[Antrag der Gruppe REGENBOGEN – für eine neue Linke: ADS-Diagnostik und Ritalin-Vergabe in Hamburg – Drucksache 16/6639 –]
Diesen möchte die CDU-Fraktion federführend an den Gesundheitsausschuß und mitberatend an den Schulausschuß überweisen. Wird das Wort gewünscht? – Das ist der Fall. Der Abgeordnete Jobs hat es.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Nach langer Zeit müssen wir uns wieder einmal mit einem Psychomedikament beschäftigen. In den letzten Monaten und Jahren ist immer öfter das Medikament Ritalin an Kinder abgegeben worden, ein Medikament, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Beipackzettel eine Reihe von Neben- und Wechselwirkungen aufweist, die schon beim Lesen Kopfschmerzen bereiten.
Es ist ein Medikament, das kein Heilmittel ist, sondern allenfalls für einzelne Kinder ein Hilfsmittel sein kann, wenn sie von der sogenannten Zappelphilipp-Krankheit betroffen sind.
Seit dem Frühjahr mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen und vor allem darauf aufmerksam machen, daß diese Tendenz kritisch zu betrachten ist. Wir haben deshalb auch im Juni/Juli eine Große Anfrage zu dem Thema vorgelegt, um zu erfahren, ob und, wenn ja, wie sich der Senat mit diesem Problem auseinandergesetzt hat und welche Lösungen er möglicherweise aufzeigen kann.
Die Antwort des Senats auf die Große Anfrage provoziert aber in der Tat mehr Fragen, als sie Antworten gibt. Allein die Frage, ob es ein Problem gibt, bejaht der Senat, wenn er feststellt, daß die Verabreichung von Ritalin ein zunehmendes Problem in den Schulen und Beratungsdiensten darstellt, und wenn er sagt, daß pädagogische und therapeutische Maßnahmen Vorrang vor einer medikamentösen Behandlung der sogenannten Zappelphilipp-Krankheit haben sollen.
Daß es zunehmend Hinweise darauf gibt, daß Ritalin nicht nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft verabreicht wird, sagt inzwischen sogar die Bundesdrogenbeauftragte. Hamburger Beratungslehrer schätzen nach einem Bericht im „Hamburger Abendblatt“, daß nur jedes zehnte Kind dieses Medikament zu Recht bekommt. Es gibt damit also ein Problem in dieser Stadt. Nur das Ausmaß dieses Problems bleibt in der Antwort des Senats völlig unklar.
Der Senat nennt in seiner Antwort verschiedene Datenquellen mit sehr widersprüchlichen Aussagen zum Umfang der Verschreibung von Ritalin bundesweit beziehungsweise in Hamburg. Deutlich wird aber, daß es mit erheblichen Steigerungsraten zu tun hat.
Deutlich wird auch, daß bisher offensichtlich kein belastbares Zahlenmaterial vorliegt, schon gar nicht für Hamburg. Es gibt aber wohl ernstzunehmende Hinweise, daß in Hamburg besonders viel und häufig verordnet wird. Berechnungen der Betriebskrankenkassen haben ergeben, daß ungefähr jedes dritte Rezept in Deutschland in Hamburg ausgestellt wird. Trotzdem will der Senat auf eine Bundesstudie zur Arzneimittelverschreibung im nächsten Jahr warten und sieht in Hamburg keinen eigenen Untersuchungsbedarf vor. Wir finden, das reicht nicht.
Bei derartigen Steigerungsraten ist es wichtig, schnell zu reagieren, und deshalb wollen wir eine Hamburger Untersuchung, die klärt, wie die Diagnose und, vor allem, wie die Verordnungspraxis der Ärzte in Hamburg in bezug auf das ADS-Syndrom aussieht und wie häufig Kindern dieser Stadt Ritalin verschrieben wird.
Überlegungen der Kinderärzte, einen eigenen Qualitätsleitfaden zu erarbeiten, lösen das Problem nicht. Dabei fehlen die Kompetenzen anderer wichtiger Berufsgruppen wie Psychologinnen, Therapeutinnen, Lehrerinnen und anderer Pädagoginnen.
Ein Runder Tisch unter Federführung der Pharmaindustrie ist schon gar nicht dazu geeignet, sich kritisch mit der Problematik auseinanderzusetzen. Wer einmal die Unterlagen von Gianni & Meissner, dieser veranstaltenden Firma, angeschaut hat, merkt schnell, daß die Informationen auf medikamentöse Behandlung fokussieren und therapeutischen und pädagogischen Aspekten keinerlei Bedeutung beimessen. Um so erstaunlicher ist es, daß sich die BSJB erst vor wenigen Tagen aus dieser Runde verabschiedet hat.
Wir meinen, daß es auch wichtig ist, kritisch zu betrachten, unter welchem Einfluß und welchen Bedingungen Kinder heute aufwachsen und in der Schule lernen müssen. Daraus können sich dann Veränderungsnotwendigkeiten für Kitas, Schulen und pädagogische Einrichtungen dieser Stadt ergeben.
