörtlich, geeignet seien, den Verbraucher zu verunsichern und mit unzumutbaren Beeinträchtigungen für unsere Land– und Forstwirtschaft verbunden seien. Mehr noch: Sie fordern sogar die Bundesregierung auf, die Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof überprüfen zu lassen und „fristgerecht Klage zu erheben und die einstweilige Aufhebung der Entscheidung beim Gerichtshof zu beantragen.“
Die Entscheidung, Risikomaterialien aus der Tiermehlproduktion herauszunehmen, wollten Sie sogar auf dem Klageweg verhindern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer als Gesundheitsministerin solches schreibt und verlangt, kann nicht Gesundheitsministerin bleiben.
(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Starzmann (SPD): Diese Frau lädt Schuld auf sich! – Prof. Dr. Gantzer (SPD): Ab ins Kloster! – Hofmann (CSU): Jedes Pfund Dummheit gehört hier bestraft!)
Dieses Vorgehen von Frau Stamm ist skandalös und unverzeihlich. Da hilft es auch nichts, angesichts unserer Rücktrittsforderung persönlich die Beleidigte zu spielen.
Liebe Frau Stamm, eine Rücktrittsforderung ist in einer Demokratie keine Majestätsbeleidigung, sondern sie ist in diesem Fall berechtigt.
Ebenso hanebüchen war die Haltung der Bayerischen Staatsregierung, als es im Sommer darum ging, Deutschland als BSE-Risikoland einzustufen. Herr Dr. Stoiber, Sie haben darüber gesprochen. In einem Expertengespräch am 13. April 2000 im Bundeslandwirtschaftsministerium bestand – ausweislich des Ergebnisprotokolls, das jetzt Bundeslandwirtschaftsminister Funke zu Recht vorgehalten wird und aus dem ich zitiere – „einhellig die Meinung, dass von politischer Seite Vorbereitungen für den ersten Fall von einheimischer BSE in Deutschland getroffen werden sollten.“ Die Einschätzung des EU-Kommissars Byrne im Frühjahr letzten Jahres, dass man Deutschland als BSE-Risikoland einstufen sollte, war richtig. Und sicherlich war es falsch von Landwirtschaftsminister Funke, dass er diese Warnung nicht ernst genug genommen hat.
Was aber war die Reaktion aus Bayern? – Eilends schreibt Landwirtschaftsminister Miller an seinen Amtskollegen in Berlin und protestiert gegen die Absicht der Europäischen Union. „Deutschland ist nach wie vor BSE-frei“, schreibt Miller im Mai 2000 an Funke. Und weiter: „Eine Risikoeinstufung wie vorgesehen hätte für unsere Land- und Ernährungswirtschaft erhebliche finanzielle Belastungen zur Folge. Unter anderem müssten die Risikomaterialien getrennt erfasst und vernichtet werden. Das deutsche System zur Entsorgung und Verwertung von Schlachtabfällen... ist anerkanntermaßen
sicher in der Abtötung des BSE-Erregers.“ Im Übrigen halte er, Miller, die Pläne der Kommission für diskriminierend und bitte daher, „mit Nachdruck für die Einstufung Deutschlands als BSE-frei einzutreten.“
Bayern ist also, anders als Stoiber immer wieder glauben machen will, nicht an der Spitze der BSE-Bekämpfung gestanden. Vielmehr hat die Regierung Stoiber nachweislich sinnvolle Maßnahmen ausgebremst, blockiert, verzögert und verhindert.
Die Vorkommnisse bei der Futtermittelherstellung in Bayern, die von der angesprochenen Delegation der Europäischen Union an das Tageslicht gebracht wurden – Gott sei Dank endlich an das Tageslicht gebracht wurden –, sind unvorstellbar. Die Kontrollen waren offenkundig völlig unzureichend. Anders wäre es auch nicht zu erklären, dass die ertappte Staatsregierung jetzt endlich viel zu spät beschlossen hat, die Kontrollen im Vergleich zum Jahr 1999 auf künftig zirka 5000 Proben im Jahr zu verzehnfachen.
