Protokoll der Sitzung vom 22.09.2022

Wenn die zahlreichen und zum Teil tödlichen Attacken auf queere Menschen in jüngster Zeit eines gezeigt haben, dann ist es, dass Toleranz längst nicht genug ist.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Wer war es denn? Es sind doch die, die Sie immer schützen!)

In diesem Sinne braucht es nicht weniger, sondern viel mehr Akzeptanz in unserer Gesellschaft.

(Beifall Freie Demokraten, CDU, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, SPD und DIE LINKE)

Vielen Dank, Frau Abg. Knell. – Als Nächster hat sich der fraktionslose Abg. Kahnt zu Wort gemeldet. Bitte schön.

(Zurufe AfD)

Wir hatten uns einmal darauf verständigt – das haben auch schon mehrere von diesem Pult aus gesagt –, dass, wenn ein Redner zum Rednerpult geht, nicht schon vorher Bemerkungen gemacht werden.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und DIE LINKE)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hering hat gerade gefragt: Brauchen Sie Polizeischutz? – Nein, lieber Herr Hering. Ich schaffe das schon alleine.

Zum Thema. Jeder hat ein Recht auf individuelle Glückserfüllung. Selbstverständlich betrifft das auch die eigene Sexualität. Dieses Recht gesteht offenbar die AfD nicht allen Menschen zu. Wieder einmal inszeniert sie sich, und zwar mit sehr viel Unverständnis.

(Zurufe AfD: Wir reden über Kinder!)

Eigentlich mag man sich das Ganze gar nicht mehr anhören; denn dieser Antrag ist einer von vielen, die rückwärts

gewandt sind. Eigentlich ist er von gestern oder, besser gesagt, von vorgestern.

(Beifall CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er demonstriert ein einseitiges Familienbild, und zwar ein Familienmodell, das der Wirklichkeit völlig widerspricht. Nichts an dem ist falsch, was im hessischen Lehrplan steht, was die AfD hier moniert. Es ist völlig richtig: Es muss eine Akzeptanz sexueller Vielfalt geben. Das ist unsere Lebenswirklichkeit.

Die AfD möchte uns auch weismachen, dass das elterliche Erziehungsrecht gefährdet sei. – Niemand nimmt ihnen dieses Recht. Es ist auch grundgesetzlich verbrieft.

Wer hier allerdings nicht altersadäquat Einfluss ausüben möchte, das ist die Fraktion hier rechts außen mit ihrer überkommenen Sexualvorstellung, die hier einmal mehr offenbart wird.

Wir lassen ihr das nicht durchgehen; denn mit ihrer Auffassung fügt sie allen Menschen Schaden zu. Die AfD hat zwar im Landtag ein Rederecht, aber sie hat keinesfalls das Recht, andere Menschen mit ihrer Sexualität zu diskriminieren. Noch schlimmer, die AfD verachtet Menschen, die nicht in ihr Menschenbild passen. Das lassen wir tatsächlich nicht durchgehen. – Vielen Dank.

(Vereinzelter Beifall CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf AfD: Thema verfehlt!)

Vielen Dank, Herr Abg. Kahnt. – Für die Landesregierung hat jetzt der Kultusminister das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Was die AfD hier zum Setzpunkt erhoben hat, ist eigentlich schon eine alte Kamelle. Seit sechs Jahren ist der neue hessische Lehrplan zur Sexualerziehung in Kraft. Das ist schon mehr als die halbe Laufzeit, die dieser Lehrplan üblicherweise vor seiner regelhaften Erneuerung absolviert.

Das ist übrigens eine gute Gelegenheit, Frau Kollegin Knell und auch Frau Kollegin Ravensburg, so etwas wie das Thema Endometriose, über das wir heute Morgen debattiert haben, für die nächste Novellierung vorzusehen. Das Thema Menstruation ist bereits im Lehrplan enthalten, Endometriose, in der Tat, noch nicht. Das sind alles Dinge, die im Laufe der Zeit überarbeitet werden, und deswegen ist es gut, dass man solche Lehrpläne von Zeit zu Zeit neu anpackt.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Freie Demokraten)

Sechs Jahre ist dieser Lehrplan jetzt in Kraft, und mir liegen keinerlei Beschwerden darüber vor, wie dieser Lehrplan im schulischen Alltag praktisch gelebt und umgesetzt wird. Alle, die damit in der Praxis zu tun haben, sind zufrieden.

(Heiko Scholz (AfD): Das stimmt nicht!)

Dass der Lehrplan bestimmte sexuelle Praktiken, Verhaltensweisen oder gar operative Eingriffe propagiere, ist einfach dummes Zeug. Lesen hilft hier übrigens auch, Herr Kollege Scholz.

