Protokoll der Sitzung vom 11.09.2018

(Holger Bellino (CDU): Was heißt „mag sein“? Das ist so!)

Jetzt hören Sie mir vielleicht zu. Ich habe dem Ministerpräsidenten auch zugehört.

(Günter Rudolph (SPD): So ist es!)

Aber ich finde, in so eine Regierungserklärung gehört, dass, egal welcher politischen Gesinnung jemand ist, jeder Einzelne eine Verantwortung dafür hat, hinter welcher Fahne und welcher Position er herläuft. Auch das gehört in eine solche Debatte.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Holger Bel- lino (CDU): Wer bestreitet das denn?)

Zur Verantwortung des Einzelnen wurde nichts gesagt. Es wurde übrigens auch nichts zu den 65.000 Demonstrantinnen und Demonstranten gesagt, die unter „Wir sind mehr“ in Chemnitz versucht haben, ein anderes Signal zu setzen, ein Signal dafür, dass es eine liberale, weltoffene, demokratische Gegenkultur gibt, auch und gerade in einer Stadt wie Chemnitz.

Ich habe zur Kenntnis genommen: Bei der Demonstration in Wiesbaden ist Ihr Koalitionspartner genauso wie DIE LINKE und die SPD, Kirchen, Sozialverbände und Gewerkschaften, die Bildungsstätte Anne Frank auf die Straße gegangen, um dafür zu demonstrieren, dass dieses Land auch in Zukunft ein liberales und weltoffenes bleibt, dass wir die Verkleinerung dessen, was wir an Perspektiven haben, nicht zulassen dürfen. Das dann unter der Abteilung „Gutmenschen“ abzutun

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja!)

und sich nicht dabei zu engagieren, ist auch etwas, wofür Sie sich zumindest hinterfragen lassen müssen, wenn Sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt heute zu einem Thema machen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Der für mich bedeutendste Ministerpräsident unseres Bundeslandes – ich glaube, dass man darüber sogar fast Konsens herstellen kann –, Georg August Zinn, hat viele kluge Sätze formuliert. Der wichtigste für mich ist:

Demokratie ist nicht nur eine Staatsform, sondern eine Lebenshaltung.

Dieser Satz meint nämlich, dass die Frage, in welchem persönlichen oder politischen Verhältnis beispielsweise ein Regierungschef und ein Oppositionsführer stehen, nicht entscheidend ist für die Frage, wie unsere Demokratie funktioniert. Entscheidend ist vielmehr, wie sich jeder Einzelne hier im Raum, aber auch hier oben auf der Besuchertribüne und viele darüber hinaus für sich selbst und für ihre Nachbarn verantwortlich fühlen.

Deswegen ist der Widerstand gegen Nationalismus, gegen Spaltung, gegen Extremismus, und zwar gegen jede Form von Extremismus, so bunt und kreativ. Vielleicht sollten wir an einem solchen Tag einmal anfangen, die unterschiedlichen Formen dieses Protests nicht mehr gegeneinander auszuspielen, sondern alle gleichwertig zu betonen, und zwar nicht nur am heutigen Tag, sondern immer. Da haben einige in diesem Haus echt noch Nachholbedarf.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Manfred Pentz (CDU): Das hat niemand gemacht!)

Herr Bouffier, ich bedanke mich ausdrücklich für die Anerkennung und Ihre wertschätzenden Worte im Zusammenhang mit dem Umgang in der Humanitätskrise. Es ist so, dass ich Sie in den Sommerferien 2015 anrief mit dem ausdrücklichen Angebot der hessischen Sozialdemokratie, angesichts der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe gemeinsam dafür zu arbeiten, dass niemand gegeneinander ausgespielt wird, dass wir alle auch schwierigen politischen Debatten zurückstellen, um dafür zu sorgen, dass wir angesichts der Größe dieser Aufgabe beieinander bleiben.

Der hessischen Sozialdemokratie – das wurde oft und regelmäßig kommentiert – hat das politisch wenig gebracht. Es war aber unsere feste Überzeugung, dass es richtig und notwendig ist, in dieser Phase dafür zu sorgen, dass alle Kräfte darauf ausgerichtet sind, dass Menschen, die in Not zu uns kommen, Hilfe und Unterstützung bekommen, und diejenigen zu unterstützen, die als ehrenamtliche wie als hauptamtliche Helferinnen und Helfer tagtäglich rund um die Uhr weit über das hinaus, was ihre Dienstpflicht gewesen wäre, egal ob sie ehrenamtlich oder hauptamtlich organisiert war, einen Beitrag dazu leisten. Zu dieser Verantwortung stehen wir auch in Zukunft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in dieser Phase mit Blick auf das Paket, dass wir im Haushalt gemeinsam beschlossen haben, viele richtige und wichtige Ansätze formuliert haben, beispielsweise in der Schulentwicklung, im Sozialwesen, bei Integrationsmaßnahmen und vielem anderen mehr. Wir hätten uns gewünscht, dass dieser Auf

bruch politischer Kultur, der auch ein Versprechen dessen war, was diese neue Koalition anstrebte, und im Bildungsgipfel gescheitert ist, über die unmittelbaren Ereignisse und den Beschluss über den Haushalt 2016/2017 hinaus Wirkung gehabt hätte. Viele der klugen Ansätze sind aus unserer Sicht konzeptionell in den Ansätzen stecken geblieben. Wir hätten uns gewünscht, dort mehr gemeinsam zu erreichen, weil die Aufgabe – darauf haben Sie zu Recht hingewiesen – ganz sicher nicht abgeschlossen ist.

