Dann sagen Sie, man muss die Sorgen und Nöte von Menschen ernst nehmen – wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Aber an anderer Stelle ist davon leider ganz selten die Rede. Wo werden die Sorgen der Lehrerinnen und Lehrer ernst genommen? Wo werden die Sorgen der Menschen ernst genommen, die Angst haben beim Thema Inklusion, die Angst haben, dass ihr Kind nicht auf eine Regelschule gehen kann? Wo werden die Sorgen der Menschen ernst genommen, die dringend Ganztagsschulangebote bräuchten und keine haben? Nehmen Sie doch diese Sorgen und Probleme, ernst und tun Sie etwas. Aber darüber reden Sie nicht, Herr Ministerpräsident.
Sie sagen: Noch nie waren in Hessen so viele Menschen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und haben gute Arbeit. – Das sagt der Ministerpräsident. Tatsache ist: Noch nie haben so viele Menschen in Hessen zu Niedriglöhnen gearbeitet, und zwar 500.000.
Herr Boddenberg, das können Sie nachlesen im Landessozialbericht Ihrer Landesregierung. – Noch nie waren so viele Arbeitsverträge befristet. In der schwarz-grünen Regierungszeit ist die Zahl der Menschen, die in Leiharbeitsverhältnissen sind, von 62.000 auf 74.000 gestiegen. 900.000 Menschen in Hessen sind von Armut bedroht – das sagt Ihr eigener Landessozialbericht –, und die Tendenz ist steigend, trotz guter Konjunktur- und Haushaltslage.
Herr Ministerpräsident, dann behaupten Sie, die Chancen für junge Menschen seien heute so gut wie noch nie. Aber ein Drittel der jungen Menschen unter 25 arbeitet in befristeten Arbeitsverhältnissen. Sie brauchen sich im Übrigen nur an den landeseigenen Hochschulen umzuschauen, wo Sie Verantwortung tragen. Auch dort hangeln sich junge Menschen von Vertrag zu Vertrag.
Euch wird es einmal besser gehen – wer sagt das heute zu seinen Kindern? Aus diesem großen Aufstiegsversprechen sind Abstiegsängste geworden: Wird mein Vertrag entfristet? Wie soll ich im Alter leben, wenn ich nicht genug Einkommen habe, um privat vorzusorgen?
Um die private Vorsorge müssen wir uns als Landtagsabgeordnete keine Sorgen machen. Das ist mir bekannt. Aber für die Menschen außerhalb dieses Saales ist es ein Pro
Oder die Frage: Wo setzt mich die Leiharbeitsfirma nächste Woche ein? – Wie wollen Sie die Gesellschaft zusammenhalten, wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht?
Der wachsenden Zahl von Menschen, die kaum über die Runden kommen, die auf Tafeln angewiesen sind, die Flaschen sammeln, weil ihre Rente nicht reicht, steht eine wachsende Zahl von Einkommensmillionären in Hessen gegenüber. Wenn ein Pförtner in einem Unternehmen 350 Jahre lang arbeiten müsste, um auf ein Jahresgehalt seines Vorstandsvorsitzenden zu kommen, dann hat das mit Leistung nichts mehr zu tun. Es ist pervers und demokratiebedrohend, wenn die Unterschiede in der Gesellschaft so zutiefst ungerecht sind.
Ihr eigener Landessozialbericht hat diese Zahlen aufgezeigt. Das sind alles Ihre Zahlen. Mehr als ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen ist von Armut betroffen. Das bedeutet eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe. Das bedeutet Benachteiligungen bei der Bildung. Das bedeutet Nachteile bei der gesundheitlichen Entwicklung. Aber die Maßnahmen der schwarz-grünen Landesregierung dagegen sind leider sehr mager – um es vorsichtig zu sagen.
Wir bräuchten einen Aktionsplan gegen Kinderarmut. Dass in einem so wohlhabenden Land Kinder von Armut und Perspektivlosigkeit betroffen sind, das ist doch beschämend. Daran kann man sich doch nicht gewöhnen.
Meine Damen und Herren, auch Wohnen ist ein Thema, das der Ministerpräsident gar nicht angesprochen hat. Eines der größten Probleme in den hessischen Städten haben Sie nicht einmal angesprochen. Auch Wohnen ist für viele Familien in Hessen zu einem echten Armutsrisiko geworden. Die Mietpreise explodieren. An manchen Orten sind Menschen gezwungen, 50 oder 60 % ihres Einkommens für Miete und Nebenkosten auszugeben.
