Protokoll der Sitzung vom 07.06.2005

Der Bürger hat an den Rechtsstaat und die Justiz vor allem vier Erwartungen:

Erstens.Die Justiz soll so schnell wie möglich arbeiten.Sie soll dabei aber auch sorgfältig arbeiten.

Zweitens. Der Bürger möchte gerechte und verlässliche Entscheidungen.

Drittens. Die Verfahrensabläufe und die Entscheidungen müssen transparent und auch für den Nichtjuristen verständlich sein. Das muss eine ständige Übung für die Juristen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Justiz sein.

Viertens. Speziell bei der Strafverfolgung verlangt der Bürger ein frühzeitiges und konsequentes Handeln des Staates, damit der Rechtsfrieden wieder hergestellt und die Sicherheit gewährleistet wird.

Die Rechtsschutzgarantie in Art. 19 Grundgesetz bedeutet nicht, dass die Verfahren durch möglichst viele Instanzen getriebenen werden sollen. Ich habe das bereits gesagt. Im Gegenteil, das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder hervorgehoben, dass es keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf mehr als eine gerichtliche Entscheidung in einer Sache gibt. Wörtlich hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Asylverfahrensgesetz im Jahr 1992 ausgeführt:

Es ist Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, ob Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen statthaft sein sollen; das Grundgesetz trifft dazu keine Bestimmung...Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet keinen Instanzenzug.

Meine Damen und Herren, die Verfassung verlangt also nicht, dass der Kleinkriminelle nach seiner Verurteilung

beim Amtsgericht zwei weitere Instanzen bemühen kann. Das geltende Recht sieht es aber so vor: Der Ladendieb kann gegen die Entscheidung des Amtsgerichts zunächst Berufung zum Landgericht und gegen die Entscheidung des Landgerichts dann noch einmal Revision zum Oberlandesgericht einlegen.Dieses System ist kompliziert – ich finde es zu kompliziert – und langwierig. Es ist auch unlogisch. Denn dem Mörder, der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, steht nur ein Rechtsmittel, das der Revision beim Bundesgerichtshof, zu.

Es ist ein zentrales Anliegen der Justizreform, das gegenwärtig ausgeuferte Rechtsmittelrecht durch ein klares System der funktionellen Zweigliedrigkeit zu ersetzen. Dies bedeutet konkret, dass nach einer gerichtlichen Entscheidung nur noch eine Instanz für Fehlerfeststellung zuständig sein soll. Im Interesse der Beschleunigung soll es in der Regel keine Möglichkeit mehr geben, Entscheidungen mehrfach überprüfen zu lassen.

Meine Damen und Herren, wir stehen vor großen Herausforderungen. Die Erwartungen und das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz sind hoch. Das Funktionieren der Rechtspflege ist für unser Gemeinwesen von elementarer Bedeutung. Die Akzeptanz des Rechtsstaates hängt von seiner Tüchtigkeit ab. Dabei wird die Justiz heute durch erhebliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme zusätzlich auf die Probe gestellt.

Die anhaltend schlechte wirtschaftliche Lage unseres Landes, die zu einer Arbeitslosigkeit von 5 Millionen Menschen geführt hat, wirkt sich unmittelbar auf die Belastung der Justiz aus. Die Arbeits- und die Sozialgerichte spüren dies tagtäglich. Aber auch die anderen Gerichtsbarkeiten sind betroffen. So ist z. B. die Zahl der Zwangsversteigerungsverfahren wegen der Zahlungsunfähigkeit vieler Schuldner in die Höhe geschnellt.

Es ist nicht zu erwarten,dass die Aufgaben für die Justiz in den nächsten Jahren abnehmen werden.Im Gegenteil,wir müssen damit rechnen, dass die Lebenssachverhalte und das materielle Recht noch komplizierter werden.Als Beispiele möchte ich die Weiterentwicklung der Technik, die Internationalisierung des Rechtsverkehrs und die verstärkte Abwicklung von Geschäften über das Internet nennen. Darüber hinaus führt auch der sich abzeichnende demographische Wandel zu einem erheblichen Aufgabenzuwachs für die Justiz.So müssen wir beispielsweise damit rechnen, dass die Zahl der Betreuungsverfahren in den nächsten Jahrzehnten weiter erheblich steigen wird.

