Protokoll der Sitzung vom 03.03.2011

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Für Politiker kann nur der Rahmen entscheidend sein, und der heißt: Integration, Verfassungstreue, Beherrschen der Amtssprache, Eingliederung ins Berufsleben und bestmögliche Förderung der Kinder – in der Schule genau wie in der Familie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade von der Union, da sollten Sie sich einmal überlegen, ob Ihre reflexhafte Reaktion auf Herrn Erdogan nicht ebenfalls ein Teil des Problems ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Ich muss Ihnen sagen: Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschend, egal ob sie einen türkischen oder sonstigen Migrationshintergrund haben, betrachte ich als die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes; da mag Herr Erdogan sagen, was er will, oder sonst wer.

Eigentlich ist es doch verrückt, dass man die Uhr nach den Reaktionen der Union auf Herrn Erdogan stellen kann – genau, wie die Kaczynski-Partei auf Frau Steinbach reagiert. Am Ende ist das doch eine Situation, bei der Sie sich einmal überlegen müssen, ob die Art und Weise, in der Sie immer versuchen, das hier hochzuziehen, in irgendeiner Form irgendetwas Positives zur Integration beiträgt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Deswegen stelle ich fest: Wir sind froh darüber, wie die Vorlaufkurse angenommen werden. Am Montag war das in der Zeitung zu lesen. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Debatten hier vor zehn Jahren.

(Dr. Norbert Herr (CDU): Wir auch!)

Herr Herr, passen Sie einmal auf mit dem „Zwangsgermanisierer“. Damals haben Sie nämlich gesagt: Wir müssen unbedingt Sanktionen vorsehen, weil die hier alle kein Deutsch lernen wollen; das ist Parallelgesellschaft usw.

Am Montag habe ich in der Zeitung gelesen, dass eine Empfehlung für den Vorlaufkurs in den vergangenen Jahren von mehr als 95 % der Eltern angenommen wurde. Das sagt ein Sprecher des Kultusministeriums.

(Zuruf der Abg. Mürvet Öztürk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Holger Bellino (CDU): Das zeigt, dass wir das gut gemacht haben!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zweite sehr Interessante: 919 von insgesamt 7.773 Kindern in den Vorlaufkursen, also 12 %, haben Deutsch als Muttersprache. Das heißt, wir haben es hier offensichtlich nicht nur mit einem Migrationsproblem zu tun, wir haben es mit einem sozialen Problem zu tun.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

In Familien, in denen der Fernseher die Kommunikation übernimmt, ist die Kommunikationsfähigkeit der Kinder am Ende nicht mehr gegeben – und zwar egal, in welcher Sprache der Fernseher läuft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Insofern müssen wir uns die Frage stellen, was hier real gemacht wird. Herr Hahn amselt sich zwar immer als größter Integrationsminister der nördlichen Halbkugel auf, hat aber in den letzten zwei Jahren faktisch nichts gemacht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Die zweite Frage, die wir uns stellen müssen – –

Herr Al-Wazir, die sechs Minuten sind erreicht.

Ich komme zum Schluss. – „Zwangsgermanisierer“. Ich bitte, weil es schon wieder im Landtagsprotokoll auftaucht, die Kollegen der Union, die das immer behaupten, einmal die Belegquelle zu nennen, wann wer wen „Zwangsgermanisierer“ genannt hat. Ich habe nur eine einzige Quelle gefunden. Das war Hans Maier, der vor 30 Jahren der Berliner SPD Zwangsgermanisierung vorgeworfen hat, weil sie gesagt hat: Keine Türkenklassen mehr zur Erhaltung der Rückkehrfähigkeit, sondern Unterricht in Deutsch zur Integration.

Herr Herr, Herr Irmer, ich bitte Sie, nennen Sie einmal die Quelle. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Herr Al-Wazir, vielen Dank. – Für die Landesregierung spricht Herr Staatminister Hahn.

(Vizepräsident Heinrich Heidel übernimmt den Vorsitz.)

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der türkische Premierminister Erdogan hat am vergangenen Sonntag ganz offensichtlich in seiner Funktion als Parteivorsitzender in Düsseldorf eine Rede vor sicherlich über 10.000 Menschen gehalten, zum zweiten Mal. Vor drei Jahren war es in Köln, dieses Wochenende war es in Düsseldorf. Er hat dort Sätze gewählt, die man als Zitate in einer Vielzahl von Medien nachlesen kann. Eines der Zitate ist vom Kollegen Tipi bereits benannt worden. Ich möchte es wiederholen: „Unsere Kinder hier müssen gut Deutsch lernen, aber sie müssen erst gut Türkisch lernen.“

Darüber hinaus hat Herr Erdogan in dieser Rede in Düsseldorf festgehalten, dass niemand mit Gewalt eine Identität aufgezwungen werden soll. Er hat weiterhin – ich will das in einen Kontext setzen – darauf hingewiesen, dass die Türkei eine Schutzmacht für die über alle fünf Kontinente verteilten Türken, auch die in Deutschland und in Libyen, sei. Das ist ein Zitat. Er hat in diesem Zusammenhang auch noch – das fand ich besonders beachtenswert – die Rüstungsprojekte des Landes Türkei zur Sprache gebracht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, eigentlich geht es den Hessischen Landtag und den hessischen Integrationsminister nichts an, so etwas zu bewerten, weil eigentlich eine parteipolitische Rede gehalten worden ist.