In Bayern produzieren 51 Futterfabriken Kraftfutter für Wiederkäuer. 17 Fabriken verwenden Tiermehl, davon verfügen nur zwei über getrennte Produktionslinien. Die verbleibenden 15 Fabriken verwenden Tiermehl in derselben Produktionslinie, in der Futter für Wiederkäuer hergestellt wird. Auf den gleichen Aufnahmerampen und Transportbändern werden Tiermehl und andere Rohmaterialien verladen. Eine Säuberung nach Aufnahme von Tiermehl ist nicht vorgesehen. Für Tiermehl- und beispielsweise Sojalieferungen werden die gleichen Lastwägen verwendet. Klare Anweisungen an die Lastwagenfahrer, dass sie ihren Wagen nach jeder Lieferung säubern sollten, bestanden in Bayern nicht. In Nordrhein-Westfalen dagegen bestehen klare Abgrenzungen der Produktionslinien, die Belegschaften inklusive Säuberungspersonal und die Lastwagenfahrer werden instruiert, und es gibt ein internes Training, das auf das Problem der Verunreinigung zugeschnitten ist.
Wen kann es angesichts dieser beispiellosen Schlamperei in Bayern noch verwundern, dass in drei von vier der entnommenen Kraftfutterproben Reste von Tiermehl gefunden wurden, obwohl dieses Kraftfutter für Wiederkäuer vorgesehen war und die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer seit 1994 verboten ist?
Da hilft es auch nicht, dass Grenzwerte bis 1% bzw. 0,5% rechtlich zugelassen waren; denn darüber wurde die Öffentlichkeit ja im Unklaren gelassen. Die Landwirte waren mit Recht der Auffassung, dass tiermehlfreies Kraftfutter auch tatsächlich tiermehlfrei wäre.
Sie haben auf die Auskunft der Hersteller und auf die Auskunft der Politik vertraut und ihren Metzgern und dem Verbraucher guten Gewissens versichert, dass garantiert kein Tiermehl in das Kraftfutter gelangt sein kann. Deshalb hätte man durch geeignete Maßnahmen und organisatorische Vorkehrungen wie zum Beispiel Spülchargen und anderes wie in Nordrhein-Westfalen dafür Sorge tragen müssen, dass die Toleranzgrenze für Tiermehl im Kraftfutter auf Null gedrückt wird. Dieses ist in Bayern aber unterlassen worden. Damit haben Sie schweren Schaden über unser Land gebracht.
Schlampig ging es auch bei den Nachuntersuchungen von Gehirnproben BSE-verdächtiger Rinder in Bayern zu. Bei einer Vielzahl von Gehirnproben verdächtiger Rinder wurde überhaupt keine abschließende labordiagnostische Untersuchung durchgeführt. Im Landesuntersuchungsamt Süd wurden beispielsweise 1998214 Hirnproben eingesandt. Davon kamen 158 von Tieren, die zentralnervöse Störungen gezeigt hatten. Lediglich 24 davon wurden tatsächlich auf BSE getestet; die anderen 134 Gehirnproben wurden schlicht weggeworfen, weil sie verdorben oder tiefgefroren waren. An tiefgefrorenen Gehirnen kann man keinen BSE-Test durchführen.
Von einer verantwortungsbewussten oder gar konsequenten risikovermeidenden und vorsorgenden Untersuchungspraxis kann in Bayern leider überhaupt keine Rede sein.
Hinzu kommt, dass sämtliche Dienststellen, die im Verantwortungsbereich der bayerischen Ministerien für Gesundheit, Verbraucherschutz und Futtermittelkontrolle zuständig sind, völlig überlastet und unterbesetzt sind. So ist zum Beispiel die im Bayerischen Landesamt für Ernährung für die Futtermittelkontrolle zuständige Stelle, die neben der Kontrolle von mindestens 65 Futtermittelfabriken auch noch mit anderen Aufgaben betraut ist, mit sage und schreibe 1,5 Mitarbeitern besetzt. Es gibt 1,5 Mitarbeiter für diese Aufgabe. Die Tatsache, dass die für Verbraucherschutz im Sozialministerium zuständige Dienststelle schon bei der Schweinepest 1997 hoffnungslos unterbesetzt und überfordert gewesen ist, hat leider zu keinerlei Verbesserungen und Gegenmaßnahmen geführt.