Meine Damen und Herren, hinzu kommt die Regelungswut des Gesetzgebers, die zu einem erheblichen Aufgabenzuwachs für die Justiz geführt hat. Die mehr als sechseinhalb Jahre, die Rot-Grün im Bund regiert hat, sind der negative Höhepunkt einer Überforderung des Rechts.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Heike Hof- mann (SPD): Das ist doch gar nicht wahr!)

Anstatt Bürokratie abzubauen und Verfahren zu vereinfachen, ist die rot-grüne Bundesregierung den genau entgegengesetzten Weg gegangen. Die Bilanz ist verheerend. Trotz eines so genannten Masterplans Bürokratieabbau kamen in den letzten zwei Jahren – nicht sechs, sondern zwei Jahren – 280 Gesetze und 903 Rechtsverordnungen hinzu. Es sind demgegenüber nur wenige gestrichen worden.

(Heike Hofmann (SPD):Auch das ist nicht wahr!)

Besonders unverständlich ist die Absicht von Rot-Grün, die bestehende Regelungsdichte – ich nehme ein be

sonders aktuelles Beispiel – durch ein Antidiskriminierungsgesetz auszuweiten, das weit über die Richtlinien der Europäischen Union hinausgeht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Heike Hof- mann (SPD): Diese alte Kamelle!)

Dass das die Vertreter von Rot-Grün nicht erfreut, kann ich mir gut vorstellen. Aber es muss immer wieder gesagt werden, damit auch die in den letzten Zügen liegende rotgrüne Bundesregierung endlich von diesem Vorhaben ablässt.

(Beifall bei der CDU – Heike Hofmann (SPD): Immer wieder Unwahrheiten verbreiten! – Zuruf des Abg. Dr. Andreas Jürgens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf ist ein Negativbeispiel für den Versuch, alle Lebensbereiche zu verrechtlichen. Rot-Grün möchte die Gesellschaft durch das Recht nach den eigenen ideologischen Vorstellungen verändern. Das kann nicht richtig sein.

Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber muss sich in Zukunft wieder auf die zentrale Funktion des Rechts in einem freiheitlichen Rechts- und Wirtschaftssystem besinnen. Kernaufgabe des Rechts ist es, Frieden zu schaffen und die Autonomie der Person zu schützen.Wer die Freiheit der Menschen beschränkt,hemmt nicht nur ihre Leistungsfähigkeit und die Leistungskraft der Wirtschaft, sondern er belastet auch die Justiz mit überflüssigen Streitigkeiten.

„Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig,kein Gesetz zu machen.“ Dieses Wort aus dem Munde von Montesquieu müssen wir wieder zum Maßstab des politischen Handelns machen.

Die hohen Herausforderungen, vor denen die Justiz steht, werfen die Kernfrage auf: Wie wollen wir den zu erwartenden Anforderungen auch in der Zukunft mit Erfolg gerecht werden? Ich befürchte, dass sich die Fraktionen von SPD und GRÜNEN in diesem Haus für die vordergründig einfachste Antwort entscheiden: die Forderung nach einer Aufstockung des Personals.

(Heike Hofmann (SPD): Das ist Unfug!)

Sie können dem nachher widersprechen oder das richtig stellen. Ich freue mich darauf.

(Heike Hofmann (SPD): Das werden wir machen!)

Dann sind wir in diesem Punkte auch hoffentlich einer Meinung.

(Reinhard Kahl (SPD): Das glaube ich weniger!)

Abgesehen davon,dass diese Vorstellung Ausdruck reiner Staatsgläubigkeit wäre, halte ich einen solchen Weg schlicht für lebensfremd. Die verfehlte Wirtschafts- und Steuerpolitik der Bundesregierung hat zu massiven Einnahmeausfällen in den Ländern geführt.Wer in dieser Situation nach zusätzlichem Personal ruft, ignoriert bewusst die katastrophale Lage, in der wir uns befinden und in der sich insbesondere die öffentlichen Finanzen befinden.

