Es ist diese völlig klare Sprache, die neben allen Großen das ganz Persönliche, die Individualität der Existenz und des Schicksals der Menschen ausmacht und hier von Hamburger Menschen ausgemacht hat. Es ist Humanismus im besten Sinne des Wortes, der sein Werk prägt. Ein Hamburger Bürger, der seinen sehr gekonnten Umgang mit dem geschriebenen Wort nutzt, um Menschlichkeit in die Welt zu tragen.
Es ist nicht der erste der gekonnten Schrift kundige Ehrenbürger unserer Stadt, andere Ehrenbürger schreiben
Aber es ist auch der Mensch Siegfried Lenz, der großen Respekt verdient. Die Bescheidenheit im Auftreten bei öffentlichen Veranstaltungen, oder – um noch einmal Marcel Reich-Ranicki zu zitieren –:
Wenn man das Vergnügen hat, an dieser Stelle eine kleine Rede zum Antrag des Senats auf Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Sie, Herr Lenz, halten zu dürfen, darf man zu Anfang auch gerne aus dem vielen schon Gesagten etwas herausfischen. Ich beginne deshalb mit einem Zitat aus der „Berliner Zeitung“ vom 28. August 1999 anläßlich der Verleihung des Goethepreises an Sie:
„Als viele Leute noch Hans hießen, ruhte in Westdeutschland der Buchmarkt auf drei Säulen. Im Sommer, kurz vor der Ferienzeit, gingen die Lehrer, Apotheker und Amtsrichter zum Buchhändler und fragten nach dem ,neuen Grass‘, dem ,neuen Böll‘ oder dem ,neuen Lenz‘. Hatten alle drei kein neues Buch geschrieben, dann mußte am Strand eben Karten gespielt werden.“
Ich kann nur sagen: Genauso war es. Ich bin allerdings nicht selbst zum Buchhändler gegangen, sondern durfte mir aus dem elterlichen Katalog des Bücherbundes einmal im Quartal ein Buch bestellen. Und das war in den Siebzigern dann oft „ein Lenz“.
Ich wollte mich aber selber überprüfen, auch eine angemessene Rede halten, und wo sucht man heute nach dem wahren Wissen der Welt? Nach Eingabe Ihres Namens, sehr geehrter Herr Lenz, bekam ich innerhalb von 0,08 Sekunden durch eine Suchmaschine 8160 Fundstellen im Internet genannt.
Wie bringt man eigentlich eine solche Fülle von Informationen, über deren Qualität man sicherlich lange streiten kann, im eigenen Kopf zusammen und dann noch in einer kurzen Rede unter? Ich habe es gar nicht wirklich versucht, aber ich leiste mir eine kleine Analyse, und in Wirklichkeit kristallisiert sich dann doch die Beschreibung Ihres jahrzehntelangen Wirkens heraus.
Es finden sich literaturtheoretische Analysen, viele wissenschaftliche Abhandlungen, manchmal auch wenig Wissenschaftliches, aber sehr Schönes, zum Beispiel ein Artikel über eine Veranstaltung des Deutschen Anglerbundes, bei der Sie die Laudatio auf den zum Jahrhundertfisch gekürten Karpfen gehalten haben.
Eine Pressemitteilung des Goethe-Institutes in Oslo zählt Sie zu den meist übersetzten deutsprachigen Dichtern in Norwegen. Auffällig, aber nicht unerwartet, wenn man Ihren Lebenslauf kennt, ist sowieso die Vielfalt der skandinavischen und auch osteuropäischen Rezensionen und Artikel über Sie im Internet.
Die Mehrzahl der Texte ist sehr differenziert, manchmal kritisch, oft aber fast liebevoll geschrieben. Immer wieder findet sich die Beschreibung, daß Sie sich mit der Sprache und den Bildern Ihrer Bücher in eine längst vergangene Zeit bewegen. Ich habe sogar einen Kritiker gefunden, der sich getraut hat zu sagen, in bezug auf Ihren Roman „Die Auflehnung“, es sei ein altmodisches Buch. Aber es wäre unendlich vermessen, das, was Sie uns zu sagen haben, den Inhalt Ihrer Bücher, als altmodisch zu bezeichnen. In einer Zeit, in der die schnellebige, möglichst drastische Information zählt, brauchen wir Ihre Romane über menschliche Menschen. Bei Hoffmann und Campe werden Sie zitiert mit dem folgenden Satz:
„Ich bin einverstanden damit, wenn die Erfahrungen, die ich gemacht habe und kenntlich machen möchte, eines Tages nicht mehr das Interesse finden, das sie für mich gehabt haben.“
Die interessantesten Seiten des elektronischen Kommunikationsmittels waren für mich dann auch die Chats unter dem Titel „Hausaufgaben“ oder „Referat“ oder „Leistungskurs Deutsch“ oder eben immer wieder einfach nur „Deutschstunde“. Es geht hierbei im übrigen nicht um das Abschreiben oder Kopieren oder Austauschen von fertigen Texten, sondern es geht oft um Diskussionen. Hier stellt man dann schnell fest, daß vielleicht gerade durch Ihre Sprache, die den Schülerinnen und Schülern von heute manchmal fremd ist, weil sie in den Ohren der Jugendlichen umständlich klingt, die Botschaften verstanden werden.
Unsere Kinder können durch das Lernen der historischen Fakten über die Unmenschlichkeit und die Verbrechen der Nazizeit niemals die Zweifel, die Wut und auch die Schuldgefühle meiner Generation verstehen, wenn wir ihnen nicht auch die ganz einfache menschliche Katastrophe der Nazizeit vermitteln können. Sie, Herr Lenz, vermögen dieses mit ihren Büchern zu leisten.