Ich will das beschreiben mit Blick auf die Integrationsleistung, die Schulen zu erbringen haben, und auf die regelmäßigen Auseinandersetzungen, Herr Kultusminister, über die Frage, ob InteA funktioniert oder nicht. Wir haben bilateral in unterschiedlichsten Konstellationen mehrfach darüber geredet. Wir wissen, dass die Konstruktion bei InteA in einer bestimmten Phase entstanden ist, aber eben auch deutliche Schwächen hat, beispielsweise in der Frage, ob es klug ist, Kinder und junge Erwachsene nach einem bestimmten Zeitablauf aus der Schule zu entlassen. Ich weiß, dass Ressourcenfragen dahinter stehen. Aber ich glaube, dass es richtig ist, am Anfang in die Integration zu investieren, weil wir anschließend deutlich weniger für die Reparatur aufwenden müssen, wenn es uns am Anfang gelingt, diese Aufgabe ordentlich zu machen.

Ich hätte mir in den letzten zwei Jahren sehr gewünscht, dass wir jenseits der Erklärungen, die wir hier regelmäßig erleben, dass die Regierung alles richtig macht, auch da weiter in der Lage gewesen wären, gemeinsam stärker voranzukommen. Das ist leider nicht möglich gewesen, weil der Grundsatz hier im Haus „Mehrheit ist Wahrheit“ danach wieder Wirklichkeit wurde.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden in der Migrations- und Zuwanderungspolitik den Grundsatz „Ordnen und steuern“ vor allem auf der Bundesebene, aber auch in unserem Bundesland weiter mit Leben füllen müssen. Für mich gehört dazu zwingend ein Fachkräftezuwanderungsgesetz, das endlich diejenigen, die von politischer, religiöser und sonstiger Verfolgung bedroht sind, in den Verfahren von denjenigen trennt, die aus Gründen der Arbeits- und Sozialmigration kommen, auch um die Verfahren zu erleichtern.

Ich verstehe die Debatte um Spurwechsel auf der Bundesebene nicht. Ich kann verstehen, dass Leute daran verzweifeln, dass auf der einen Seite Menschen, die in Ausbildung sind, ihre Ausbildung abgeschlossen haben, zur Abschiebung anstehen, obwohl sie bewiesen haben, dass sie sich in diese Gesellschaft integrieren wollen, und wir auf der anderen Seite Menschen, die wir hier nicht haben wollen, nicht abgeschoben bekommen. Deswegen plädiere ich energisch dafür, dass wir das Thema Spurwechsel auf der Bundesebene konstruktiv lösen und nicht ideologisch, nur weil insbesondere bei diesem Teil des Hauses nach wie vor die Sorge ist, dass Sie in der Migrationspolitik nicht die aus Ihrer Sicht falschen Akzente setzen wollen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. René Rock (FDP))

Wir haben mit dem „Hessenplan +“ als Sozialdemokratie eine Vielzahl von Maßnahmen vorgeschlagen, die in den nächsten fünf Jahren dazu dienen sollen, diese großen Aufgaben unter dem Stichwort „Gesellschaftlicher Zusammenhalt: wie macht man den?“ umzusetzen und nicht nur obendrüber zu schweben.

Lassen Sie mich am Ende noch einmal grundsätzlicher werden. Wenn in Deutschland, egal wo, Menschen ermordet werden und in der Folge dessen Rechtsextreme Hetzjagden auf Unschuldige machen, dürfen wir auch im Hessischen Landtag nicht schweigen. Wir sind in allen Fraktionen entsetzt – davon bin ich überzeugt –, wie versucht wird, rechtsextreme Vereinnahmungen zu organisieren. Genauso entsetzt sind wir darüber, welches Maß an Demokratieverachtung von Rechtsextremisten zutage tritt. Da teile ich all das, was der Ministerpräsident gesagt hat.

(Manfred Pentz (CDU): Stimmt!)

Zur Wirklichkeit und zur Wahrheit gehört aber auch, dass die rechten Probleme insbesondere auch in Sachsen eine lange Vorgeschichte haben. Jahrzehntelang wurde da vor rechten Umtrieben weggeschaut. Jahrzehntelang haben GRÜNE, Liberale, LINKE, Kirchen, Gewerkschaften und die SPD vor den Entwicklungen gewarnt, während die Staatsregierung weggeschaut hat.

