Protokoll der Sitzung vom 15.12.2011

In den offiziellen Statistiken werden nur 47 Menschen als Opfer aufgeführt. Diese unterschiedlichen Zahlen werfen ebenso wie die nun erst bekannt gewordenen Verbrechen der Zwickauer Terrorzelle ein Schlaglicht darauf, wie blind und taub die Verfassungsschutzbehörden mindestens zwölf Jahre lang waren.

(Holger Bellino (CDU): Hört, hört!)

Herr Bellino, das Problem wurde bei den Ausländern gesucht. Die Opfer wurden zeitweise sogar zu Tätern erklärt. Wir alle sind deshalb dringend aufgefordert, dies gründlich aufzuarbeiten und eine ehrliche öffentliche Debatte über Ursachen und Wirkungen zu führen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ehrlich müssen wir bei der Benennung der braunen Gefahr, ihrer Strukturen und ihres Nährbodens sein. Ehrlich müssen wir bei der Anerkennung der Opfer rechter Gewalt sein sowie bei dem Zugeständnis, dass es gesellschaftlich tief sitzende Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund gibt, die in Hessen oft auch noch befeuert wurden. Das gilt auch für einige Politiker.

Alle Fraktionen des Hessischen Landtags haben ihr Mitgefühl mit den Opfern zum Ausdruck gebracht. Das war wichtig und richtig. Aber das reicht natürlich bei Weitem nicht aus. Es sind bislang kaum Konsequenzen zu erkennen. Die Politik ist bis jetzt nicht ehrlicher geworden, und das macht mich wütend.

Wer am Montag die ARD-Reportage über die Opfer des braunen Terrors und deren Familien gesehen hat, musste vor Scham im Boden versinken. Man hat den Familien gesagt, ihre Söhne, Ehemänner oder Eltern seien kriminell gewesen. Man hat die Familien kriminalisiert und ihre wirtschaftliche Existenz bedroht. Der Bruder eines Opfers wurde in Abschiebehaft genommen und ausgewiesen. Die Opfer wurden jahrelang verhört und verdächtigt. Aber als die wahren Täter endlich feststanden, haben die Behörden die Familien nicht einmal informiert, geschweige denn, sich entschuldigt. Das ist beschämend.

Der Bürgermeister des Heimatorts der erschossenen Polizistin Kiesewetter sagte, die Opfer und ihre Familien würden von den Behörden noch einmal zu Opfern gemacht. Das Bundeskriminalamt hat sich nämlich erdreistet, öffentlich über Verbindungen der Familie Kiesewetter mit Nazis zu spekulieren. Das ist wieder ein Hirngespinst der Behörden zulasten der Betroffenen.

Statt Opferhilfe findet eine Opferbestrafung statt. Die Unfähigkeit und die Verantwortungslosigkeit der sogenannten Sicherheitsbehörden setzen sich also fort. Wie

lange soll das denn so weitergehen, bis endlich Konsequenzen gezogen werden?

In der ARD-Reportage am Montag mit dem Titel „Acht Türken, ein Grieche und eine Polizistin“ wurde eine für mich zentrale Frage angesprochen: Was wäre gewesen, wenn eine ausländische Terrorgruppe über ein Jahrzehnt lang Deutsche kaltblütig ermordet hätte? Ich greife diese Frage hier auf, weil damit der Finger in die Wunde gelegt wird. Wir müssen uns fragen: Wie würden die Politiker reagieren, wenn in Deutschland Türken oder Deutsche mit türkischen Wurzeln länger als ein Jahrzehnt unerkannt gemordet hätten und wenn Geheimdienste sehr fragwürdige Verbindungen zu dieser Szene gehabt hätten?

Ich glaube, man hätte die Opfer umfassend unterstützt. Ich glaube, man hätte die Menschen aus dem unterstützenden Umfeld verhaftet, deren Organisationen verboten, Behörden gefilzt und vieles andere mehr. Ich glaube auch, es hätte eine ganze Reihe von Rücktritten unter Politikern und Mitarbeitern von Behörden gegeben.

Man erinnere sich: Als in Hessen eine einzige Frau ankündigte, zukünftig verhüllt im öffentlichen Dienst zu arbeiten, hat Herr Minister Rhein sofort eine Verordnung erlassen. Das war zwar nur eine Provokation, keine konkrete Bedrohung, und trotzdem wurde mit einer sofort erlassenen Verordnung blitzschnell gehandelt – null Toleranz in ganz Hessen.

