Protokoll der Sitzung vom 23.08.2018

Daraus kann man aber auch nicht das schlussfolgern. Nehmen Sie z. B. das Thema mit der Münze. Hat Temme beim Herausgehen, möglicherweise nach dem Schuss, den andere als komisches Geräusch identifiziert haben, das Geld hingelegt und nichts gesehen, oder doch?

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den LINKEN, ich weiß, dass es seit Jahrzehnten Mode in Ihrer Partei ist, Verschwörungstheorien aufzubauen, und dass man das auch auf der Akademie lehrt. Aber es passt hier einfach nicht hin.

(Beifall des Abg. Manfred Pentz (CDU))

Verschwörungstheorien sollte man hier auf keinen Fall aufbauen. Wir jedenfalls machen das nicht.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Vier Seiten Abschlussbericht der FDP!)

Deswegen müssen wir mit der Tatsache leben, dass wir es niemals erfahren werden; es sei denn, Temme öffnet sich. Vielleicht sagt Temme aber sogar die Wahrheit. Woher nehmen wir eigentlich die Überheblichkeit – ich merke es an mir selbst bei der Wortwahl –, zu glauben, dass Temme lügt?

(Nancy Faeser (SPD): Das OLG geht davon aus!)

Nein. Es hat das unterstellt. Das ist strafrechtlich wieder etwas anderes, liebe Kollegin.

(Nancy Faeser (SPD): Ich würde einem Richter des OLG nicht sagen, dass er etwas unterstellt!)

Wir können uns gerne noch einmal darüber unterhalten. In meinen Augen ist das keine klare Feststellung, dass er zu dem Zeitpunkt am Ort war. Vielmehr ist das eine Reduktion von Vermutungen, und die brauchte man.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Warum hat er dann Spuren verwischt?)

Wir reden hier über ernsthafte Sachen. Das hat mit „Warum“ nichts zu tun. Ich werde mich auf dieses Niveau nicht einlassen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der dritte Bereich, bei dem wir sagen, dass das auf keinen Fall so hätte passieren dürfen, betrifft das Disziplinarverfahren gegen Temme. Ich bin mir unsicher, ab wann spätestens dieses Disziplinarverfahren zur Farce wurde. Solange ein Strafverfahren läuft, ist ein Disziplinarverfahren unterlägig. Die Akte liegt also unter der anderen Akte. Als das Strafverfahren beendet worden ist, ist man irgendwie so damit umgegangen, als ob man spitze Finger hätte.

Ich kann nachvollziehen, was der damalige Präsident Eisvogel in der Ausschusssitzung gesagt hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, aber auch in einem Disziplinarverfahren muss es ein gewisses Maß an Transparenz geben, und das erreicht man nur durch Dokumentation. Es ist aber nichts dokumentiert worden. Es ist offensichtlich eine Veranstaltung nach dem Motto gewesen: Wir machen das jetzt einmal. – Das geht aber einfach nicht in einem Rechtsstaat. Aus diesem Grunde haben wir zusammen im Abschlussbericht auf Seite 722 notiert:

Gleichwohl vertritt der Ausschuss die Auffassung, dass die Gründe für die Einstellung des Disziplinarverfahrens ausführlich hätten dokumentiert werden müssen.

Ich will mir untersagen, was hier noch alles an Seitenhieben usw. steht. Ja, die Unterstützung der Bundesebene für unseren Ausschuss fand ich suboptimal. Ja, die Unterstützung – da hat Nancy Faeser vollkommen recht – der Landesregierung in dem einen und anderen Punkt fand ich suboptimal. Ich werde das jetzt nicht unterstellen, aber Sie können mir glauben, dass ich nicht mit dem festen Vorsatz heute Abend ins Bett gehe, dass ich mir sicher bin, dass die Mitglieder des Ausschusses sämtliche Akten der Landesregierung zur Verfügung gestellt bekommen haben. Ich glaube das nicht.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Woher wissen Sie das?)

Aber auch das ist egal, weil das Thema jetzt durch ist.

Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Wir sollten mehrere Dinge festhalten. Das Allerwichtigste ist: Wir müssen selbst frei im Kopf sein. Insofern müssen wir uns anstrengen, Vorurteile wegzukicken und auszusäubern. Wir müssen selbst frei im Kopf sein. Bei der Beurteilung irgendeiner Tat sofort mit Vorurteilen an die scheinbare Lösung zu gehen, das geht immer schief.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Man merkt es manchmal spät, aber es geht immer schief. Hier ist man natürlich mit einem Vorurteil herangegangen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war im parlamentarischen Raum, bevor sich die Kriminellen nach oben geschossen haben, in der Diskussion nicht wirklich richtig intensiv gewesen. Das Vorurteil hat fast immer und überall überlagert. Es war falsch.

Das Zweite ist: Wir müssen immer und immer wieder zur Kenntnis nehmen, dass all das, was wir als Politik, aber insbesondere das, was die Ermittlungsbehörden und die Verwaltung machen, Auswirkungen auf unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger hat.

Ich habe mich auf Bitten des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff, den ich aus früherem Tun gut kenne, um eine Familie gekümmert, die nicht zu den hessischen Opfern gehört, obwohl sie teilweise in Hessen gelebt hat. Dieses Trauma kriegen sie nicht mehr weg. Wir müssen also schon aufpassen, wenn wir sagen: Es muss nach allen Seiten offen ermittelt werden.

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Gleichzeitig wird dann aber auch gefragt: Ist Ihr Mann in irgendwelche Schwarzgeldaffären oder in andere kriminelle Dinge verwickelt?