Die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist vielerorts dramatisch, und zwar besonders für Menschen mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, für Familien, Studierende und Rentner. Sie werden zunehmend aus den Innenstädten verdrängt, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Aber dazu sagen Sie kein Wort. Kein Wort zu den Ängsten und Nöten der Mieterinnen und Mieter.
Herr Ministerpräsident, der Vorschlag „mehr Förderung von Wohneigentum“, den Sie letzte Woche wieder gemacht haben, folgt dem Motto: Du findest keine bezahlbare Wohnung? Dann kauf Dir doch ein Haus. – Solche Vorschläge gehen an der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen meilenweit vorbei. Wer keine bezahlbare Wohnung findet, kann sich in der Regel auch kein Haus leisten. Deshalb ist dieser Vorschlag zynisch. Er geht vollkommen an dem vorbei, was die Menschen brauchen, nämlich mehr sozialen Wohnungsbau.
Dann schauen wir uns Ihre Bilanz an. Seit 1991 hat sich der Bestand an Sozialwohnungen in Hessen mehr als halbiert. Als Schwarz-Grün 2014 die Regierungsgeschäfte
übernahm, gab es in Hessen immerhin noch 112.000 Sozialwohnungen. Jetzt sind es noch 85.000. Das heißt, während der Amtszeit einer grünen Wohnungsbauministerin ist jede vierte Sozialwohnung weggefallen. Das ist Ihre Bilanz. Dabei steigt die Zahl der Haushalte, die Anspruch auf eine Sozialwohnung haben, aber keine erhalten.
Es ist auch nicht so, dass nicht gebaut wird. Es wird schon gebaut: jede Menge neue Büroräume, hochpreisiger Wohnraum. Das geschieht sogar auf Grundstücken, die der öffentlichen Hand gehört haben, z. B. auf dem ehemaligen Unigelände oder auf dem Gelände des ehemaligen Polizeipräsidiums in Frankfurt. Das Land betätigt sich lieber als Spekulant und verkauft eigene Grundstücke meistbietend, um dann wieder zu erklären: Wir haben gar keine Flächen für den sozialen Wohnungsbau.
Ich sage: Wer die Spekulation mit Boden einschränken will, der darf selbst nicht so agieren. Auf dem ehemaligen Unigelände in Frankfurt-Bockenheim entstehen jetzt Wohnungen zu Mietpreisen von bis zu 32 € pro Quadratmeter. Dafür hat man auch einen Hundewaschplatz und Concierge-Service.
Aber angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Frankfurter Anspruch auf eine Sozialwohnung hätte, ist das ein Hohn. Das sind öffentliche Grundstücke gewesen. Hier hätte das Land direkt Einfluss nehmen können. Man hat es aber nicht gemacht.
Gerade diese Beispiele zeigen, dass die Versorgung der Menschen mit Wohnraum zu wichtig ist, um sie dem Markt zu überlassen, weil der Markt es nicht so regelt, dass am Ende jeder eine bezahlbare Wohnung hat.
Deshalb ist es höchste Zeit, die Eigentumsverhältnisse auf dem Wohnungsmarkt zu verändern. Die wirksamste Mietpreisbremse ist sozialer Wohnungsbau.
Deshalb unterstützen wir auch den Mietentscheid in Frankfurt. Dem wünschen wir viel Erfolg, weil es dringend notwendig ist, hier Druck zu machen und endlich mehr bezahlbare Wohnungen zu schaffen.
Um das Geld für die Miete zu verdienen, müssen in vielen Familien zwei Menschen Vollzeit arbeiten. Dann haben sie wiederum ein großes Problem bei der Organisation der Kinderbetreuung. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, dass manche Eltern entlastet wurden, indem die Betreuung für sechs Stunden am Tag beitragsfrei wurde, aber abgeschafft sind die Kitagebühren noch lange nicht. Für unter Dreijährige, für Hortkinder, für Ganztagsplätze fallen weiterhin Gebühren an, und zwar teilweise ganz erhebliche, gerade für die Betreuung der unter Dreijährigen. Zum Teil sind es auch höhere Gebühren als vorher, weil die Kommunen die Gebührenfreiheit für manche bei anderen kompensieren müssen.
Deshalb: Die Kinderbetreuung muss besser und komplett kostenlos werden. Das darf nicht gegeneinander ausgespielt werden, das ist kein Widerspruch.