Deshalb ist es angesichts des vielstimmigen und widersprüchlichen Expertinnenchores, der jetzt mehr zur allgemeinen Verunsicherung vieler als zur Aufklärung beigetragen hat, notwendig, daß die Jugendbehörde einen Runden Tisch initiiert, in dem die Erkenntnisse der unterschiedlichsten Berufsgruppen gebündelt werden und vor allem die Empfehlungen für den Umgang mit dem ZappelphilippPhänomen in Kindertagesstätten, in Schulen, in der Jugendhilfe und im Gesundheitswesen erarbeitet werden.
Wir meinen, daß aus der sich abzeichnenden Situation rund um das Medikament auch in Hamburg Konsequenzen gezogen werden müssen. Nach Rücksprache mit Fachleuten haben wir jetzt noch einen Antrag zum Thema eingereicht, der Maßnahmen vorsieht, die eine schwierige Debatte versachlichen können. Wir wollen eine Hamburger Studie und daß dieser Runde Tisch eingerichtet wird. Das wäre ein guter erster Schritt, um einer Problemlösung in dieser Stadt näherzukommen. – Vielen Dank.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Jobs, das Problem ist nicht neu, aber es ist sehr ernst. Es beschäftigt uns in der SPD-Fraktion schon lange. Bereits im Februar 1996 haben wir uns mit der Problematik der hyperaktiven Kinder befaßt. Damals fand unter dem Motto „Warum zappelt Philipp?“ eine Fachtagung unserer Fraktion statt, auf der wir gemeinsam mit Experten nach Wegen gesucht haben, wie den Kindern, die durch Konzentrationsmangel und permanente Unruhe sich selbst, ihren Mitschülern, den Lehrern und den Eltern das Leben schwermachen, geholfen werden kann.
Schon damals, vor fünf Jahren, wurde festgestellt, daß es das hypergenetische Syndrom schon früher gab,
Das Problem ist nicht neu. Dennoch hat sich die Situation offensichtlich verändert. Wenn ich aus der Presse entnehmen muß, daß in Hamburg bis zu 10 000 Kinder an dem Aufmerksamkeitssyndrom leiden und davon circa 4000 Kinder Psychopharmaka bekommen, läuten doch bei vielen Menschen die Alarmglocken.
Es stellt sich natürlich die Frage, was sich in den letzten Jahren verändert hat. Haben sich die Kinder verändert, weil die Welt immer hektischer, die Ablenkungen immer verführerischer, die Eltern immer beschäftigter und die Schule immer leistungsorientierter wird,
oder haben wir Erwachsenen uns so sehr verändert, daß wir für die Kinder keine Zeit, für ihre Sorgen kein Ohr und für ihr Bedürfnis nach Wärme und Ruhe kein Gefühl mehr haben? Oder sind medizinische Ursachen für die Hyperaktivität von Kindern verantwortlich, die, aus welchen Gründen auch immer, heute verstärkt auftreten?
Ist es vielleicht eine falsche Ernährung, die bei Kindern zu den Problemen führt? Könnte eine bestimmte Diät ihnen vielleicht helfen? Wie so oft gibt es wahrscheinlich nicht nur eine Ursache für dieses Problem, sondern viele. Einige davon habe ich eben aufgezählt. Ich habe mit Eltern, die ein sogenanntes ADS-Kind in der Familie haben, gesprochen. Ich habe Verständnis für diese Eltern, die an ihren hyperaktiven Kindern zu verzweifeln drohen. Viele dieser Eltern haben Schuldgefühle, weil sie glauben, in der Erziehung versagt zu haben. Sie ergreifen den Rettungsanker Ritalin und haben mit einer regelmäßig verabreichten Pille endlich ein Kind, das wie die anderen spielt, lernt, liest und auch zuhört.
Und dennoch dürfen die Gefahren, die eine Einnahme von Psychopharmaka im Kindesalter beinhalten, nicht verharmlost werden. Noch ist nicht erwiesen, daß das Medikament keine Spätfolgen nach sich ziehen kann. Auch die Frage einer möglichen Abhängigkeit ist nicht zufriedenstellend beantwortet. Ritalin ist immerhin ein Medikament, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt und mit dem sehr sorgsam umgegangen werden muß. Auf jeden Fall dürfen wir es uns nicht zu einfach machen und denken, mit einer Pille wäre das Problem gelöst. Vor allem die Mediziner tragen hier eine riesengroße Verantwortung und dürfen auf keinen Fall das Medikament leichtfertig verschreiben.