(Präsident Norbert Kartmann übernimmt den Vor- sitz.)

Aber jetzt? Sofortmaßnahmen lehnt der Herr Minister rundweg ab. Man müsse besonnen vorgehen, heißt es. Ein NPD-Verbot und den Abzug der V-Leute lehnt Herr Rhein ebenfalls ab. Man brauche weiterhin V-Leute in der NPD.

Personelle und politische Konsequenzen: Fehlanzeige. Es wurde schließlich nichts falsch gemacht. Nur im Detail muss vielleicht nachgebessert werden – aber bloß nicht öffentlich; denn Geheimdienstarbeit muss geheim bleiben, Skandal hin, Skandal her.

(Zuruf von der CDU: Das ist Unsinn!)

Im Bundestag verweigern derzeit CDU/CSU, SPD und FDP die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Die Aufklärung sei Sache der Länder, heißt es; denn der Bund habe nichts falsch gemacht. Aber auch die Länder sind der Auffassung, nichts falsch gemacht zu haben, und verweisen das Anliegen zurück an den Bund nach Berlin. So dreht sich das im Kreis.

Als einzige bisher gezogene Konsequenz sollen nun ausgerechnet die Geheimdienste noch mehr Kompetenzen erhalten. Dabei hatten sie doch schon seit Jahren alle Kompetenzen. Sie waren aber offenkundig nicht willens oder nicht in der Lage, den braunen Sumpf auszutrocknen. Das ist das Problem. Wir wollen, dass dieses Versagen endlich öffentlich durchleuchtet wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Nicht nur die Opfer und ihre Familien haben ein Recht auf Antworten. Wir haben vielmehr die Pflicht, dafür zu sorgen, dass endlich alle Bürgerinnen und Bürger Antworten erhalten. Als LINKE haben wir im Innenausschuss und im Parlament – das ist für alle nachlesbar – regelmäßig die durch Neonazis entstehenden Gefahren thematisiert. Aber die Innenminister Bouffier und Rhein haben genauso wie die Angehörigen der Fraktionen der

CDU und der FDP regelmäßig die Gefahren heruntergespielt. Dazu gebe ich Ihnen drei Beispiele:

Erstens. In Echzell wurde der Neonaziterror gegenüber den Bürgern von der Polizei lange, viel zu lange als Nachbarschaftsstreit heruntergespielt. Erst durch die Aktivitäten der Grätsche gegen Rechtsaußen und durch die Medienberichterstattung änderte sich das, und dann änderte sich auch die Bewertung der Landesregierung.

Zweitens. Der NPD-Funktionär Udo Pastörs hat in Wiesbaden öffentlich den Bundestag als „Knesset an der Spree“, den deutschen Staat als „Spottgeburt aus Hohn und Dreck“ und Barack Obama als „Medienaffen“ bezeichnet. Aber Herr Bouffier sagte noch vor wenigen Tagen in einem „FAZ“-Interview, die NPD trete seit Jahren sehr zurückhaltend auf. Herr Ministerpräsident, das ist das Unterstützungsfeld des braunen Terrors, und das nennen Sie „zurückhaltend“?

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein, Herr Präsident, gleich ist das Ende meiner Redezeit erreicht. Ich möchte zum Schluss kommen.

Drittens. Der militante Neonazi Kevin S. wurde zwar vom Verfassungsschutz beobachtet, konnte aber völlig ungestraft in Videos der NPD zum Krieg aufrufen, im Terrorumfeld von Jena Menschen verletzen und im SchwalmEder-Kreis schwere Übergriffe verüben. Es kam erst zu einer Gerichtsverhandlung, nachdem er in einem Zeltcamp unserer Linksjugend nachts ein schlafendes 13-jähriges Mädchen halb totgeschlagen hatte. Ich frage: Warum beobachtet der Verfassungsschutz ihn denn über Jahre, ohne zu intervenieren? Der wurde doch sogar in Jena gesucht; man ließ ihn weitermachen bis zuletzt.

Die Freien Kräfte Schwalm-Eder haben in zwei Jahren zig Straftaten, darunter schwerste Gewalt, begangen. Dass bei denen sogar über 60 Anleitungen zum Bombenbau gefunden wurden, wurde uns im Innenausschuss verschwiegen. Warum? – Der Minister des Innern hat es abgelehnt, sie als kriminelle Vereinigung zu verfolgen. Die hätten keine festen Strukturen, hieß es.

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Sie seien spontane Einzeltäter, da käme man nicht ran, so die Antwort des Innenministers.