(Beifall CDU, SPD und Freie Demokraten – Moritz Promny (Freie Demokraten): Textverständnis!)

Auch das Gutachten des Kollegen Winterhoff zur angeblichen Rechtswidrigkeit dieses Lehrplans ist bereits sechs Jahre alt und übrigens auch ohne weitere Konsequenzen geblieben. Aber da Sie nichts Wichtigeres zu tun haben, als längst geführte Debatten wieder aus der Gruft zu holen, will ich hier noch einmal die grundlegenden Parameter für Sexualerziehung in der Schule hinterlegen, wie sie das Bundesverfassungsgericht schon 1977 statuiert und seither auch immer wieder bekräftigt hat.

Es gibt eine Gleichrangigkeit des elterlichen Erziehungsrechts mit dem Erziehungsauftrag des Staates. Die individuelle Sexualerziehung gehört zu dem natürlichen Erziehungsrecht der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz. Darauf muss der Staat Rücksicht nehmen. Deswegen darf die Schule hier in der Tat auch nicht indoktrinierend wirken. Aber der Staat ist aufgrund seines Erziehung- und Bildungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz berechtigt, Sexualerziehung in der Schule durchzuführen, und zwar auch als verbindlichen Stoff für alle.

Jetzt kommt das Entscheidende: Diese Sexualerziehung muss für die verschiedenen Wertvorstellungen auf diesem Gebiet offen sein. Diese Wertvorstellungen wandeln sich auch.

Meine Damen und Herren, auch deswegen müssen die entsprechenden Leitlinien immer angepasst werden. Das können Sie im Übrigen an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst studieren. Denken Sie beispielsweise an die Ehe für alle. Das betrifft auch die verwendete Begrifflichkeit.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE und Rolf Kahnt (fraktionslos))

Sie propagieren den Begriff der Toleranz. Das ist schön. Den verwendet auch die Landesverfassung in der altertümlichen Form der Duldsamkeit, allerdings bezogen auf religiöse und weltanschauliche Empfindungen, nicht auf sexuelle Identitäten oder Orientierungen. Das ist ein wesentlicher Unterschied.

Da Sie von der AfD so gerne die Beschäftigung mit den deutschen Geistesgrößen vermissen, sollten Sie wissen, dass beispielsweise Kant – mein persönlicher Lieblingsphilosoph, wie Sie wissen – Toleranz als eine Form des Hochmuts betrachtet hat.

(Vereinzelter Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Goethe schreibt in seinen „Maximen und Reflexionen“ – ich zitiere –:

Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, Freie Demokraten und DIE LINKE)

Diesen Hinweis beherzigen wir auch nach fast 200 Jahren. Ja, wir dulden die unterschiedlichen sexuellen Identitäten und Orientierungen der Menschen nicht nur. Wir erkennen sie an. Das bedeutet, jeder und jede ist okay so und wird so angenommen, wie sie oder er ist.

Das kollidiert übrigens in keiner Weise mit der grundlegenden Bedeutung der Ehe und der Familie. Vielmehr ist das

eine Anerkennung der gelebten Realität. Es ist auch der Ausdruck der gleichen Würde aller Menschen. Mit dem Hinweis auf Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz will ich die Rede beschließen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und DIE LINKE)

Herr Staatsminister Lorz, vielen Dank. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit sind wir am Ende der Debatte angelangt.

Wir überweisen den Antrag der Fraktion der AfD, Drucks. 20/9134, dem Kulturpolitischen Ausschuss zur weiteren Beratung.

Damit sind wir am Ende der Beratungen des heutigen Vormittags angekommen. Ich wünsche allen eine gute Mittagspause. Wir sehen uns um 15:10 Uhr wieder.

(Unterbrechung: 14:11 bis 15:11 Uhr)

Meine Damen und Herren, ich eröffne die durch die Mittagspause unterbrochene Sitzung und hoffe, dass wir die Beschlussfähigkeit des Hauses in den nächsten Minuten noch deutlich erhöhen werden.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 66 auf:

Antrag Fraktion DIE LINKE Freie Fahrt für freie Bürgerinnen und Bürger ‒ 9‑Euro-Ticket wieder einführen, Kapazitäten ausbauen – Drucks. 20/9140 –

Zusammen damit wird Tagesordnungspunkt 104 aufgerufen:

Dringlicher Entschließungsantrag Fraktion der CDU, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzierung öffentlicher Mobilitätsangebote in Hessen erfordert realistische Unterstützung des Bundes – Drucks. 20/9201 –