Wie bedeutend diese Frage ist, will ich verdeutlichen mit einem aktuellen Zitat aus dem neuesten Buch von Madeleine Albright, die die Herausforderungen für uns sehr präzise formuliert hat. Sie formuliert, bezogen auf ein Zitat von Václav Havel:

„Europa strebt danach, eine historisch gesehen neue Ordnung zu erschaffen durch den Prozess der Vereinigung … ein Europa, in dem der Mächtigere nicht länger in der Lage sein wird, den weniger Mächtigen zu unterdrücken, in dem es nicht mehr möglich sein wird, Konflikte gewaltsam zu lösen.“

Das war die Hoffnung nach dem Fall der Mauer. Sie fragt dann:

Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, müssen wir uns fragen, was aus jener hehren Vision geworden ist; warum scheint sie immer mehr zu verblassen, anstatt klarer zu werden? Warum ist die Demokratie heute „Angriffen ausgesetzt und auf dem Rückzug“, wie die NGO Freedom House konstatiert? Warum versuchen viele Menschen in Machtpositionen, das öffentliche Vertrauen in Wahlen, in die Justiz, in die Medien und – was die grundlegenden Fragen zur Zukunft unseres Planeten angeht – in die Wissenschaft zu untergraben?

Das ist die Herausforderung, mit der wir in der Tat konfrontiert werden. Deswegen ist die Konsequenz daraus erstens eine klare Haltung und zweitens, in der Sache Rechtspopulisten, Nationalisten und Spaltern aller Art entgegenzutreten. Das Wahlprogramm der Rechtspopulisten in Hessen, mit seiner Forderung, dass der öffentliche Rundfunk abgeschafft wird, mit einem Familienbild, das inakzeptabel ist, mit seinem Umgang mit Zuwanderung und Integration, aber auch mit den Wohnungsthemen, bietet dazu einen Anlass. Drittens brauchen wir einen handlungsfähigen Rechtsstaat, der dafür sorgt, dass man den Neonazis, egal ob sie in Köthen oder in Chemnitz auftreten, mit aller Klarheit und Entschiedenheit entgegentritt.

(Vizepräsident Wolfgang Greilich übernimmt den Vorsitz.)

Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht nicht durch Sonntagsreden, sondern im Handeln, jeden Tag, jede Woche und jedes Jahr. Sie haben aus meiner Sicht heute eine Chance dazu verpasst – Herr Bouffier, wenn es nach mir

geht, allerdings auch die letzte Chance in diesem Parlament. – Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Schäfer-Gümbel. – Als Nächster spricht zu uns Kollege Mathias Wagner, Vorsitzender der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Bitte schön.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist das letzte Plenum vor der Landtagswahl. Die Versuchung ist gerade nach der Rede des Kollegen Schäfer-Gümbel groß, in so etwas wie den großen Schlagabtausch einzusteigen. Die Versuchung ist groß, und ich gebe zu, als ich mich auf die Rede vorbereitet habe, habe ich überlegt: Mache ich es mir einfach, erstelle ein Best-of der Wahlkampfreden und trage das hier vor? Ich habe mich sehr bewusst dagegen entschieden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Wenn wir darüber reden, die Gesellschaft zusammenzuhalten, geht es in meiner Wahrnehmung in diesen Tagen um sehr viel grundsätzlichere Dinge. Es geht nicht um den üblichen Streit im Hessischen Landtag, nämlich dass die Opposition sagt, das, was die Regierung gemacht hat, war nicht gut, und dass die Regierung sagt, das, was sie gemacht hat, war gut, sondern es geht um sehr viel grundsätzlichere Dinge. Es geht um die Frage, wie es mit der Demokratie in unserem Land weitergeht.

(Manfred Pentz (CDU): Ja!)

Es geht darum, wie wir in diesem Land miteinander umgehen wollen, nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern die Gesellschaft insgesamt. Es geht also um elementare Fragen unserer Demokratie. Die Mutter aller Probleme ist nicht die Migration in unserem Land.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der LINKEN)

Die Mutter aller Probleme ist vielmehr die Infragestellung unserer Demokratie, die wir zurzeit erleben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der LINKEN)

Das ist nicht nur eine Frage, über die unter Politikerinnen und Politikern diskutiert werden muss, sondern das ist eine Frage, über die die Gesellschaft insgesamt diskutieren muss, über die jede Bürgerin, jeder Bürger diskutieren sollte. Da geht es um sehr grundsätzliche Fragen: Gehen wir die Herausforderungen in unserem Land mit Mut und Zuversicht an, oder schüren wir die Angst vor Problemen? Stehen wir für eine Gesellschaft, in der alle Menschen dazugehören, oder setzen wir auf Ausgrenzung und Hetze? Stellen wir unseren Rechtsstaat infrage, wenn uns das politisch opportun erscheint, oder verteidigen wir alle gemeinsam unsere demokratischen Institutionen? Setzen wir auf Vernunft und den Austausch von Argumenten, oder ergehen wir uns in Populismus und Parolen? Schließlich: Zie

hen wir Grenzen zwischen Demokraten und Rechtsextremen, oder lassen wir zu, dass diese Trennlinien unscharf werden? Um diese Fragen geht es vor allem, wenn wir über den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land reden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)