Für mich selber, als eine, die ein wenig zu jung für die 68er Generation ist, wütend aber gegenüber den revanchistischen Tönen der damaligen Großelterngeneration und im ewigen Streit um die Auseinandersetzung mit der Beteiligung und Schuld der Elterngeneration an den unbegreifbaren Greueln der Nazizeit, waren Sie die klarste öffentliche Stimme. Das damals noch recht neue Medium Fernsehen – für mich zumindest – hat mit der Ausstrahlung der Verfilmung Ihrer „Deutschstunde“ 1970 neue Türen für Gespräche geöffnet. Es gab immer noch keine Entschuldigung für das Wegsehen und einfach Mitlaufen, aber wir konnten, vermittelt durch die Sprache und die Bilder, die Widersprüche verstehen. Und wir konnten auch ein wenig aufatmen in einer Zeit, als doch noch viel Blindheit gegenüber der Vergangenheitsbewältigung herrschte.
Die Dreizehnjährigen von heute kommen durch Siggi und Jens Jepsen in den Dialog mit den Großeltern. Politische Auseinandersetzung schützt vor politischer Dummheit,
und wir brauchen die Auseinandersetzung – gerade in dieser Zeit – mit den immer lauter werdenden Rassisten und Faschisten.
Die Hamburgische Ehrenbürgerschaft hat im übrigen immer zwei Seiten: Bürgerschaft und Senat haben hier etwas zu vergeben, eine Ehre, eine Anerkennung für jemanden, der sich eingesetzt hat. Aber wir möchten uns auch etwas mitnehmen: Wir möchten uns Ihre Sicht auf Menschlichkeit und Identitäten, Schuld und Sühne, auf Gerechtigkeit und Ehrlichkeit mitnehmen. Sie wendet sich auch an die Gegenwart und Zukunft und vor allem an die Politik. Deswegen freuen wir uns, dem Antrag des Senats zu folgen und Ihnen die Ehrenbürgerschaft zu verleihen. – Vielen Dank.
Dieser treffende Satz stammt nicht etwa von der REGENBOGEN-Bürgerschaftsgruppe, diesen Satz formulierte Siegfried Lenz in seiner Dankesrede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988. Und er hat gut gesprochen damals. Lenz rief in seiner Ansprache zum Widerstand gegen diejenigen auf, „die den Frieden bedrohen mit ihrem Machtverlangen, mit ihrer Selbstsucht und ihren rücksichtlosen Interessen“. Er beklagte eine zunehmend „vergiftete Erde, verseuchtes Wasser und den Tod von Tieren und Pflanzen“. Siegfried Lenz, diese „Ein-Mann-Partei“, wie er sich selbst einmal bezeichnete, hat sich eingemischt, die Finger in viele Wunden gelegt und damit gleich mehreren Generationen als demokratisch-humanistischer Wegweiser gedient. Er wollte als Schriftsteller „nie mit einer Schere schöne Dinge aus Silberpapier schneiden“, wie er bereits 1962 bekundete, vielmehr hoffte er, daß er „mit dem Mittel der Sprache den Augenblicken unserer Verzweiflung und den Augenblicken eines schwierigen Glücks Widerhall verschafft“.
Wer anderes hat es vermocht, im In- und Ausland eine „Deutschstunde“ zu erteilen, die glaubwürdiger ist als alles, was je auf dem Stundenplan stand. Wenn Literatur in der Art, wie Siegfried Lenz sie schreibt, nur ein wenig mehr Wirkung hätte, so bräuchten wir für die Gegenwart wie für die Zukunft nicht zu fürchten, daß nationales Auftrumpfen und blinder Fortschrittsglaube wieder triumphieren könnten über Nachdenklichkeit und Erinnerungsvermögen.
Wenn Siegfried Lenz nunmehr nach über fünfzigjährigem Leben und Wirken in Hamburg die Ehrenbürgerwürde dieser Stadt verliehen wird, so ist dies ein Anlaß, seine Literatur und seine kritischen Gedanken wieder mehr ins Gespräch zu bringen. Wir begrüßen diese Würdigung gerade in und für die Freie und Hansestadt Hamburg, die sich so gerne als Standort des Erfolges, des Wohlstandes und des Glanzes des neuen Wirtschaftswunders präsentiert. Sie ist von Siegfried Lenz oft als Schauplatz seiner Erzählungen und Romane, seiner Hörspiele und vieler anderer Texte gewählt worden, und dies geschieht nie verklärend – im Gegenteil.
Die Kritik an der politischen Vereinnahmung des Heimatbegriffs ist ein Grundthema von Siegfried Lenz, der seinen
Leserinnen und Lesern auch die eigene ostpreußische Heimat auf eine Weise nahebringt, die ihn über jeden Verdacht des Revanchismus erhaben sein läßt. Und wem etwa die Erzählung „Der Mann im Strom“ ein Bild vom Hamburger Hafen gezeichnet wird, für den oder die ist diese Stätte nicht mehr nur Touristenkulisse, Wirtschaftsstandort und Immobiliengelände, sondern auch Ort der Vergeblichkeit, Angst und Verzweiflung. Insbesondere das Scheitern und den Verlust führt Siegfried Lenz literarisch vor Augen, als überzeitliche, exemplarisch dargestellte menschliche Grunderfahrungen, aber auch als Zeitkritik an den Schattenseiten des Wirtschaftswunders in der Nachkriegsrepublik. In seinen Texten wird dabei gerade der Blick für die Außenseiter und Außenseiterinnen, die Schwachen und Benachteiligten geschärft.