Meine Damen und Herren, wir haben zum Thema erneut einen Antrag mit einer ganzen Reihe wichtiger Vorschläge eingebracht. Die SPD hat dankenswerterweise auch einen Antrag eingebracht, der dazu eine hervorragende Ergänzung darstellt. Beide Anträge sind eine gute Grundlage für eine gründliche Debatte. Wir dürfen angesichts des Naziterrors nicht zur Tagesordnung übergehen, sondern müssen uns die notwendige Zeit für eine offene, schonungslose Aufarbeitung und Aufklärung nehmen und

daraus endlich Konsequenzen ziehen. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Nächste Wortmeldung, Herr Abg. Greilich für die FDPFraktion.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die SPD hat noch einen Antrag! – Günter Rudolph (SPD): Wir haben noch einen Antrag!)

Ich habe nur diese Reihenfolge vorliegen. – Frau Gnadl, ich habe nichts dagegen. Wenn Herr Greilich zurücktritt, dann darf ich Ihnen für die SPD-Fraktion das Wort erteilen. Bitte schön.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich an den Anfang meiner Rede ein eindrucksvolles Zitat stellen:

Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens: Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.

So lautet es im „Buchenwaldschwur“ vom 19. April 1945, acht Tage nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, geschworen von den Opfern der in deutschem Namen begangenen Verbrechen bei einer Gedenkfeier.

Heute, im Jahr 2011, müssen wir feststellen, dass wir eine neue Welt mit einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Deutschland aufgebaut haben, dass wir aber gleichzeitig diese Grundordnung unseres Zusammenlebens ständig und fortwährend verteidigen müssen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich werde nie die Bilder der Brandopfer von Mölln und Solingen Anfang der Neunzigerjahre vergessen können. Als 13-Jährige habe ich damals fassungslos die Nachrichten verfolgt und gesehen, wie Menschen wegen ihrer Herkunft von rechtsextremen Gewalttätern verbrannt wurden.

In diesem Jahr haben uns alle die schrecklichen Bilder des Terroranschlags in Norwegen auf das Osloer Regierungsgebäude und die Arbeiterjugend mit 77 Toten zutiefst erschüttert. Beeindruckt hat mich damals die Antwort des norwegischen Volkes mit dem Ruf nach mehr Offenheit und Demokratie.

Genauso erschüttert bin ich heute darüber, wie unbehelligt in den letzten Jahren von dem Terrornetzwerk „Nationalsozialistischer Untergrund“ systematisch und brutal mindestens zehn Menschen ermordet wurden, ohne dass die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden die Zusammenhänge der Morde und die wahren Motive der Mörder erkannt haben. Ich bin überzeugt, wir sollten uns das Handeln der Norweger zum Vorbild nehmen. Nur ein Mehr an Demokratie kann den rechtsextremen Einstel

lungen und Gewalttaten in unserer Gesellschaft Einhalt gebieten.

(Beifall bei der SPD, der FDP, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Ab- geordneten der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Gefahr, der wir angesichts solcher brutalen rechtsextremen Anschläge immer wieder unterliegen, ist, dass wir sie als Einzeltaten sehen und sie zu schrecklichen Momentaufnahmen unseres Alltagslebens werden. Über einige Wochen und Monate ist das Thema Rechtsextremismus und dessen Gefahren sehr intensiv in der Berichterstattung präsent, und dann schlummert das Thema wieder vor sich hin, bis uns der nächste rechtsextreme Anschlag erschüttert. Wir neigen dazu, zu übersehen, dass in Deutschland regelmäßig Menschen aus menschenfeindlichen Motiven gewaltsam angegriffen und gar getötet werden. Wir wollen es oftmals nicht wahrhaben, dass Rechtsextremismus eine permanente Bedrohung in Deutschland ist.

Wir haben es keineswegs mit einem gesellschaftlichen Randproblem zu tun. Die menschenverachtende Ideologie und die rechten Einstellungen sind in der Mitte unserer Gesellschaft weit verbreitet, über alle Parteigrenzen hinweg, in allen sozialen Schichten, in Ost- und Westdeutschland, bei Frauen wie bei Männern. Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist der Nährboden der rechtsextremen Gewalttäter. Zeitungen wie der „Wetzlar Kurier“ nehmen diese rechten Stimmungen in der Gesellschaft auf,

(Holger Bellino (CDU): Na, na! – Gegenruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE): Aber ja, Herr Bellino!)

unterfüttern sie und machen sie salonfähig.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)