Protokoll der Sitzung vom 13.10.2016

(Günter Rudolph (SPD): Wie ist denn Ihre Position in der Sache? – Zuruf von der SPD: Zum Thema!)

Die Frage, ob das bei diesem Tagesordnungspunkt heute am Ende der Tagesordnung so angemessen ist, darf man zumindest einmal stellen.

Die Entwicklung – und damit komme ich jetzt hier direkt zur Sache und zu Ihrem Antrag – der ganz persönlichen Einstellung zur Sexualerziehung gehört in erster Linie in die Familie. Das geht auch aus der Richtlinie und aus dem Lehrplan Sexualerziehung sehr deutlich hervor. Die Auswirkungen von Sexualität auf die Gesellschaft und die Vermittlung der wissenschaftlich fundierten Sexualkunde betreffen natürlich auch die schulische Bildung.

Dabei steht die Sexualerziehung im Spannungsfeld zwischen dem Recht der Eltern einerseits und dem Persönlichkeitsrecht des Kindes andererseits und dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. Sexualerziehung ist deshalb in einem sinnvollen Zusammenwirken von Schule und Elternhaus zu leisten. Genau dies gewährleistet der Lehrplan Sexualerziehung.

(Beifall bei der CDU – Hermann Schaus (DIE LIN- KE): Sind Sie bereit, dafür aktiv einzutreten?)

Die Inhalte, Herr Kollege, werden entsprechend dem jeweiligen Alter und dem damit verbundenen Entwicklungsgrad der Kinder, der Jugendlichen, der Schüler vermittelt. Die Erziehungsberechtigten müssen – und das ist ganz wichtig zu betonen – rechtzeitig über die Lernziele, die Lerninhalte und die Lernmittel im Rahmen eines Elternabends informiert werden. Im Zusammenwirken von Schule, Eltern und Schulaufsichtsbehörden ist, wie bisher, konsequent darauf zu achten, dass es keine Ideologisierung und Indoktrination von Schülerinnen und Schülern gibt. Insofern haben Eltern jederzeit die Möglichkeit, gegen eventuelle Vorstöße vorzugehen.

(Beifall bei der CDU – Hermann Schaus (DIE LIN- KE): Wie ist das mit der Demo?)

In der Tat stammt der Lehrplan Sexualerziehung aus dem Jahr 2007.

(Zuruf des Abg. Hermann Schaus (DIE LINKE))

Herr Kollege, ein Lehrplan hat eine Laufzeit. Der Lehrplan ist Ende des Jahres 2012 ausgelaufen. Das bedeutet, dass wir gehalten waren, dort eine Anpassung vorzunehmen. Tatsache ist: Innerhalb von neun Jahren entwickelt sich die Gesellschaft. Tatsache ist: Im Laufe von neun Jahren entwickeln sich die Medien. Tatsache ist: Heute gibt es keinen Zehnjährigen mehr, der kein Handy hat und der keinen Zugriff zu einem PC hat und dort natürlich auf Seiten und Inhalte stößt, die möglicherweise wirklich problematisch sind.

(Zuruf von der CDU: Genau!)

Genau deswegen hat die Schule auch den Auftrag, dort die Dinge, die möglicherweise falsche Eindrücke erwecken, in ein rechtes Licht zu rücken.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen dazu einen kleinen Arbeitsauftrag gegeben. Dem kommen wir nach. Das Bundesverfassungsgericht hat andererseits in seiner Rechtsprechung aber auch fortlaufend auf das Indoktrinationsverbot hingewiesen, wonach bei der Sexualerziehung entsprechende Zurückhaltung zu wahren ist. Das muss man deutlich sagen. Dort soll aber Offenheit und Toleranz natürlich im Vordergrund stehen.

(Tobias Eckert (SPD): Das klang gerade etwas anders! – Zuruf des Abg. Hermann Schaus (DIE LIN- KE))

Das klang genau so, Herr Kollege, wie ich es gerade gesagt habe. – Klarer Maßstab im neuen Lehrplan ist die grundlegende Bedeutung von Ehe und Familie. Auf der anderen Seite sind nicht eheliche Partnerschaften, Patchworkfamilien, aber auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften dort abgebildet, weil sie gesellschaftliche Realität sind.

