Protokoll der Sitzung vom 30.05.2017

Aber was legt uns die Landesregierung dazu vor? Also, der Minister hat ja nicht alles vorgelesen, was in der Rede stand. Er hat aus triftigen Gründen vielleicht das eine oder andere weggelassen. Aber eines der Themen war die Qualifizierung ehrenamtlicher Pflegebegleiter. Es hört sich zuerst einmal gut an, dass das Land Hessen das unterstützt. Das Land Hessen fördert diese Maßnahme mit 40.000 €. Das ist nicht einmal die Stelle einer Sozialarbeiterin. – Das ist hessische Seniorenpolitik.

Sie haben auf die Mehrgenerationenhäuser abgehoben. 2011 hatten wir 28, die das Land unterstützt. Jetzt haben wir 39. In sechs Jahren sind 11 Mehrgenerationenhäuser dazu gekommen. Das ist Ihnen ein Satz in der Regierungserklärung wert. Da kann ich nur sagen, Politik kann sich auch selbst klein machen. Sie tun das.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Eine Initiative wie „HANDgerecht“: Handwerker und die TU Darmstadt entwerfen eine Handreichung, wie Handwerker im Baugewerbe länger, auch im Alter, arbeiten können. Das ist eine gute Initiative, eine gute Idee, die das Handwerk und die TU auf den Weg gebracht haben.

Sie setzen sich mit drauf und sagen: Och, die Landesregierung hat das ein bisschen gefördert. – Aber ist das Ihr Ernst, dass wir mit diesen Initiativen ernsthaft die Alterung der Gesellschaft im Hessischen Landtag mit einer Regierungserklärung bedenken? Oder sollten nicht die Ansätze anders, weitreichender und grundsätzlicher sein?

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Sie wollten wahrscheinlich noch irgendetwas bringen, was aus Ihrer Sicht etwas bedeutender ist als das, was Sie jetzt vorgetragen haben. Darum haben Sie – das war im Manuskript nicht zu lesen – die Deutschland-Rente, diesen poli

tischen Ladenhüter von Berlin, kurz in den Landtag gebeamt und den noch einmal kurz besprochen.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Ab- geordneten der SPD)

Ich weiß gar nicht, ob Tarek Al-Wazir überhaupt weiß, dass er einer der Gebärenden dieser politischen Idee ist. Aber das haben Sie nur einmal kurz in Ihre Rede hineingefriemelt, um irgendwie noch irgendetwas vorzutragen, was etwas mehr an Bedeutung hat.

(Zuruf der Abg. Heike Hofmann (SPD))

Herr Minister, jetzt haben Sie das Pech, dass Sie sich selbst einmal einen gewissen Maßstab gesetzt haben in der Politik. Das ist immer schlecht, wenn man sich gewisse Maßstäbe setzt. – Worauf will ich hinaus? Diese Regierungserklärung hat den Titel „Neuer Blick aufs Alter – Wir geben die passenden Antworten“. Ich weiß nicht, vielleicht gab es einmal eine andere Regierungserklärung, auf die dieser Titel gepasst hat. Diese war es jedenfalls nicht. Also macht man sich auf die Suche. dpa ist auch hilfreich; denn dpa hat uns den Hinweis gegeben, dass es vor fünf Jahren eine Seniorenpolitische Initiative gab, und wir haben bei Wikipedia gelernt, mit einer Regierungserklärung erklärt die Regierung etwas zu einem konkreten Anlass.

(Zurufe der Abg. Günter Rudolph und Marius Weiß (SPD))

Dann sucht man als Abgeordneter; in der Rede konnte man das ja nicht finden. Da hat dpa den kleinen Tipp gegeben, und dann hat man natürlich auch einmal reingeschaut. Die Seniorenpolitische Initiative – gut, das war letzte Legislaturperiode; dafür kann die heutige Landesregierung nichts.

Nichtsdestotrotz: Was dort festgestellt worden ist, ist ja nicht ohne Belang. Da kann ich Ihnen sagen: Es ist auch nicht alles neu, was Sie vortragen. Wenn man in die ersten Seiten schaut, kann man lesen:

Wenn man vor diesem Hintergrund von einer alternden Gesellschaft spricht, muss man sogleich hinzufügen: Das Alter hat viele Gesichter.