Drittens müssen wir uns eingestehen, dass der Staat in der Lage sein muss, Menschen zu schützen. Das hat er hier nicht getan. Der Staat muss aber auch in der Lage sein, sich weiterhin um die Hinterbliebenen zu kümmern. All das steht im Abschlussbericht.

Deshalb vielen Dank an die Kolleginnen und Kollegen. Die Arbeit hat nicht immer Spaß gemacht, aber ein gutes Ergebnis gebracht. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat der Abg. Schaus für die Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Als im November 2011 bekannt wurde, dass die CeskaMordserie und der Mord an Halit Yozgat von Neonazis verübt wurden, haben die Bundesregierung und auch wir alle im Hessischen Landtag lückenlose Aufklärung versprochen. Alle Hintergründe und eventuelles Behördenversagen zum NSU-Komplex sollten aufgedeckt werden. Doch dieses Versprechen wurde nicht eingelöst.

Aber weil die Behörden – auch in Hessen – im Kampf gegen rechts versagt haben und insbesondere Volker Bouffier als damaliger Innenminister eine hohe politische und persönliche Mitverantwortung trägt, sollte der NSU-Skandal möglichst vertuscht werden. Schon bevor der Untersuchungsausschuss im Mai 2014 nur mit den Stimmen von SPD und LINKEN eingesetzt wurde, standen gravierende Vorwürfe im Raum:

Der Geheimdienstler Andreas Temme war beim NSUMord in Kassel unmittelbar am Tatort. Er hatte sich aber nicht als Zeuge gemeldet, Kollegen belogen und behauptet, er kenne den Tatort und das Opfer nicht. Zudem hat er zahlreiche Dienstvergehen begangen.

Die hessische Polizei warf dem Geheimdienst sogar vor, Temme vor den Ermittlungen zu schützen. Von einer Unterstützungshaltung des Landesamts für Verfassungsschutz war die Rede. Die Ermittler wollten Temmes V-Leute vernehmen, aber der Geheimdienst verweigerte dies. Selbst der bayerische Innenminister Beckstein intervenierte vergeblich bei Bouffier. Aber Volker Bouffier, der das Parlament über all diese Vorgänge nicht informierte, verfügte am Ende höchstpersönlich, alle V-Leute zu sperren, und behinderte so die Mordaufklärung.

Insbesondere Volker Bouffier wies jeden Fehler und jede Verantwortung von sich und sagte vor dem BundestagsUntersuchungsausschuss 2012: Wir haben keine Fehler gemacht.

Die Entscheidung war richtig, auch aus heutiger Sicht. Ich kenne niemanden, der ernsthaft bestreitet, dass das anders wäre.

Doch, Herr Ministerpräsident. Ich bestreite das mit Vehemenz.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Abschlussbericht des 1. NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages, der im Gegensatz zum hessischen Bericht einstimmig beschlossen wurde, heißt es zur Sperrung der V-Leute:

Die Polizei sah ihre Ermittlungen dadurch zu Recht massiv beeinträchtigt. … Die Entscheidung in diesem besonderen Fall traf ein halbes Jahr nach der Tat im Oktober 2006 der damalige Innenminister von Hessen, Volker Bouffier.

Welch gravierende Vorwürfe gegen den ehemaligen Innenminister, er habe die Ermittlungen massiv beeinträchtigt. Dem müsste ein Parlament, dessen Aufgabe es ist, die Regierung zu kontrollieren, eigentlich unverzüglich nachgehen.

Ein Untersuchungsausschuss ist laut Verfassung ein Instrument zur Kontrolle der Regierung. Mit der Beantragung des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses und der intensiven Arbeit über einen Zeitraum von vier Jahren hat DIE LINKE versucht, unter schwierigsten Bedingungen unser 2012 gemeinsam gegebenes Aufklärungsversprechen tatsächlich einzulösen. Wir sagen: Die NSU-Opfer, deren Angehörige und die Öffentlichkeit hatten ein Recht darauf.

(Vizepräsident Frank Lortz übernimmt den Vorsitz.)

2.000 Akten, über 100 Zeugenvernehmungen und 7.000 Protokollseiten später gilt es heute festzustellen: Wir haben einiges erreicht, aber vieles bleibt weiterhin im Dunkeln.

Zunächst möchte ich mich aber bei den unzähligen Besuchern und Gästen des NSU-Ausschusses, bei den NSU-Opferanwälten, bei den vielen Sachverständigen, darunter auch den NSU-Obleuten aller Fraktionen im Deutschen Bundestag, bei den ehrenamtlichen Initiativen, z. B. bei „NSU-Watch“, bei der „Initiative 6. April“ und bei „Nachgefragt“, bei zahlreichen Journalistinnen und Journalisten, bei der Landespresse sowie bei allen beteiligten Mitarbei

terinnen und Mitarbeitern für ihr großes Interesse und ihr Durchhaltevermögen bedanken.

(Beifall bei der LINKEN)

Ohne diese Begleitung, ohne die zahlreichen Veröffentlichungen und ohne öffentlichen Druck wäre eine Aufklärung so nicht möglich gewesen. Und: Öffentlichen Druck brauchen wir auch weiterhin.

Auch bei der SPD-Fraktion möchte ich mich bedanken – trotz unterschiedlicher Auffassung in manchen Punkten –; denn als LINKE hätten wir allein weder den Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses noch Beweisanträge durchbekommen. Für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses braucht man bekanntlich 20 % der Stimmen.

Wir haben als LINKE ein 250-seitiges Sondervotum vorgelegt. Das Sondervotum war nötig, weil wir sowohl mit der Sachdarstellung als auch mit dem Fazit der Regierungsfraktionen an vielen Stellen überhaupt nicht einverstanden sind. Schon bei der ersten Lesung des Entwurfs des Berichterstatters machten wir an 242 Stellen Anmerkungen.