Aber damit wir machen es uns zu einfach. Ich höre eben wieder von Herrn Kollegen Al-Wazir und vorher von anderen Oppositionsabgeordneten, es werde immer reflex artig etwas gemacht. Aber sind wir nicht verpflichtet, auf diese Rede hier einzugehen?

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Sind wir nicht verpflichtet, darauf hinzuweisen und auch ein bisschen zu hinterfragen: Was wollte uns Herr Erdogan damit sagen? Ich habe das Gefühl, dass Herr Erdogan nicht nur – er hat es in Köln vor drei Jahren schon einmal getan, teilweise wortgleich – eine Rede halten wollte, um Wählerinnen und Wähler zu bekommen, sondern ich glaube, er wollte noch mehr ausdrücken.

Wollte er damit nicht vielleicht auch sagen: Wohnt in Deutschland, bleibt aber in euren Herzen Türken? Wollte er nicht sagen, dass er diese Verbindung mit der Türkei nicht nur von denen erwartet, die selbst aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, sondern dass er eine solche Einstellung auch bei den Kindern, den Enkeln und den Urenkeln erwartet?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe das Gefühl, wir können nur dann erfolgreich Integrationsarbeit machen, wenn wir die Analyse ohne Vorurteile, aber auch ohne dass wir auf einer halben Seite unseres Auges blind sind, vornehmen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das hat heute Kollege Hans-Christian Mick in hervorragender Weise für die FDP-Fraktion und, ich glaube, für das gesamte Parlament getan. Vielen herzlichen Dank, Hans-Christian Mick, für diese Rede.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben doch mit den Folgen zu kämpfen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die mit dieser Rede in Düsseldorf präpariert worden sind. Ja, wir müssen uns auch mit der Frage auseinandersetzen – ich weiß nicht, wer von Ihnen das getan hat; ich glaube, es war der Kollege Merz –: Warum hält Erdogan eine solche Rede in Deutschland? Es ist vollkommen richtig. Das kann man tun, und ich bin sofort dabei. Ich glaube, wir beide sind in diesem Punkt nicht weit voneinander entfernt. Aber wir müssen uns auch darüber unterhalten, welche Folgen es hat.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will Ihnen eine sehr drastische Folge sagen. Am kommenden Wochenende findet eine Veranstaltung der DITIP statt, die einen Antrag nach Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz gestellt hat, einen bekenntnisorientierten Unterricht in hessischen Schulen durchzuführen. Sie wissen, dass ich als Person und die Landesregierung diese Antragstellung begrüßen.

Herr Kollege Al-Wazir, es ist kein Reflex. Ich darf Ihnen mitteilen, dass die gesamte Veranstaltung auf Türkisch stattfindet. Der Einzige, der in Deutsch referiert, ist der Staatssekretär im Justiz- und Integrationsministerium.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe das zur Kenntnis zu nehmen, und ich stelle fest, dass es nicht nur eine Frage ist, wie Herr Erdogan als Parteichef auftritt, sondern dass es auch eine Frage ist, wie diejenigen auftreten, die in unserem Land mit uns gemeinsam etwas erreichen wollen, aber es in Deutsch erreichen wollen und nicht in einer anderen Sprache.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Lassen Sie mich darüber hinaus sagen: Ich bin es ein biss chen müde, dass wir immer mit dem Thema Muttersprache konfrontiert werden. Für mich ist die Muttersprache die Sprache der Eltern.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ach!)

Sind wir uns darüber einig? Sind alle Ach-Sager darüber einig? – Wieso reden wir dann noch in der dritten und vierten Generation von Muttersprache? Dann ist die Muttersprache Deutsch und nicht Türkisch.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Jetzt kommt kein Ach mehr, weil Sie selbst gemerkt haben, dass Sie da untereinander brüchig werden.

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Muttersprache ist die Sprache, die zu Hause gesprochen wird!)

Wir können doch nicht sagen, dass diejenigen, die in der dritten Generation hier sind, als Muttersprache immer noch eine andere Sprache haben. Nein, das ist die Sprache der Großeltern, das ist die Sprache der Region, woher die Ahnen kommen. Das ist aber nicht mehr die Muttersprache.

Bitte hören Sie auf, zu sagen, dass sich deutsche Communitys oder andere nationale Communitys in anderen Ländern auch so verhalten. Wir haben doch ein Partnerland. Wir sind doch alle schon einmal in Wisconsin gewesen.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele von uns waren schon einmal in Wisconsin. Ich finde, es ist auch die Aufgabe eines hessischen Abgeordneten, einmal im Partnerland Wisconsin gewesen zu sein.