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Der letzte Satz sei mir noch gestattet. – Der gesellschaftlichen Entwicklung tragen wir mit diesem Lehrplan Rechnung.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Eine sehr formale Begründung, keine inhaltliche!)

Deswegen sage ich noch einmal: Dass Sie heute Mittag auf den Gedanken kommen, hier einen Dringlichen Entschließungsantrag zu platzieren, aber jetzt nur noch mit einem Drittel der Fraktion anwesend sind, zeigt, wie weit weg Sie von Schule sind. Ich sage: guten Morgen, SPD. Wir lehnen Ihren Antrag ab. Unser Antrag ist weitergehend. – Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hermann Schaus (DIE LINKE): Wie gehen Sie jetzt mit der Demo um? Welch ein Eiertanz! – Holger Bellino (CDU): Herr Präsident, können Sie einmal die Beschlussfähigkeit der SPD feststellen? – Gegenruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE): Es gibt keine Beschlussfähigkeit von Fraktionen!)

Es gibt eine alte Regel aus der Pädagogik: Wenn der Lehrer schweigt, werden die Schüler automatisch ruhig. – Einmal Lehrer, immer Lehrer.

Das Wort hat Herr Kollege Greilich für die FDP-Fraktion, und die anderen sind bitte ruhig.

(Holger Bellino (CDU): Da müsste man eine namentliche Abstimmung fordern! Es ist erbärmlich, das auf die Tagesordnung zu setzen und dann nicht da zu sein!)

Herr Kollege Bellino, bitte. – Herr Greilich, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Baden-Württemberg gibt es jetzt auch in Hessen einen neuen Lehrplan für Sexualkunde. Wir alle haben uns in den letzten Tagen ziemlich ruhig verhalten, nachdem wir in Baden-Württemberg eine sehr unschöne Debatte zum Thema Sexualerziehung in der Schule erleben konnten. Das war dort so heftig umstritten wie kein anderes Thema seit Stuttgart 21.

Man hört allerdings nicht erst seit heute, dass es hinter den Kulissen auch hier in Wiesbaden zeitweise hoch hergegangen ist, wohl teilweise auch hier im Hause. Das ist typisch insbesondere für den Kollegen Rudolph, aber vielleicht auch für die SPD-Fraktion: Sie konnten der Versuchung natürlich nicht widerstehen, das jetzt auf die Tagesordnung zu setzen. Okay, das ist Ihr gutes Recht. – Aber ich will versuchen, an der Sache entlangzuarbeiten.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU)

Was in der Sache gilt, ist, dass im Vorfeld nicht nur die katholische Kirche Bedenken angemeldet hat, sondern dass z. B. der Landeselternbeirat komplett seine Zustimmung verweigert hat, die aber eigentlich nötig gewesen wäre; denn das Vorhaben war insoweit zustimmungspflichtig. Es wird dennoch umgesetzt: per Ministerentscheid. Das ist ein Punkt, wo ich sage, dass es nicht sonderlich häufig ist, dass ein Ministerentscheid die Zustimmung einer so wichtigen Institution wie des Landeselternbeirats ersetzt.

(Beifall bei der FDP)

Deswegen lohnt es sich, dort genauer hinzuschauen. Der Landeselternbeirat stößt sich vor allem an der Forderung, dass diversen Lebensformen und Geschlechtern Akzeptanz entgegengebracht werden müsse. Die Mehrheit der Elternvertreter hielt den Begriff der Toleranz für geeigneter und musste sich dann vom Kultusministerium mit dem Hinweis abspeisen lassen: Das ist für uns nicht verhandelbar.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein solcher Umgang mit einem Gremium wie dem Landeselternbeirat ist Politik nach Gutsherrenart: Wir entscheiden, und was andere meinen, interessiert uns wenig.

Was der Hintergrund ist, das wissen wir. Die GRÜNEN hatten es im Koalitionsvertrag durchgesetzt. Also musste jetzt vollzogen werden, egal, was die Beteiligten sagen.