Den Eltern, die das Medikament für ihr Kind fordern, damit es in der Schule mehr Leistung bringt, muß vom Arzt eine
klare Absage erteilt werden; diese Schilderung ist kein Einzelfall. Nur in absoluten Ausnahmefällen, wo erwiesen ist, daß medizinische Ursachen vorliegen, sollte zu diesem letzten Strohhalm gegriffen werden und das auch nur im Zusammenhang mit einer psychologisch-pädagogischen Betreuung. Wenn allerdings familiäre, emotionale Probleme oder soziale Belastungen die Ursachen sind, ist eine Pille ganz bestimmt nicht die Lösung. Manchmal gibt es ein ganz einfaches Rezept, und das heißt: Viel Zuneigung, Liebe und viel Zeit für die Kinder.
Um noch einmal auf die Große Anfrage der REGENBOGEN-Gruppe zurückzukommen. Wie die Antwort belegt, befaßt sich der Senat seit längerem intensiv mit der Problematik. Das Institut für Lehrerfortbildung und die Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung machen Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte, Schulberater und Schulärzte, damit früh erkannt wird, wo die Ursachen für das auffällige Verhalten liegen. Wenn sicher ist, daß pädagogische, sozialtherapeutische und psychologische Maßnahmen gefordert sind, geben die regionalen Beratungsstellen den Eltern Hilfestellung und unterstützen bei der Suche nach der richtigen Therapie. Aber das Wichtigste bei diesem Thema bleibt für mich, daß sich Eltern und Mediziner ihrer Verantwortung bewußt sind und nicht leichtfertig mit der Gesundheit der Kinder umgehen.
Noch einmal kurz zum Antrag der REGENBOGEN-Gruppe. Wir sind wie Sie der Meinung, daß dies ein wichtiges Thema ist, halten aber die Problematik für zu umfassend, um jetzt schnell etwas zu beschließen. Darum möchten wir den Antrag an den Gesundheitsausschuß überweisen, um das Thema mit der notwendigen Sorgfalt zu behandeln. – Vielen Dank.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Medikament Ritalin ist sicherlich nicht der Stein der Weisen. Ritalin darf nicht aus pharmazeutischem Selbstzweck heraus verordnet werden. Ritalin ist sicherlich auch kein Königsweg, was die Behandlung angeht. Aber es ist eine von vielen Hilfen für kranke Kinder, die unter ADS leiden. Kein Grund ist es deshalb, Ritalin in Bausch und Bogen zu verdammen. Aber es ist auch kein Grund, es in den Himmel zu jubeln und als Wundermittel zur Ruhigstellung von unruhigen Kindern und Jugendlichen zu glorifizieren. Das Medikament gehört mit Sicherheit in die Hand eines dafür ausgebildeten Facharztes, und es muß auch in der Stadt möglich sein, die Diagnostik entsprechend zu finanzieren; das ist nämlich bisher nicht der Fall.
Hier ist schon viel Vernünftiges und Richtiges zum ADS gesagt worden. Deshalb gestatten Sie mir, aus der Sicht eines Sonderschullehrers kurz zwei Beispiele für Kinder zu geben, die Ritalin erhalten oder erhalten haben; ich nenne einmal Oliver. Oliver ist unruhig, aggressiv und hat Lernstörungen. Was bedeutet unruhig? Er läuft permanent in der Klasse herum, macht Geräusche, beginnt unvermittelt zu lachen oder auch zu schreien. Er entwickelt Ticks und lenkt sich, aber auch die gesamte Lerngruppe davon ab, dem Unterricht zu folgen. Die Folge davon ist, daß er sich immer stärker in der Gruppe isoliert.
Was bedeutet aggressiv bei diesen Kindern? Aggressiv bedeutet, daß diese Kinder zum Beispiel keine Nähe ertragen können. Sobald ihnen jemand nahe kommt, empfinden sie
das als Angriff und schlagen zu. Die Kinder werfen mit Gegenständen durch die Klasse, dabei sind Federtaschen noch das Geringste. Es können auch schon mal Stühle und Tische sein. Die Folge ist, daß die Mitschüler eine ungeheure Angst vor dem körperlichen Aufbegehren dieser kranken Kinder entwickeln.
Was bedeutet Lernstörungen? Lernstörungen bedeutet, unkonzentriert zu sein, eine gestörte Aufmerksamkeit zu haben, nichts zu behalten, und in den meisten Fällen wissen die Schüler überhaupt nicht, worum es eigentlich geht. Die schriftlichen und mündlichen Leistungen sinken vielfach ins Unermeßliche ab. Die Folge ist, daß die Eltern total verzweifelt sind, weil sich zu Hause spiegelbildlich genau das gleiche Verhalten ihrer Kinder zeigt.
Wir hatten vor einiger Zeit in der Schule eine Mutter, die so verzweifelt war, daß sie, ihr Kind an der Hand, den Kinderund Jugendnotdienst aufgesucht hat, um zu bitten, daß dieses Kind eine Pflegefamilie bekommt. Sie würde es hier abgeben, weil sie es mit ihm nicht mehr aushalten würde. Das ist nicht zum Lachen, sondern bare Realität.