Existenzielle Ängste löst bei vielen auch der Gedanke an die Versorgung im Alter aus. Eine Rente, von der man nicht leben kann, bedroht immer mehr Menschen. Eine Landesregierung, die auf Zusammenhalt der Gesellschaft
setzt, könnte auch hier Impulse setzen, und damit meine ich nicht Ihre kapitalgedeckte Deutschlandrente; die hilft nämlich niemandem.
Auch der Pflegenotstand macht vielen Menschen Angst. Das Land müsste dringend dafür sorgen, dass Pflegekräfte entlastet werden, dass der Pflegeberuf attraktiver wird. Ich habe vor Kurzem mit einer Krankenschwester gesprochen, Herr Ministerpräsident. Sie erzählte mir, dass sehr viele ihrer Kolleginnen aus dem Krankenhaus noch zweite Jobs haben. Das heißt, sie kommen vom Dienst, aus der Schicht und gehen zum nächsten Job, weil sie sonst nicht über die Runden kommen. Da ist es doch kein Wunder, dass es einen Mangel an Pflegekräften gibt.
Die CDU redet immer gerne von Sicherheit, davon, dass sie die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen so ernst nimmt. Ich finde, eine wirklich große Gefahr für die innere Sicherheit sind z. B. Krankenhauskeime, Hygienemängel oder auch der Personalmangel in den Krankenhäusern. Diese Sorgen und diese Sicherheitsinteressen der Menschen könnten Sie mal ernst nehmen. Dadurch sind nämlich wirklich viele Menschenleben bedroht, meine Damen und Herren.
Natürlich merken die Menschen auch an ihren Wohnorten, dass die öffentlichen Angebote und die soziale Infrastruktur abgebaut werden, ob es Krankenhäuser sind, Schwimmbäder oder Stadtteilbibliotheken. Das merken wir gerade im ländlichen Raum, wo die Leute jetzt noch unsoziale Straßenausbaubeiträge zahlen sollen, die den einen oder anderen in Existenznot bringen.
Kleine Schulstandorte werden geschlossen, wodurch sich die demografische Entwicklung ländlicher Orte noch weiter verschärft. Das ist auch eine Folge Ihrer Politik. Wer hat denn die Gerichtsstandorte im ländlichen Raum geschlossen? Wer hängt denn den ländlichen Raum immer weiter ab? An solchen Dingen kann es eben auch liegen, dass die Menschen das Gefühl haben, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet, Herr Ministerpräsident.
Sie sprechen von den Chancen, die junge Menschen hätten. Ich will Ihnen mal von einigen jungen Menschen erzählen: In Offenbach leben gerade 70 Jugendliche in Angst. Warum? Weil sie 18 geworden sind. Was für jeden anderen Jugendlichen ein Grund zur Freude ist, ist für diese Jugendlichen eine Katastrophe – weil sie afghanische Flüchtlinge sind und mit der Volljährigkeit ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Ihre Mitschüler und Lehrer haben über 50.000 Unterschriften für eine Petition gesammelt, damit ihre Mitschüler bleiben dürfen. Ich frage Sie: Warum nehmen Sie diese Sorgen und Ängste nicht ernst?
Warum schieben Sie weiter Menschen nach Afghanistan in den Bürgerkrieg ab, auch heute wieder, in ein Land, in dem sich die Sicherheitslage immer weiter destabilisiert, statt sich zu bessern? Diese Menschen haben einen Grund für ihre Angst. Wir könnten ihnen diese Angst durch eine humane Flüchtlingspolitik nehmen, indem Bleiberechtsmöglichkeiten geschaffen werden, statt eine derartige Symbolpolitik auf dem Rücken der Menschen zu machen.
Was ist mit den Ängsten der Menschen, die unter Fluglärm leiden, die sich Sorgen um ihre und die Gesundheit ihrer Kinder machen, die jeden Morgen um 5 Uhr aus dem
Schlaf gerissen werden? Im Wahlkampf 2013 hat Tarek Al-Wazir, heute stellvertretender Ministerpräsident, einen Bürgerbrief – ich habe mir das noch einmal angeschaut – an die Menschen geschrieben, die unter Fluglärm leiden: „So wie es ist, kann es nicht bleiben“, hieß es damals.
Terminal 3 wird gebaut. Herr Minister, aus: „Mit mir wird es kein Terminal 3 geben“, wurde: Ich bleibe aber wenigstens dem Spatenstich fern.
Statt des achtstündigen Nachtflugverbots gibt es nicht einmal ein sechsstündiges, weil das Nachtflugverbot dauernd gebrochen wird. Mit der Lärmobergrenze kann es noch deutlich lauter werden, und die freiwilligen Lärmpausen machen gerade für sechs Monate Pause.