(Heiterkeit des Abg. Jürgen Lenders (FDP))

Das haben Sie ja sehr klar, sehr ausführlich auch in Ihrer jetzigen Regierungserklärung noch einmal deutlich gemacht. Dort hat man es ein bisschen kürzer formuliert: „Neue Altersbilder und Alterskulturen“ gibt es.

Das muss man sich einmal deutlich machen: Dann haben Sie sich – Politik, Fachleute aus den Wohlfahrtsverbänden und Wirtschaft – drei oder vier Monate lang Gedanken gemacht, was denn in fünf Arbeitsfeldern die handlungspolitischen Optionen sind, die die Landesregierung nach vorne bringen sollen.

Da gab es fünf Themen: die Senioren im bürgerschaftlichen Engagement, das Ehrenamt; dann das Wohnen und das Wohnumfeld im Alter. Zu Senioren und Ehrenamt gab es fünf konkrete Vorschläge, zu Wohnen und Wohnumfeld gab es sieben konkrete Vorschläge, zu Gesundheit und Prävention im Alter gab es fünf konkrete Vorschläge, zu ambulanter und stationärer Pflege gab es sieben konkrete Vorschläge, und zu ältere Migranten und Integration gab es nun einmal sechs konkrete Vorschläge, die in dieser Hochglanzbroschüre von Ihnen auch deutlich ausgeführt worden sind.

Dazu gibt es aber keine Stellungnahme in Ihrer Regierungserklärung. Was soll ich davon halten?

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE))

Wie ernst nehmen Sie sich selbst, und wie deutlich machen Sie den dort Engagierten, wie ernst Sie diese Menschen nehmen, die sich drei bis vier Monate lang hinsetzen und mit Ihnen gemeinsam Handlungsoptionen erarbeiten, die Sie dann nicht einmal mehr mit einer Betrachtung in Ihrer Regierungserklärung genau zu diesem Thema würdigen?

(Holger Bellino (CDU): Ei, ei, ei!)

Herr Minister, da kann ich nur sagen, das ist schlichtweg – mir fehlt das freundliche Wort – nicht akzeptabel. Sie sollten sich, wenn Sie eine Regierungserklärung machen, doch zumindest darüber im Klaren sein, was Sie selbst an Forderungen schon einmal formuliert haben;

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

denn das ist das Mindeste, worauf Sie eingehen müssten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt habe ich noch zwölf Minuten. Da Sie nicht so viel zu dem Thema gesagt haben und dazu, was bei dem Thema notwendig wäre, und da Sie nun einmal gerade in den letzten Plenarwochen bei der Frage, wie wir mit dem hessischen Heimgesetz umgehen, schon deutlich gemacht haben, dass Ihre eigenen Handlungsempfehlungen, die man in Ihrer eigenen Hochglanzbroschüre nachlesen kann, für Sie keine Relevanz haben – es ist ja schon zur Sprache gekommen: ambulante Wohnformen, Heimgesetz –: Alle Anzuhörenden haben Ihnen deutlich gemacht, es besteht Handlungsbedarf. Das ignorieren Sie einfach.

Sie haben selbst festgestellt, eines der wichtigsten Themen, das hier aufgeführt worden ist – Wohnen im Alter, ambulante Wohnformen –, wird einfach von Ihnen ignoriert. Dann stellen Sie sich ein Plenum später hin, halten eine Regierungserklärung und tun so, als gebe es diese Debatte gar nicht, die für viele Menschen existenziell ist, um ihnen ein Leben im Alter zu ermöglichen. Das wird von Ihnen ausgeblendet. Da kann ich nur sagen: Thema verfehlt, Herr Minister.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Was wäre notwendig bei dem Thema Wohnen im Alter? Es wären weniger Vorschriften nötig. Es wäre nicht wie heute. Wir haben das schon von Verbänden gehört. Was sagt denn die Heimaufsicht, wenn ich so eine ambulante Wohnform in Gang setzen will: Dann stellt doch einmal einen Antrag. Wir sagen nachher, ob das noch geht oder nicht. – So kann man doch nicht mit den Leuten umgehen. Setzen Sie Maßstäbe für die Menschen, die in unserem Land leben und die herausgefordert sind. Sie haben es ja selbst beschrieben.