Untersuchungen und Verdachtsfälle wurden in Bayern, wenn überhaupt, besonders zögerlich und unverantwortlich langsam abgewickelt. Im Fall der Kuh „Heidi“, dem ersten BSE-Fall in Deutschland, vergingen sogar sieben Wochen zwischen Krankschlachtung und Feststellung eines positiven BSE-Ergebnisses. Als am 2. November nach einer Krankschlachtung der Kopf des Tieres abgetrennt und mit dem Vermerk „BSE-Verdacht“ an das Landesuntersuchungsamt für Gesundheitswesen in Oberschleißheim geschickt wurde, wird dort der verfügbare
BSE-Schnelltest leider nicht angewendet. Stattdessen wird das Gewebe in Formalin eingelegt und bleibt erst einmal drei Wochen liegen. Nachdem ein histologischer Test ein negatives Ergebnis erbringt, bleibt das Gewebe unerklärlicherweise weitere zwei Wochen unbearbeitet in Oberschleißheim liegen. Wochen wichtiger Zeit wurden dadurch verloren. Der Kreisobmann des Bayerischen Bauernverbandes aus dem betroffenen Landkreis Weilheim-Schongau meint dazu – ich zitiere –: „Es ist ein schlechter Stil des Ministeriums für Gesundheit, dass es so lange gedauert hat, bis Verbraucher und Bauern informiert werden. Diesen Vorwurf kann ich dem Ministerium nicht ersparen.“
Als Ministerin Stamm zuletzt am 28. November vergangenen Jahres im Landtag zum Thema BSE sprach, berichtete sie erneut nur von Versäumnissen der Bundesregierung. Zu BSE-Verdachtsfällen in Bayern und zu eigenen Versäumnissen hat sie leider kein Wort verloren.
Für alle diese aufgezeigten Fehler und Versäumnisse gibt es klare politische Verantwortlichkeiten. Ein Neuanfang ist nur dann glaubwürdig, wenn die für die Fehlentwicklung Verantwortlichen gehen und kein weiteres Unheil mehr anrichten können.
Ein Neuanfang ist aber auch nur dann möglich, wenn endlich eine umfassende Kurskorrektur erfolgt. Die Vorschläge der Staatsregierung, die wir bislang kennen, sind hierfür unzureichend. Sie enthalten zum größten Teil Selbstverständlichkeiten, und es wird mühsam versucht, bislang Versäumtes nun endlich und mit jahrelanger Verspätung auf den Weg zu bringen. Wirklich neu ist nur der Vorschlag, ein Landesamt für Lebensmittelsicherheit einzurichten, in dem die Zuständigkeiten für die Lebensmittelkontrolle und die Lebensmittelherstellung gebündelt werden. Diesen Vorschlag begrüßen wir. Allerdings wird es darauf ankommen, wie diese Anstalt organisiert und personell ausgestattet wird und dass sie politisch unabhängig arbeiten kann.
Auch die gestrige Entscheidung der Staatsregierung, bei BSE-Fällen zunächst keine Herdentötung mehr vorzunehmen, begrüße ich. Bereits in der vergangenen Woche habe ich diesen Vorschlag unterbreitet, und deshalb Bundeskanzler Schröder darum gebeten, eine entsprechende Änderung des Bundesseuchengesetzes prüfen zu lassen.
Darüber hinaus hält die SPD jetzt folgende Maßnahmen für dringend geboten und vordringlich erforderlich:
Erstens. Wir alle wissen zu wenig über die Entstehung der Rinderseuche. Deshalb ist die Forschung endlich zu intensivieren. Bislang wurden Forschungsvorhaben in Deutschland nicht mit dem notwendigen Nachdruck unterstützt, weil man sich selbst zu lange hochnäsig als BSE-frei eingestuft hatte. Jetzt kommt es darauf an, die
Ursachenforschung zu verstärken. Auch Milchaustauscher, Kälberstarter und Mineralfutter müssen in die Ursachenforschung einbezogen werden, weil Fette aus Tierkörperbeseitigungsanstalten häufig ein Bestandteil des Futters waren. Außerdem muss die Forschung auch neuen Spuren, wie Umwelteinflüssen, genetischen Defekten oder Inzuchtproblemen nachgehen. Wichtig ist es vor allem, die BSE-Tests zu verbessern und insbesondere Tests an lebenden Tieren zu entwickeln.
Zweitens. Tiermehl muss aus heutiger Sicht als wahrscheinlichster Verbreitungsweg gelten. Deshalb muss es endgültig und vollständig nicht nur aus der Verfütterung an Wiederkäuer allein, sondern aus der Verfütterung an alle landwirtschaftlichen Nutztiere zuverlässig herausgenommen werden. Das beantragen wir in diesem Hause schon seit 1994 vergeblich.
Die Einfuhr und die Ausfuhr von Tiermehl müssen untersagt werden, und dazu müssen strenge Kontrollen stattfinden. Wir brauchen eine offene Deklaration bei Futtermitteln, die die gesamte Rezeptur und alle Bestandteile enthält und die den Landwirten und Verbrauchern endlich Klarheit gibt.