(Zuruf des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich sage deutlich etwas dazu, Herr Kollege Wagner, in diesem Fall weniger an Sie gerichtet, sondern an die Kollegen der SPD, aber auch an Sie: Wenn ein Thema ungeeignet ist für einen solchen parteipolitischen Schlagabtausch hier im Hause, dann ist es dieses Thema,

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU)

dann ist es die Frage, ob man unbedingt, wenn man zum Glück in Hessen eine relativ ruhige Diskussionsphase hat

te, jetzt Demonstrationen durchführen muss, die dann Gegendemonstrationen mit dem Ergebnis bewirken, dass es letztlich ähnlich unsachlich diskutiert werden wird, wie das in Baden-Württemberg der Fall war.

Meine Damen und Herren, wenn es um die Begriffe Akzeptanz und Toleranz geht, sollte man sich mit ihnen einmal beschäftigen, und das vielleicht etwas differenzierter, als Sie das getan haben, Herr Kollege Wagner.

(Beifall bei der FDP)

Es ist nämlich keineswegs das Gleiche. Toleranz heißt auch nicht, irgendetwas gerade so hinzunehmen. Vielmehr gibt es ideengeschichtlich große Unterschiede zwischen beiden Begriffen. Ich zitiere einmal – ich will nicht in eine Vorlesung kommen; ich habe mir einiges dazu herausgesucht – den Philosophen Michael Walzer. Er unterscheidet allein fünf verschiedene Ausprägungen von Toleranz. Demnach ist die stoische Akzeptanz eine Form davon. Die stoische Akzeptanz definiert er als die Einstellung, die Rechte der zu Tolerierenden aus prinzipiellen Erwägungen anzuerkennen. Man kann das zusammenfassen in der Aussage: Andere Kulturen, andere Menschen sollen die gleichen Rechte haben wie ich, ihre Lebensweise muss ich jedoch nicht unbedingt gutheißen. Das gilt in alle Richtungen, egal, welches meine Lebensweise ist.

Dieser Begriff von Toleranz gewährt die Menschenrechte und die daraus resultierende Freiheit aus ganz grundlegenden Erwägungen. Der Begriff der Akzeptanz geht ein Stück darüber hinaus,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja!)

sodass die Erziehungsziele über die Inhaltsbestimmung dieser stoischen Akzeptanz hinausgehen. Wenn man versucht, dies auf das herunterzubrechen, was bei uns stattfindet, dann muss man sagen: Es ist richtig, dass jedes Kind und jeder Jugendliche in seiner Individualität angenommen und unterstützt wird. Kein Kind darf wegen seiner familiären Situation, geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung diskriminiert, ausgegrenzt oder gemobbt werden. Das sollte ein Selbstverständnis unserer Gesellschaft sein.

(Lebhafter Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich könnte noch einiges dazu sagen. Die Zeit dafür fehlt. Ich weiß, dass der Präsident genau darauf achtet, zu Recht. Deswegen will ich zum Schluss nur sagen:

Die Toleranz muss gelebt werden. Sie darf nicht nur Ausdruck bloßer Lippenbekenntnisse sein. Wenn es in der Einleitung des Lehrplans ziemlich zu Beginn heißt: „Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der Sexualerziehung Zurückhaltung zu wahren sowie Offenheit und Toleranz gegenüber verschiedenen Wertvorstellungen zu beachten“, ist das ein wesentlicher Punkt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist meine Conclusio: Gerade vor diesem Hintergrund hätte den Bedenken des Landeselternbeirats im Beteiligungsverfahren deutlich mehr Rechnung getragen werden müssen. Eine Ministerentscheidung ist gerade in einem solchen Umfeld eine schlechte Antwort. Damit fördern Sie weder Toleranz noch Akzeptanz.

Deswegen ist die endgültige Feststellung: Die Koalition hätte besser getan, wenn sie nicht per Ministerentscheid

entschieden hätte, sondern bis zu einem vertretbaren Ergebnis verhandelt hätte. Die SPD hätte besser getan, wenn sie diesen Antrag heute nicht gestellt hätte.

(Torsten Warnecke (SPD): Warum?)