(Zuruf des Abg. Dr. Andreas Jürgens (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Meine Damen und Herren, eine weitere mögliche Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft ist die Steigerung der Effizienz justiziellen Handelns. Durch eine konsequente Modernisierung nutzen wir jetzt schon alle Möglichkeiten. Also auch hier versuchen wir, einen Bei

trag dazu zu leisten, dass Justiz effizienter wird und auf diese Art und Weise schneller und wirkungsvoller ihren Auftrag erfüllen kann.

Wir haben schon in erheblichem Umfang Rationalisierungseffekte erzielen können. Bis Ende 2004 konnten mehr als 7.500 Arbeitsplätze in der hessischen Justiz EDV-technisch voll ausgestattet werden. Ende 2006 werden wir sämtliche 120 Gerichte, Staatsanwaltschaften und Justizvollzugsanstalten modernisiert haben. Das betrifft dann über 12.000 Arbeitsplätze in der hessischen Justiz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Die Modernisierung trägt schon heute Früchte. Für den Bürger konnten Wege verkürzt und Abläufe vereinfacht werden. Das elektronische Grundbuch und das elektronische Handelsregister zeigen dies nur beispielhaft. Wir brauchen allerdings – das möchte ich hier vortragen – weiter gehende Antworten auf die gestellte Zukunftsfrage. Eine bürgerfreundliche, selbstbewusste und leistungsfähige Justiz kann mittelfristig nur gesichert werden, wenn wir die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen reformieren.

Dies hat die Konferenz der Landesjustizminister im Herbst 2004 veranlasst, parteiübergreifend eine Justizreform zu vereinbaren. Vier Schwerpunkte haben wir – ich wiederhole: auch A- und B-Länder übergreifend – verabredet, die diese Reform haben soll:

Erstens Deregulierung. Das heißt vor allem, übersichtliche und verständliche Verfahrensordnungen zu schaffen.

Zweitens Aufgabenübertragung. Das bedeutet, dass sich die Justiz auf ihr Kerngeschäft konzentriert und andere Aufgaben auf Dritte überträgt.

Drittens Konzentration von Aufgaben, insbesondere durch eine effektivere Gestaltung von Strafverfahren sowie

viertens Qualitätssicherung, z. B. durch eine Ausweitung der Fortbildung und Stärkung der Führungsverantwortung von Richtern und Staatsanwälten.

Meine Damen und Herren, auch das will ich ganz freimütig sagen: Das Ziel einer grundlegenden Justizreform ist keine neue Erfindung der Justizministerkonferenz. Ich zitiere aus einer Stellungnahme des Richterbundes in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2003. Dort heißt es wortwörtlich:

Auch die Justiz muss wirtschaftliche Umstände berücksichtigen. Sie muss Verfahren optimieren und eine Aufgabenkritik vornehmen... Es muss klar gesagt werden, dass auch die Justiz unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht alles leisten kann, was wünschenswert ist.

Der Richterbund fährt fort:

Um die Funktionsfähigkeit der Justiz für die vom Grundgesetz gestellten Aufgaben sicherzustellen, müssen aber auch der Zugang zu den Gerichten und die Organisation der Verfahren auf das Notwendige beschränkt und Missbrauch ausgeschlossen werden.

So weit der Richterbund. Diese Ausführungen decken sich voll und ganz mit den Zielvorgaben der Justizminister.

Aus den zahlreichen Vorschlägen für die Justizreform möchte ich einige Punkte hervorheben, die mir persönlich besonders wichtig sind:

Zur Deregulierung gehört die Vereinheitlichung von Verfahrensordnungen. Gegenwärtig haben wir für jedes Rechtsgebiet ein eigenes Prozessgesetz. Schon eine erste Durchsicht dieser Gesetze zeigt, dass sie eine Vielzahl gleich lautender Bestimmungen enthalten. Es macht daher Sinn, zumindest die Verfahrensgesetze von verwandten Rechtsgebieten zusammenzufassen. So können Gesetze abgebaut und Abläufe für den Bürger verständlicher und transparenter gestaltet werden.

Konkret stelle ich mir vor, dass wir die Verwaltungsgerichtsordnung und das Sozialgerichtsgesetz auf der einen Seite und die Zivilprozessordnung und das Arbeitsgerichtsgesetz auf der anderen Seite zusammenführen.