Ich glaube, jeder hier im Raum hat jemanden in seinem Umfeld oder in der eigenen Familie, der gepflegt werden muss oder in einem Heim ist. Jeder von uns kennt diese Situation, und jeder muss sich mit dieser Herausforderung auseinandersetzen. Dann sagen Sie uns doch nicht, dass das nicht ärgerlich ist, wenn ich zu viele Regeln habe, die ich beachten muss und – ich sage einmal – flexible Lösungen vor Ort nicht möglich sind, weil Sie nicht die Rahmen setzen, die notwendig wären.

Das ist das, worüber Sie hätten sprechen müssen. Herr Minister, Sie hätten heute darüber sprechen müssen, welche Rahmenbedingungen wir als Hessen für die alternde Gesellschaft setzen wollen, dass die Menschen, die in Hessen leben, diese Herausforderung selbstbestimmt bewältigen können. Das haben Sie heute nicht getan.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Wir dürfen auch nicht den Eindruck erwecken, dass wir als Staat all diese Lebenslagen für die Menschen bewältigen können und dass wir für all diese Lebenslagen als Staat eine Antwort haben. Aber wir sollen uns doch, bitte schön, den Menschen auch nicht entgegenstellen. Wir sollen es den Menschen auch nicht schwieriger machen, als es sowieso schon ist.

Herr Grüttner, gehen Sie noch einmal in sich, und überlegen Sie noch einmal: Können Sie nicht doch eine Lösung finden, dass ambulante Wohnformen möglich sind? Können Sie nicht endlich diese ständig vor sich hergetragene Angst, ambulante Dienste könnten schlecht arbeiten oder die Menschen schlecht behandeln, von sich weisen und sagen: „Es gibt in dem Bereich die Bürger, die eine Lösung brauchen“?

Es gibt den Staat, der einen Teil davon finanziert. Dann gibt es auch private Anbieter oder Anbieter aus der freien Wohlfahrtspflege, die die Menschen dabei unterstützen. Das ist die Grundvoraussetzung. Jede Familie muss selbst versuchen, mit dem Geld, das sie hat, mit dem, was sie selbst einbringen kann, Lösungen zu finden, dass der Vater, die Tante, der Verwandte so lang wie möglich in seinem Wohnumfeld bleiben kann. Da sollten wir als Staat klarmachen: Das sind unsere Rahmenbedingungen, innerhalb derer könnt ihr handeln, und das sind Unterstützungsangebote. – Das ist der richtige Weg, den wir gehen müssen.

(Beifall bei der FDP – Vizepräsident Dr. Ulrich Wil- ken übernimmt den Vorsitz.)

Eine zweite wichtige Säule ist die Frage – das ist hier auch angeklungen –: Wer erbringt denn diese Leistungen, wer unterstützt denn die Familie? Heute ist doch jedem von uns klar, dass die Familien mit zwei, drei oder vier Kindern, die sich um die älteren Menschen kümmern, weniger werden. Es wird ganz viele Einkindfamilien geben, wo sich ein Kind um zwei alternde Elternteile kümmern muss, wo vielleicht einer der Elternteile selbst noch aktiv ist, aber wo man ganz klar sagen muss: Die Möglichkeit der Pflege in der Familie ohne professionelle Unterstützung wird perspektivisch immer schwieriger. Darum brauchen wir deutlich mehr Fachkräfte in diesem Bereich, und dafür muss alles verhindert werden, was den Zugang der Fachkräfte in diesen Bereich erschwert.

(Beifall bei der FDP)

Herr Minister, dann bin ich bei dem zweiten großen Bereich, wo Sie, die Landesregierung, aber auch die Bundesregierung die Weichen nicht richtig stellen. Das muss man ganz klar sagen. Wenn Sie jetzt in einem Ausbildungssystem, das um jede einzelne Fachkraft ringt, einen Systemwechsel in Gang setzen, ohne den auch nur annähernd ordentlich strukturiert zu haben und ohne zu wissen, was Sie damit lostreten, dann ist das extrem mutig. Das Problem wird sein, das wissen wir alle, dass gerade bei der Umstellung von Systemen enorm Sand ins Getriebe kommt.

Wir haben bei der Anzahl der Pflegekräfte jetzt schon eine sehr angespannte Situation. Wenn man sich die Alterspyramide der Pflegekräfte ansieht, kann man genau ablesen, wie sich die Situation weiter verschärft. Jeder Abgeordnete, der sich mit dem Thema auseinandersetzt, weiß das ganz genau. Das ist kein Hexenwerk, das ist reine Statistik.

Wenn ich in dem System, in dem alles auf Kante genäht ist, nicht etwas obendrauf packe, sondern alles anders mache, kann ich mich nicht nachher beschweren, warum das nicht funktioniert. Wie ich jetzt erfahren habe, ist es eine schöne Möglichkeit, dass das Land beim Zuschuss an die Pflegeschulen noch ordentlich Geld spart. Das soll jetzt anders finanziert werden; aber wie genau, ist auch noch nicht klar. Es sind so viele Fragezeichen bei der Reform eines Ausbildungssystems, das absolut auf Kante genäht ist. Wie man das als Landesminister verantwortungsvoll vorantreiben kann, sich hierhin stellt und in seiner Regierungserklärung keinen Ton zu diesem Thema sagt, das kann ich nicht nachvollziehen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und der LINKEN)

Das ist etwas, was ich der Landesregierung einfach vorwerfen muss. Es ist nicht nur so, dass Sie sich in ihren Regierungserklärungen klein machen. Sie sind anscheinend gar nicht mehr in der Lage, selbst die größten Probleme zu erkennen und in Ihren Regierungserklärungen zu beschreiben. Von Lösungen reden wir noch gar nicht. Sie haben gesagt, Sie hätten passende Antworten. Aber Sie haben noch nicht einmal das Problem beschrieben, für das Sie keine Antworten hatten. Ich glaube nicht, dass Sie dazu nicht in der Lage sind. Sie wollen es einfach nicht beschreiben. Sie machen hier Vogel-Strauß-Politik, stecken den Kopf in den Sand, ignorieren das, was auf Sie zukommt, und denken, damit kämen Sie irgendwie durch. Aber das funktioniert hier nicht.

Die demografische Entwicklung schreitet voran. Das hat enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft, das wird die Denkweise der Menschen verändern, und das wird auch dazu führen, dass wir Rahmenbedingungen verändern müssen. Ich warne noch einmal davor, vielleicht auch in Richtung der Linkspartei: Die Frage, wie man diese Situation einer alternden Gesellschaft auffangen kann, hängt nicht davon ab, wer 100 € Rente mehr oder weniger bekommt.

(Beifall bei der FDP – Hermann Schaus (DIE LIN- KE): Aber auch!)

Frau Schott, das ist für den einzelnen Betroffenen ein Thema. Wir müssen aber bei der Entwicklung, die auf uns zukommt, die Frage beantworten: Welcher Systemwechsel ist notwendig, damit wir als Gesellschaft, die Menschen, die hier leben, diese Herausforderungen bewältigen können, die gleichzeitig Chancen sind?

Wir freuen uns doch alle darauf, dass wir länger gesund sein können. Wir freuen uns alle darauf, dass wir länger aktiv sein werden. Der Minister freut sich noch auf eine weitere Amtszeit, hat er durchblicken lassen. Ich kann nur sagen, Herr Minister Grüttner: Da müssen Sie noch eine Schippe drauflegen, sonst wird das ganz schön eng. Mit dem, was Sie heute in dieser Regierungserklärung vorgestellt haben, glaube ich kaum, dass Sie irgendjemanden, der sich mit dem Thema beschäftigt oder der mitten im Leben steht und diese Probleme bewältigen muss, von dieser Landesregierung überzeugen konnten; denn das war einfach zu dünn.

Aus meiner Sicht sollte man sich das gut überlegen, wenn man solche Maßstäbe setzt, wie Sie das getan haben. Sie haben über 30 Maßnahmen angesprochen, von denen Sie heute keine einzige auch nur tangiert haben. Wichtige Bereiche, die Sie ganz konkret herausfordern und die uns als Landesgesetzgeber ganz konkret herausfordern, haben Sie in dieser Regierungserklärung mit keinem Ton erwähnt. Wenn Sie so an dem Thema vorbeireden, müssen Sie sich auch eine harte Kritik gefallen lassen. Wenn Sie dieses wichtige Thema heute auf die Tagesordnung setzen und in Worthülsen und klein gemachten Projekten über dieses Thema reden, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn Sie aus dem Hessischen Landtag so eine Antwort erhalten. Das war viel zu wenig, das war nicht einmal das Problem erkannt und beschrieben. Keiner Ihrer Vorschläge ist hinreichend, um diese Herausforderung anzugehen. Lieber Herr Minister Grüttner, da muss deutlich mehr kommen, und da muss die Hessische Landesregierung noch deutlich nacharbeiten. – Vielen Dank.